Was Krieg anrichtet
Neue Bücher zu Auslandseinsätzen und ihren Folgen
Thomas Speckmann | Afghanistan, Irak, Libyen, Mali: Die Liste der Schauplätze, auf denen der Westen in den vergangenen Jahren interveniert hat, ist lang. Mit Erfolg? Sechs Neuerscheinungen ziehen Bilanz – und stellen Fragen: Welche Auswirkungen haben solche Konflikte auf die betroffenen Gesellschaften? Und wie verändern sie unseren Umgang mit Krieg?
Was haben die Interventionen des Westens in Ländern wie Afghanistan bewirkt? Haben sie dazu beigetragen, die Gesellschaften zu pazifizieren? Ist das überhaupt möglich? Daran kann man nach der Lektüre der schonungslosen Abrechnung von Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung mit dem Afghanistan-Einsatz Deutschlands starke Zweifel bekommen. Am Beispiel Afghanistan, für Naumann ein Musterfall deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik, lassen sich die Dissonanzen und Funktionsschwächen, die Dilemmata und Unzulänglichkeiten der globalen Sicherheitsvorsorge beispielhaft aufzeigen.
Institutionelle Krise
Naumann zieht ein bestenfalls durchwachsenes Fazit: Enorme Aufwendungen stünden neben Verschwendungen und Verlusten, Engagement neben Routine, große Versprechen neben ernüchternden Resultaten, beachtliche Fortschritte in einzelnen Bereichen neben einer labilen Gesamtlage. Verantwortlich für das unbefriedigende Ergebnis ist aus Naumanns Sicht die deutsche Einsatzpolitik. Deutschlands Sicherheitspolitik sei eine Politik vieler Worte, aber ohne Idee. Eine Staatskunst der Einsatzpolitik existiere nur in Ansätzen. Illusionäre Ziele konkurrierten mit unzulänglichen Mitteln. Die Streitkräfte befänden sich in einem Kampfeinsatz, auf den sie nur bedingt vorbereitet seien.
Hinter diesen Defiziten macht Naumann eine ganz grundlegende institutionelle Krise der deutschen Sicherheitspolitik aus. Es fehle ein arbeitsfähiges Steuerungszentrum, das die an Auslandseinsätzen beteiligten Ministerien koordiniert, die Einsätze auswertet und zivile Kräfte einbezieht. Darüber hinaus sieht er Regierung, Parlament und Streitkräfte gefordert, die strategische Kommunikation zu verbessern. Nicht die „große Debatte“, nach der immer wieder gerufen werde, sondern die Optimierung der politischen Führungsinstrumente, der parlamentarischen Mitsprachemöglichkeiten und der militärischen Leitbilder stehe auf der Tagesordnung.
Denn das Informationsbedürfnis ist groß, wie Naumann in seiner pointierten Analyse anmerkt. Vor allem das Engagement in Afghanistan habe Deutschland verändert. Die Bürger wollen noch stärker als zuvor wissen, warum es gut sein soll, sich in dieser oder jener Region der Welt zu engagieren, dabei das Leben von Soldaten und Helfern aufs Spiel zu setzen und finanzielle Mittel in größerem Umfang zu investieren.
Wozu er gut ist
Vor diesem Hintergrund dürfte das neue Werk von Ian Morris die deutsche Öffentlichkeit einigermaßen irritieren. Der in Stanford lehrende Historiker stellt die These auf, dass Krieg sehr wohl zu etwas gut sei: Er habe die Menschheit – auf lange Sicht – sicherer und wohlhabender gemacht.
Um seine These zu belegen, unternimmt Morris einen Ritt durch die kriegerische Geschichte der Menschheit. Dabei macht er vier Entwicklungen aus: Erstens hätten Kriege zu zahlenmäßig größeren Gesellschaften höherer Ordnung geführt. Dadurch sei das Risiko, dass eines ihrer Mitglieder eines gewaltsamen Todes sterbe, vermindert worden – eine monokausale und im Grunde ahistorische Erklärung, die nicht so recht überzeugen will, da sie andere grundlegende Entwicklungen wie die Entstehung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schlichtweg ausblendet.
Allzu schlicht wirkt auch die Schlussfolgerung aus einer zweiten Beobachtung von Morris: Krieg sei zwar die denkbar schlimmste Methode zur Schaffung größerer, friedfertigerer Gesellschaften, aber andererseits so ziemlich die einzige, auf die der Mensch gekommen sei. Ähnliches gilt für die dritte Langzeitentwicklung, die Morris ausmachen will: So wie die vom Krieg geschaffenen größeren Gesellschaften den Menschen ein sichereres Leben beschert hätten, so hätten sie „uns“ auch reicher gemacht – durch wirtschaftliches Wachstum und steigende Lebensstandards.
Während der Krieg die Menschheit nach Meinung des Autors über Jahrhunderte sicherer und reicher gemacht habe, so bringe er sich heute gleichsam selbst um sein Geschäft – zu destruktiv seien die Waffen geworden, zu effizient die Organisation.
Hier hat Morris die klassische Konfrontation zwischen Staaten vor Augen und mit ihr die gegenseitige Vernichtungsgarantie der nuklearen Abschreckung des Kalten Krieges. Den asymmetrischen Krieg, der heute die vorherrschende Kriegsform und zu einem ganz eigenen Politik- und Geschäftsmodell geworden ist, blendet Morris aus. Nur so ist auch sein Optimismus zu erklären, dass der „uralte Traum einer Welt ohne Krieg“ womöglich doch noch in Erfüllung gehen könnte.
Verkürzen, vermeiden, abschaffen
In welchem Maße Morris in seiner Argumentation zu kurz springt, wird bei Barbara Kuchler deutlich. Die Bielefelder Soziologin wählt ebenfalls einen breiten historischen Ansatz, um die Rolle des Krieges in der Gesellschaft zu bestimmen – mit überaus bemerkenswerten Ergebnissen.
So erinnert Kuchler daran, dass die heute geläufige Einschätzung von Krieg als einem schrecklichen und verdammenswerten Phänomen historisch vergleichsweise jung ist und die Kriegführung über den größten Teil der Geschichte als ehrenvolles und nützliches Tätigkeitsfeld galt. Folglich stellten die Autoren, die sich mit dem Thema befassten, jahrhundertelang vorzugsweise die Frage, wie man Kriege gewinnen kann und nicht – wie heute – wie man sie vermeiden, verkürzen oder gar abschaffen kann.
Eine Abweichung von dieser Regel erkennt die Autorin nur in zwei Fällen: Wenn Krieg in Form einer Intervention als kleineres Übel gegenüber dem propagiert wird, was sonst geschehen würde – Eroberungszüge oder Unterdrückung durch verbrecherische Regime – oder, wenn einzelne Warlords Profite von einem Krieg zu erwarten haben.
Der neue Blick von Gesellschaften auf den Krieg hat Kuchler zufolge mit den neuen Formen der Teilnahme von Menschen an Kriegen zu tun – mit der allgemeinen Wehrpflicht, mit der Mobilisierung für die „Heimatfront“, mit der „Selbstrekrutierung“ für Guerillakriege. Aber auch und vor allem damit, dass die Zivilbevölkerung direkt und zum Teil vorsätzlich zum Opfer von Kriegshandlungen wird.
Kuchler spricht von einem „Inklusionstrend“ der modernen Gesellschaft, wodurch Kriege in immer stärkerem Maße aus der Perspektive der Zivilisten beurteilt werden statt aus der Sicht der Kriegführenden: „Und unter dieser Prämisse ist die Negativwertung von Kriegen in der Tat unausweichlich.“
Ethos der Empathie
Warum das so ist, davon weiß Carolin Emcke zu berichten. Die vielfach preisgekrönte Journalistin hat seit 1998 nicht nur weltweit Krisengebiete bereist, darunter den Kosovo, Afghanistan, Gaza und den Irak. Sie hat auch über „kollektive Identitäten“ promoviert und an der Yale University über „Theorien der Gewalt“ und „Zeugenschaft von Kriegsverbrechen“ gelehrt.
„Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ lautet die Überschrift ihres neuen Essaybands – und damit ist Emckes Grundthese präzise auf den Punkt gebracht. Es ist nicht nur möglich, sondern auch nötig, vom Leid anderer zu erzählen.
Das Buch ist ein Plädoyer für das Ethos der Empathie und des Erzählens: „Die Erzählungen aus den Lagern, aus den Gefängnissen, die Geschichten von Folter und Gewalt, von struktureller Entrechtung und Misshandlung, die Berichte von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt, sie mögen gebrochen sein und unvollständig, sie mögen leise erzählt werden oder gebrüllt, sie mögen poetisch oder nüchtern daherkommen, sie mögen sich aus vielen Stimmen und Perspektiven zusammentragen, jener der Täter und jener der Opfer, sie mögen von der Schuld oder vom Unglück erzählen – aber sie bilden das bewegliche, unfertige, zeitoffene Narrativ unserer Gesellschaft.“
Emcke ist selbst Teil dieses Narrativs. Mit ihren Reportagen aus Krisengebieten prägt sie den Blick auf Konflikte und Kriege. Sie dient gleichsam als Brücke des Erzählens für die Betroffenen vor Ort. Denn dort werden Leid und Gewalt zu einem auch sprachlichen Problem: Die Betroffenen selbst können ihre Erlebnisse nicht verstehen, geschweige denn erzählen – weil sie alles übersteigen, was vorher als Erfahrung zählte. Denn extremes Unrecht und Gewalt sind eine Anomalie: „Sie widersprechen jeder unversehrten Welterfahrung. Sie brechen ein in das Leben von Menschen, die nicht begreifen können, was ihnen da geschieht.“
Emcke beschreibt derlei Erlebnisse als „doppelt entkoppelt“: Sie reihen sich für die Betroffenen zum einen nicht in die eigene Geschichte ein, in das Verständnis dessen, was und wer man selbst einmal war und wer die anderen waren.
Zum anderen scheinen derlei Erlebnisse entkoppelt von allem, was geschehen sollte. Sie passen nicht zu der eigenen moralischen Erwartung, zu dem, was und wer andere sein sollten. Und sie scheinen anderen nicht vermittelbar, da sie die, die sie durchleiden, absondern von denen, die verschont wurden.
„Meide Menschenmengen“
Die Schwierigkeiten, Familienangehörigen und Freunden daheim das im Krieg Erlebte zu vermitteln und im Alltag wieder Fuß zu fassen, sind das Thema von „Operation Heimkehr“. Die Fotografin Sabine Würich hat in diesem Band zusammen mit der Tagesspiegel-Redakteurin Ulrike Scheffer Erinnerungen und Gedanken von Bundeswehrsoldaten zusammengestellt, die aus Auslandseinsätzen zurückgekehrt sind: Kosovo, Bosnien, Mali, Zentralafrika oder Afghanistan.
Zwar betreten Würich und Scheffler mit diesem Porträtprojekt kein journalistisches Neuland – ähnlich angelegte Bücher erschienen bereits nach den ersten Auslandsmissionen von Bundeswehrsoldaten in den neunziger Jahren. Doch vielleicht ist erst jetzt die Zeit gekommen, dass die Soldaten wirklich offen über ihre Erlebnisse und Traumata sprechen können. Sie sind die ersten, die nach 1945 einen Krieg erlebt und damit Erfahrungen gemacht haben, die ihre Mitbürger zu Hause kaum nachvollziehen können.
Kein Wunder, dass die Rückkehr in den Alltag nicht immer reibungslos gelingt. So schildert ein Soldat das „Supermarkt-Syndrom“: „Man sieht die vielen Leute zwischen den Regalen und geht gleich wieder raus. Denn eine Verhaltensregel im Einsatz lautet: Meide Menschenmengen.“ Und ein anderer berichtet von unkontrollierten Gewaltausbrüchen: „Wenn mir jemand auf dem Parkplatz die Vorfahrt genommen und den Finger gezeigt hat, habe ich den aus dem Wagen geholt. Ich war dann im Einsatz.“
Vietnam der Sowjetunion
Kehren die Soldaten der Bundeswehr nach ihren Auslandseinsätzen zumindest in ein Land zurück, in dem sie ihre Stimme in der Öffentlichkeit erheben können und dürfen, so war dies den sowjetischen Afghanistan-Heimkehrern nicht möglich. Im Gegenteil: Der Krieg, den Moskau in den achtziger Jahren am Hindukusch führte und verlor, galt bald als das Vietnam der Sowjetunion. Insgesamt rund eine Million Soldaten wurden in diesen asymmetrischen Krieg geschickt.
Mindestens 50 000 von ihnen fielen nach heutigen Schätzungen, unzählige mehr wurden verwundet. Verluste, die der Kreml zu vertuschen versuchte – von den bis zu zwei Millionen Toten und drei Millionen Verwundeten auf afghanischer Seite ganz zu schweigen. Auch von der brutalen Realität des Kriegsgeschehens sollte die Öffentlichkeit an der sowjetischen Heimatfront nach dem Willen ihres Regimes nicht erfahren. So ließ es die verstümmelten Leichen seiner gefallenen Soldaten den Angehörigen nur in zugeschweißten Zinksärgen übergeben.
Diesen „Zinkjungen“ hat Swetlana Alexijewitsch eines ihrer bedeutendsten Bücher gewidmet. Die in der Ukraine geborene und in Weißrussland aufgewachsene Reporterin hatte bereits 1989 mehr als 500 Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Krieges und Mütter von gefallenen Soldaten interviewt. Damit trug die mehrfach preisgekrönte Journalistin maßgeblich dazu bei, das ganze Ausmaß der afghanischen Tragödie bekannt zu machen.
Nun liegt eine erweiterte und überarbeitete Neuausgabe dieses Schlüsselwerks zur sowjetischen Intervention in Afghanistan vor. Es verleiht den Überlebenden, Versehrten, Witwen, Krankenschwestern und Müttern von Gefallenen eine Stimme, und es legt die Traumata mehrerer Generationen und den moralischen Bankrott eines totalitären Staates offen – und das in einer Intensität, die den Leser bis heute berührt.
In der Laudatio auf Swetlana Alexijewitsch anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 15. Oktober 2013 hat der Osteuropahistoriker Karl Schlögel den besonderen Charakter von „Zinkjungen“ auf den Punkt gebracht. In der Neuausgabe des Buches ist die Rede nun nachzulesen: „Dieses Buch ist keine Militärgeschichte, sondern handelt von einem Krieg, der seine Spuren auf den Körpern und in den Seelen der Beteiligten hinterlassen hat und für den es – radikal anders als im Großen Vaterländischen Krieg – keinerlei patriotische Begründung mehr gab. (...) Es sind diese Stimmen, die den Stoff liefern, aus dem die Erzählung hervorgehen wird, die uns erklärt, was das war: Weltkriegsepoche, Sozialismus, Kommunismus, Zeitalter der Extreme, kurzes 20. Jahrhundert.“
All dem hat Alexijewitsch eine Erzählung geschenkt, die von den Protagonisten selbst stammt: eine Autobiografie ihres Landes – im wahrsten Sinne des Wortes.
Klaus Naumann: Der blinde Spiegel. Deutschland im afghanischen Transformationskrieg. Hamburg: Hamburger Edition, 2013, 204 Seiten, 30,00 €
Ian Morris: Krieg. Wozu er gut ist. Frabkfurt am Main: Campus Verlag, 2013, 527 Seiten, 26,99 €
Barbara Kuchler: Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2013, 413 Seiten, 29,90 €
Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Über Zeugenscgaft und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag, 2013, 223 Seiten, 19,99 €
Sabine Würich und Ulrike Scheffer: Operation Heimkehr. Bundeswehrsoldaten über ihr Leben nach dem Auslandeinsatz. Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 189 Seiten, 24,90 €
Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen. Berlin: Hanser Berlin Verlag 2014, 317 Seiten, 21,90 €
Dr. Thomas Speckmann lehrt am Institut für -Politische Wissenschaft und Soziologie der -Universität Bonn.
Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 133-137