16 Jahre Kanzlerin Merkel?
Werkstatt Deutschland
Die SPD jedenfalls kann in ihrer derzeitigen Form ihre Kanzlerschaft nicht gefährden; wie lange sie im Amt bleibt, entscheidet allein die Union
Wegen ihrer langen Tradition und ihres besonderen Leidenswegs während der Nazidiktatur sah sich die SPD im Nachkriegsdeutschland als die eigentliche moralische Kraft. Sicher, so glaubte sie, würden ihr die Wähler auch die politische Führung der neuen Republik anvertrauen. Aber bei der ersten Bundestagswahl 1949 schnitt sie unerwartet schlecht ab. Konrad Adenauer konnte die Kleine Koalition und sich selbst als Bundeskanzler durchsetzen, und es dauerte 20 Jahre, bis zum ersten Mal ein Sozialdemokrat Kanzler wurde.
Die SPD hatte nach 1945 zwar auf lokaler und Länderebene durch eine pragmatische, an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Politik bei vielen Bürgern Vertrauen gefunden. Doch auf Bundesebene galt sie als nicht regierungsfähig, da sie lange Zeit noch zu viel ideologischen Ballast mit sich herumschleppte und von der Adenauer-CDU systematisch als williger Helfer Moskaus denunziert wurde. Erst als sie in der Großen Koalition von 1966 bis 1969 als unverbrauchte Kraft mit überzeugenden Köpfen agierte, nahmen die Wähler ihr ab, die Verkrustung der Adenauer/Erhard-Ära aufbrechen und das „moderne Deutschland“ schaffen zu können.
Doch nach dem Machtwechsel von 1969 wurde das neue, nun auch bundesweite Vertrauen zur SPD just dort untergraben, wo es zuvor Schritt für Schritt aufgebaut worden war – auf lokaler Ebene. Der Niedergang der SPD begann in den siebziger Jahren in den alten SPD-Hochburgen, Großstädten wie Frankfurt oder München, weil dort die neuen, reideologisierten Funktionärskader die Politik vor Ort wieder eher an ideologischen Dogmen orientierten.
Der bei den Deutschen überaus beliebte Kanzler Helmut Schmidt wurde letztlich von den eigenen Genossen gestürzt, sodass Helmut Kohl 1982 Kanzler werden und es 16 Jahre bleiben konnte. Trotz seiner geringen Beliebtheit bei der Bevölkerung hielt er sich so lange im Amt, weil der in den Metropolen begonnene Niedergang der SPD sich in den achtziger und neunziger Jahren flächendeckend fortsetzte. Durch Umschichtungen in ihrer Mitgliederstruktur (die alten Arbeitereliten wurden durch einen Schub neuer Mitglieder mit bürgerlichem Hintergrund verdrängt) entfremdete sich die SPD ihren traditionellen Wählern; durch die Reideologisierung ihrer Politik vertrieb sie aber gleichzeitig auch die von Karl Schiller und Helmut Schmidt neu gewonnenen Wähler der Mittelschicht.
Die Ära Kohl ging erst zu Ende, als die SPD 1998 an Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat nicht mehr vorbeikam. Von Schröder erhofften sich die Wähler – ähnlich wie 1969 von der damaligen SPD mit Karl Schiller – die Modernisierung und Erneuerung des nach 16 Jahren Kohl-Regierung in einem Reformstau erstarrten Deutschlands. Doch der Verfall der SPD setzte sich auch nach dem zum ersten Mal durch Wählerentscheid vollzogenen Machtwechsel 1998 trotz (und nicht wegen!) Schröders Kanzlerschaft fort, weil die Funktionärs- und Führungskader der SPD an ihren dogmatischen Politikinhalten festhielten und Schröders Erneuerungspolitik torpedierten.
Als Schröder im Frühsommer 2005 – wie Helmut Schmidt 1982 – nicht mehr genügend Rückhalt in der eigenen Partei hatte und sich für vorgezogene Neuwahlen entschied, war der Weg zur Kanzlerschaft Merkels geebnet. Obwohl es vor der Neuwahl des Bundestags im September 2005 selbst bei den Anhängern von CDU und CSU erhebliche Vorbehalte gegen die Kandidatin gab und ihr Wahlergebnis entsprechend enttäuschend ausfiel, konnte sich Angela Merkel machtpolitisch durchsetzen und Kanzlerin werden.
Die SPD ging die Koalition mit der Union ein, weil – wie der damalige Parteivorsitzende Müntefering meinte – Regieren besser sei als Opposition. Doch auch die (von vielen Beobachtern in Berlin bestätigte) recht ordentliche Arbeit der SPD-Minister in den Fachressorts brachte bislang das verloren gegangene Vertrauen beim Wähler nicht zurück. Im Gegenteil: Der Vertrauensverlust der SPD setzt sich auf allen Politikebenen unvermindert fort. Wenn bei der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt am Main Ende Januar nur einer von zehn Wahlberechtigten für den SPD-Kandidaten stimmte, wenn in Niedersachsen, Hessen, NRW oder Baden-Württemberg noch nicht einmal die Hälfte der SPD-Wähler den jeweiligen SPD-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten mitträgt, wenn in NRW nur noch 15 Prozent überhaupt irgendeinen Repräsentanten der Landes-SPD kennen und wenn sich auch bundesweit mehr als die Hälfte der SPD-Wähler nicht für Kurt Beck als Kanzler aussprechen – dann sind das Indikatoren für einen Auflösungsprozess.
Angela Merkel hat also von der SPD wenig zu fürchten. Ob sie drei, vier, acht, zwölf oder 16 Jahre Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland bleibt, hängt allein davon ab, wie lange sie Rückhalt in der eigenen Partei hat. Kann sie weiterhin alle inhaltlichen Diskussionen unterdrücken oder aussitzen, ist sie als Kanzlerin ungefährdet. Erst wenn in der Union über die Ursachen der auch bei der CDU zu registrierenden Wählersubstanzverluste nachgedacht wird und wenn die auseinanderdriftenden Parteiflügel von der Vorsitzenden nicht mehr zusammengehalten werden können, dürfte in der Union wieder darüber diskutiert werden, ob Merkel ihrer Partei die notwendige Identität geben kann oder nicht. Der Ausgang dieser Diskussion entscheidet darüber, wie lange Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Die SPD hat darauf keinen Einfluss mehr.
Internationale Politik 3, März 2007, S. 82 - 83.
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