Wahl der Willkür
Wer führt Frankreich aus der Krise? Trends und Themen am Voraben der Präsidentschaftswahl
Mann oder Frau, rechts, links oder Mitte, mehr Frankreich oder doch mehr Europa: Selten war das Rennen um den Elysée-Palast so offen, selten zeigten sich die Wähler so unzufrieden mit den Kandidaten. Grande Nation, große Sorgen: Nach der enttäuschenden Bilanz der Ära Chirac dürstet das Land nach Erneuerung – wer befreit die gefangene Republik?
Für wahrscheinlich ein halbes Jahrzehnt werden in den kommenden zwei Monaten in Frankreich die politischen Parameter neu bestimmt. Nach dem Ende der Ära Chirac und der direkten Wahl eines neuen Staatsoberhaupts stehen Parlamentswahlen an. Spätestens nach der Sommerpause wird eine neue Regierung ihr Amt aufnehmen. Dieser Umbruch fällt in eine Zeit, in der Paris aus Sicht seiner Partnerländer in mancherlei Hinsicht für Befremden sorgt.
Dank eines nicht abreißenden Schwunges von Publikationen1 über die letzten Jahre, vor allem aus Frankreich selbst, hat es sich schon fast als Common Sense etabliert, dass das französische Wirtschafts- und Gesellschafts-modell in einer Krise steckt. Der Ruf der Reformunfähigkeit haftet dem zweitgrößten EU-Land an. Immer wieder, jedoch im Ausland wenig wahrgenommen, wird zudem fundamentale Kritik am bestehenden politischen System formuliert – und der Ruf nach einer VI. Republik laut. Der Wahlschock von 2002, als Jean-Marie Le Pen, Parteichef des rechtsextremen Front National, in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl einzog, führte die Krise der gemäßigten Parteien vor Augen: 33,4 Prozent der Wählerstimmen gingen im ersten Wahlgang an Extremisten. Das „Nein“ im Referendum zum Verfassungsvertrag am 29. Mai 2005 schließlich demonstrierte, in welchem Ausmaß die politischen Eliten Mobilisationswillen und -kraft verloren haben – und welche Blockadekraft Frankreich in der EU entfalten kann. Vor diesem Hintergrund verorten sich die wahlbestimmenden Trends, Temperamente und Themen des Jahres.
Ungebundene Wähler
Liest man die in Frankreich fast täglich veröffentlichten Meinungsumfragen und überprüft man ihre Prognosekraft bei vergangenen Wahlen, wird deutlich: Sie erscheinen häufiger denn je und sind zur Prognose quasi nutzlos geworden. Die Bevölkerung legt sich immer weniger fest, die Wahlentscheidung fällt immer kürzer vor dem Wahltermin. Der Anteil der unentschiedenen Wähler hält sich vier Wochen vor der Wahl bei über 50 Prozent. Ganz im Trend der westlichen Demokratien hat auch in Frankreich die Bindung an die Großparteien nachgelassen. Hinzu kommt ein besonderes Problem: Die beiden ehemals aussichtsreichsten Kandidaten verschrecken jeder auf eigene Weise relevante Teile ihrer Stammwählerschaft. Während bei dem konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy (UMP) vor allem die harten Law-and-Order-Positionen und seine Ausgrenzungsrhetorik die Traditionswähler vergraulen, sind es bei der Kandidatin der Parti Socialiste (PS) Ségolène Royal die Häufung von inhaltlichen Fauxpas, die mangelnde programmatische Tiefe und Konsistenz der Kandidatin, gepaart mit dem Gefühl, dass hier eine reine Medienfigur aufgebaut wird. Das Potenzial von ungebundenen, unentschlossenen und verunsicherten Wählern, die Nicht-, Protest- oder Wechselwähler werden können, ist größer denn je. Eine Prognose, welche zwei Kandidaten sich in der Stichwahl am 6. Mai gegenüberstehen und wer davon gewinnt, ist somit unmöglich. Ein wahrscheinliches Szenario ist, dass sich vier jeweils gleich starke Blöcke herausbilden, die jeweils 18 bis 23 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen dürften: die neogaullistische Sammelpartei UMP, die Sozialistische Partei PS, die christdemokratische UDF und ein rechtsextremer Block aus Front National und Mouvement pour la France.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass auch im Jahr 2007 wieder eine oder zwei Personen in der Stichwahl stehen, die im ersten Wahlgang nicht einmal 20 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten. Und: Im zweigängigen Wahlsystem kann ein Kandidat im ersten Wahlgang sehr wohl scheitern – obwohl er im zweiten Wahlgang Chancen auf den Sieg hätte. Dies erlebte Lionel Jospin 2002, als er gegen Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen aus dem Rennen flog. Wie damals gilt heute: Bei einer Mehrzahl von Kandidaten mit mehr oder weniger 20 Prozent der Wählerstimmen sind die Faktoren, die am Ende darüber entscheiden, wer die Plätze eins und zwei belegt, nahezu willkürlich und situationsabhängig.
Reine Persönlichkeitskampagnen
Frankreichs Präsidentschaftswahl ist eine Persönlichkeitswahl par excellence. Die Parteien sind in den Hintergrund gedrängt. Vor und während des Wahlkampfs entwickeln die Kandidaten mit einem engen Beraterkreis Wahlprogramm und Kampagnenstrategie. Auch in der folgenden Amtszeit erhebt sich der neue Amtsinhaber traditionell über seine Partei und ihr Programm – und wie die Geschichte zeigt, auch häufig über die eigenen Wahlversprechen.
Während des diesjährigen Wahlkampfs spielen im Vergleich zu 2002 Affären und Skandalgeschichten eine größere Rolle.2 Währenddessen prägt jeder Kandidat einen sehr eigenen Stil. Nicolas Sarkozy (52 Jahre) ist seit seiner ersten Amtszeit als Innenminister als äußerst agiler und provozierender Politiker positioniert. Für seinen amerikanisierten Wahlkampf nutzt er die Sammelpartei UMP, die 2002 als Wahlverein für Jacques Chirac gegründet wurde: Der Parteitag zur Kandidatenwahl glich mit 80 000 jubelnden Teilnehmern und einer bombastischen Bühnenanlage einer Inthronisierungsfeier. Die Abstimmung wurde als Plebiszit charakterisiert, gewann Sarkozy doch als einziger Kandidat 98 Prozent der Mitgliederstimmen.
Ségolène Royal (53 Jahre), die sich zunächst im parteiinternen Wettbewerb durchsetzen musste, setzt auf den New-comer-Effekt, wissend um die weiter angewachsene Elitenverdrossenheit der Franzosen. Sie pflegt das Bild der jung erscheinenden, dynamischen und unverbrauchten Kandidatin mit neuem Team. Erst als sie zu Beginn des Jahres stark in den Umfragen an Zustimmung verlor, griff sie auf die alten „Elefanten“ der Parti Socialiste zurück und berief den glücklosen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2002 Lionel Jospin und ihre zwei parteiinternen Konkurrenten um die diesjährige Kandidatur, Dominique Strauss-Kahn und Laurent Fabius, in ihren Kampagnenstab. Obgleich Royal erst 2004 als Präsidentin in die Region Poitou-Charentes kam, positioniert sie sich im Wahlkampf als Kandidatin aus der Provinz und drängt ihre drei Minister- und Staatssekretärsämter zwischen 1994 und 2004 sowie ihre Ausbildung an der Kaderschmiede ENA in den Hintergrund. Allerdings nimmt ihr die französische Öffentlichkeit nicht ab, dass sie nicht Teil der „oligarchie parisienne“ ist. Schließlich ist theoretisch denkbar, wenngleich politisch sicherlich inopportun, dass sie als Staatspräsidentin François Hollande, den Chef der PS – und gleichzeitig ihr Lebensgefährte und Vater ihrer vier Kinder – zum Premierminister ernennt.
François Bayrou hingegen gelang es, sich früh als Outsider zwischen den Großparteien zu etablieren – obwohl der UDF-Kandidat seit Jahrzehnten immer wieder Kompromisse etwa mit den Konservativen gesucht hat, schafft er es diesmal, sich als „neue“ Wahlalternative im gemäßigten Lager zu etablieren.
Programm im Dialog
Wenn die Meinungsumfragen in Frankreich heute noch eine Bedeutung haben, dann weil sie den Kandidaten erlauben, ad hoc auf Stimmungsschwankungen zu reagieren. In den Wahlkampf starteten sowohl Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy als auch François Bayrou ohne klar umrissenes Programm. Erst nach und nach haben sie ihre Positionen in Reden und Interviews der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Programme der hinter den Kandidaten stehenden Parteien spielen dabei eine geringe Rolle, teilweise stehen gar konkurrierende Dokumente nebeneinander.3
Dieses Vorgehen erlaubt es, einzelne Punkte Zustimmungstests zu unterziehen. Allerdings besteht die Gefahr, wie im Falle Royals geschehen, dass bei der Bevölkerung zunächst der Eindruck entsteht, sie habe kein strukturiertes und konsistentes Programm – zweifelsohne die Kehrseite ihres Versuchs, ihre Innovationsfähigkeit und Bürgernähe unter Beweis zu stellen, indem sie zur „partizipativen Demokratie“ aufrief und durch 5000 öffentliche Diskussionsveranstaltungen einen neuen Dialog mit den politik- und elitenverdrossenen Franzosen aufbauen wollte. Für Enttäuschung sorgte dann allerdings, dass ihr 100-Punkte-Plan, abgesehen von punktuellen Leuchtturmprojekten, im Grunde bekannte PS-Positionen enthält und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit keinen Aufbruch darstellt. Dadurch verlor die Kandidatin, die zu Beginn der Kampagne gerade mangels ihres klaren Profils viel Projektionsfläche für politische Wünsche einer breiten Wählerschaft bot, das Image der unideologischen Erneuerungskraft.
Verwischte Rechts-Links-Lager
Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2002 sind auch 2007 die Konturen zwischen dem gemäßigten rechten und linken Lager verwischt. Dies gilt seit längerem für den traditionell von ideologischen Trennlinien durchfurchten Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Seit der Machtübernahme François Mitterrands im Jahr 1981 hat sich die PS von vielen ihrer Traditionspositionen verabschiedet. Im Kontext einer internationalen Welle liberalen Gedankenguts und fortschreitender Globalisierung näherten sich die wirtschaftspolitischen Positionen der gemäßigten Linken dem konservativen Lager an. Waren vor 1981 der Marxismus noch eine klare Referenz und der staatlich organisierte Sozialismus ein erklärtes Ziel der PS, wurde die soziale Marktwirtschaft – wenngleich mit starker Rolle für den Staat – für die PS in der Regierungsverantwortung zum neuen Leitbild. Ein aktiver Staat in der Wirtschaft ist jedoch kaum ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Gaullisten und Sozialisten.
In den achtziger und neunziger Jahren etablierten sich als neue Trennlinie zwischen den Parteien die Themen innere Sicherheit und Immigration.4 Sarkozy schärfte in seiner Doppelfunktion als Innenminister und Parteichef das Image der UMP in diesem Bereich. In jüngster Zeit allerdings hat Royal – etwa mit dem Vorschlag, jugendliche Straftäter in den Militärdienst zu schicken – traditionelle PS-Grenzen in Richtung des rechten Lagers überschritten. Beide Kandidaten wildern im Terrain des anderen Lagers, wohl wissend, dass spätestens im zweiten Wahlgang derjenige gewinnt, der beim Gegner mehr Stimmen weggefangen hat. So forderte etwa Sarkozys Kampagne explizit linke Wähler zum gemeinsamen Engagement auf.5 Dies kann Erfolg haben, denn die Wähler bewegen sich mit Leichtigkeit über die ehemals tiefen ideologischen Gräben zwischen Rechts und Links. Um nur ein Beispiel zu nennen: Viele Wähler der unteren Einkommensklassen, die im ersten Wahlgang für Le Pen stimmen würden, wollen im zweiten Wahlgang zur Parti Socialiste wechseln, bei der sie ihre sozialen und wirtschaftlichen Sorgen besser verstanden sehen.6
Eine alternative Öffentlichkeit hat sich konstituiert
Frankreichs Wahlkampf wird nicht mehr allein über die Pariser Traditionsmedien (große Fernseh- und Radiosender sowie die nationale Presse) gemacht. Die Kandidaten und ihre Unterstützer haben einen Teil der Kampagne ins Internet verlagert. Stärker als 2002 drängen zudem alternative Kampagnen gegen einzelne Kandidaten in den Vordergrund. So hat beispielsweise die Bewegung gegen Nicolas Sarkozy ein ganzes Repertoire an kreativen Kommunikationsformen entwickelt: vom realsatirischen Comic7 über Anti-Sarkozy-Weblogs und Webseiten,8 eine Reihe weit verbreiteter Anti-Sarko-Lieder und Videos und Kurzfilme, die im Internet kostenlos herunterzuladen sind. Die Kampagne konzentriert sich auf sein innenpolitisches Hardlinertum, seine als diskriminierend empfundenen Äußerungen gegenüber Immigranten und die Tatsache, dass er als Innenminister nicht nur Polizei und Geheimdienste, sondern auch den Wahlapparat kontrolliert,9 der ihn selbst ins Amt heben soll. Während Sarkozy eine große Einflussnahme auf einige der etablierten Medien nachgesagt wird, ist die Off-Kampagne für ihn unkontrollierbar. Die Dynamik der Entwicklungen erinnert daran, dass der Sieg der „Nein“-Kampagne gegen den Verfassungsvertrag im Mai 2005 durch die vielen Aktivisten im Internet mit errungen wurde.
Wirtschaftliche und soziale Ängste dominieren
Das Ende der Ära Chirac könnte Frankreich als Chance nutzen, in den letzten zwölf Jahren Regentschaft immer wieder verschobene oder nur halbherzig umgesetzte Reformen voranzutreiben. Doch während die Bevölkerung nach einer politischen Erneuerung und Ablösung der alten Elite lechzt (und hierfür keine wirkliche Wahlalternative vorfindet), ist ihre Zustimmung zur umfassend notwendigen Modernisierung des Wirtschafts- und Sozialmodells gering.10
Werden die Franzosen gefragt, welche Themen für sie wahlentscheidend sind, nennen sie am häufigsten: Armut und Prekarität, Arbeitslosigkeit und geringe Kaufkraft.11 Die innere Sicherheit, die noch 2002 ganz vorne angesiedelt war, rangiert heute auf Platz sechs. Noch weiter abgeschlagen ist die Immigration auf Platz zehn der Liste der Sorgenthemen. Nach den Unruhen in den Vorstädten und den Massenprotesten gegen eine Liberalisierung des Arbeitsrechts konzentriert sich die Kampagne bei allen Kandidaten bislang auf wirtschaftliche und soziale Themen, wie die Zukunft der Rente, die Steuerpolitik, gesellschaftliche Ungleichheit, den gesetzlichen Mindestlohn, die Wohnungspolitik. Sarkozy hat „La France qui souffre“ in einer seiner Schlüsselreden zum Fokus seiner Politik erklärt.12
Die teilweise sehr weitgehenden Versprechen der Kandidaten im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich haben zu einer Debatte über die Umsetzungskosten der Wahlprogramme geführt. 2002 noch konnte Jacques Chirac 40-prozentige Einkommenssteuersenkungen und Ausgabenprogramme für Militär und Sozialstaat in Milliardenhöhe versprechen, ohne Diskussionen über den Staatshaushalt zu provozieren. Zwischenzeitlich hat das mehrjährige und gerade vorerst beendete EU-Defizitverfahren den Druck auf die öffentlichen Finanzen ins Bewusstsein gerückt13 – Medienberichte und Analysen von Instituten gehen mit den Kandidaten ob ihrer Ausgabenfreude ins Gericht.14
Im Gegensatz zu diesen neuen öffentlichen Rufen nach finanzpolitischer Solidität stehen die Äußerungen von Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Mit ihrer Forderung nach einer stärkeren politischen Kontrolle der Zentralbank und einer aktiven Wechselkurspolitik, der sich das gesamte linke Parteienspektrum anschließt, scheinen sie hinter den stabilitätspolitischen Konsens zurückzufallen, auf dem der Vertrag von Maastricht und die Europäische Währungsunion fußen15 und sorgen damit insbesondere in Deutschland für Kritik. Mit diesem wirtschaftspolitischen Populismus gaukeln die Kandidaten den Wählern vor, sie hätten Rezepte in der Hand, um die Kaufkraft dauerhaft zu stärken und Wachstum und Beschäftigung anzukurbeln. Der „Schuldige“ beispielsweise für die anhaltenden Wettbewerbsfähigkeitsprobleme der französischen Industrie – oder auch des Airbus-Debakels16 – wird nicht in inneren Entwicklungen (etwa den im Vergleich zu Deutschland hohen Lohnstückkosten) gesucht, sondern in externen Faktoren (dem Euro) gefunden.
„Lepenisation“ von Positionen und Rhetorik
Insbesondere zu Beginn des Wahlkampfs machten Sarkozy und Royal Äußerungen zum Bereich innere Sicherheit, die Kommentatoren als deutlich rechts der Mitte einstuften. Die „Lepenisation“ Sarkozys – also die Tatsache, dass der Kandidat der UMP unter dem Druck des rechtsextremen Konkurrenten Jean-Marie Le Pen Positionen und Rhetorik an die des Front National annähert – ist ein häufig kommentiertes Phänomen.17 Es ist jedoch zu kurz gegriffen, dies als temporäres, wahltaktisch motiviertes Manöver einzustufen. Immer wieder weisen Autoren auf einen tief in der französischen Gesellschaft verankerten und sich ausbreitenden Rassismus hin, der sich nicht nur in einem stabilen Stimmenanteil von um die 20 Prozent für den Front National und dem Mouvement pour la France zeigt. Er manifestiert sich auch im Alltag, etwa durch diskriminierendes Verhalten in der Arbeitswelt.
Rassistisches Verhalten sowie extremistische Stimmabgabe werden häufig als Ergebnis einer „sozialen Wut“ erklärt, die bei Arbeitslosen, der Arbeiter- und der unteren Mittelschicht durch wirtschaftliche und soziale Sorgen herbeigeführt wurden. Rassismus und Rechtsextremismus in Frankreich lassen sich jedoch nicht auf eine soziale Rebellion reduzieren. Die „Lepenisation des esprits“ manifestiert sich seit Beginn der neunziger Jahre in einem Diskurs zu den Themen Immigration und innere Sicherheit, bei dem nahezu alle Parteien starke Anleihen nehmen bei der Rhetorik des Front National. Politiker aus dem konservativen und linken Lager bedienen sich der Analysen, Argumente und Denkschemata des FN und arbeiten mit ähnlichen Freund-Feind-Bildern und Angstszenarien. Der zunehmende Ausgrenzungswille in der französischen Gesellschaft ist ein von der politischen Klasse mit produziertes Phänomen.18
Hintergrund dieser Entwicklung ist das Wiedererstarken einer holistischneokonservativen Geisteshaltung, die besonders die zur Abgrenzung dienlichen Aspekte einer Gesellschaft betont, wie Geschichte, Sprache, Kultur.19 Nach außen hin übersetzt sich dieser identitätsbasierte Nationalismus unter anderem in Konzepte wie die „Frankreich zuerst“-Rhetorik von Jean-Marie Le Pen, aber auch in den „Patriotisme économique“ der Regierung Villepin/Sarkozy oder protektionistische Äußerungen aus der PS. Auch die Parteien am linken Rand nehmen hier Anleihen, so beispielsweise die linksextreme Force Ouvrière, die Deutschland im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um Airbus in nationalistischem Ton den Standortkrieg erklärt hat.
Knackpunkt Europa-Politik
Das gedankliche Schema des „Wir und die anderen“ trägt sich hinein in Frankreichs Selbstwahrnehmung in der EU. Die immer wiederkehrende Frage, ob Frankreich seine Interessen in Brüssel gut genug vertritt; die immer wieder artikulierte Sorge, dass etwa der Europäische Verfassungsvertrag eine imminente Bedrohung für einen vermeintlich integralen Bestandteil der französischen Identität (nämlich das französische Sozialmodell) darstellen würde, all dies zeigt, dass Frankreich auch nach 50 Jahren Integrationsgeschichte mit der Europäischen Union hadert.20 Erschwerend kommt hinzu, dass Europa in Frankreich immer noch „westeuropäisch“ gedacht wird. Die Polemik gegen den „polnischen Klempner“ in der Kampagne gegen den EU-Verfassungsvertrag war mehr als eine kurze Episode. Auch heute noch sind die Vorbehalte gegenüber vollzogenen und künftigen Erweiterungsschritten groß.
So verwundert es kaum, dass keiner der Präsidentschaftskandidaten aktiv für eine Fortschreibung des Erweiterungsprozesses wirbt. Bleibt dieser politische Führungswillen auch in den kommenden Jahren aus, werden die mittlerweile verfassungsmäßig vorgeschriebenen Referenden über alle EU-Beitritte nach Kroatien mit einiger Wahrscheinlichkeit scheitern. Hinsichtlich des Verfassungsvertrags oder – abstrakter – der Frage, wie es mit der Vertiefung der EU weitergehen kann, ist das Bild zerklüfteter. Nicolas Sarkozy verspricht eine parlamentarische Ratifizierung eines kürzeren Vertrags und macht seine Position für die deutsche Ratspräsidentschaft und das Anliegen, den Reformprozess der Institutionen wieder voranzubringen, anknüpfbar. Ségolène Royal und François Bayrou hingegen wollen von einem Votum des Volkes über einen egal wie gearteten Alternativvertrag nicht absehen. Royal, die bislang keine kohärente Vision der zukünftigen EU präsentiert hat, macht zudem weit reichende Vorschläge zur Einberufung eines neuen Konvents, der einen neuen Grundlagenvertrag ausarbeiten solle. Das Vertagen dieser Probleme auf eine unsichere Zukunft und der gleichzeitige Mangel an konkreten Ideen und Überzeugungskraft machen Frankreich für Deutschland zu einem schwierigen Partner.
Rückkehr zum republikanischen Ideal
Selbst wenn sich viele der Beobachtungen entlang des Wahlkampfs zu einem durchwachsenen Gesamtbild zusammenfügen, relativiert dies die Bedeutung Frankreichs weder im bilateralen Verhältnis, noch im europäischen Kontext, noch in der Welt. Frankreich ist wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig das zweitgrößte Land der EU, Deutschlands wichtigster Handelspartner und eine von zwei Atommächten in der Gemeinschaft. Frankreich hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Weltweit ist es die fünftgrößte Volkswirtschaft, und obgleich Deutschland Frankreich temporär in Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit überholt hat, blickt Frankreich auf zehn Jahre zurück, in denen seine Wirtschaft stärker wuchs als die der Bundesrepublik. Die französische Bevölkerung entwickelt sich so dynamisch wie keine andere in der EU. In den internationalen Beziehungen ist Frankreich eines der wenigen Länder, das ein politisches Gegengewicht zu den USA darzustellen wagt. Über das Netzwerk der Frankophonie macht Paris seinen Einfluss auf verschiedenen Kontinenten geltend. In diesen Hinsichten hebt sich Frankreich von seinen EU-Partnern ab und nimmt diese Sonderrolle gerne an – in einer Form, die für die Partner nicht immer leicht zu managen ist.
In anderer Hinsicht aber ist Frankreich anderen westlichen parlamentarischen Demokratien sehr ähnlich: Bei den diesjährigen Wahlen prallen zwei Tendenzen aufeinander, die in der jüngeren Vergangenheit in den Nachbardemokratien eine wichtige Rolle gespielt haben: ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den großen Parteien und ihren Leitfiguren und die Tendenz, dass die großen Parteien fast identische (geringe) Wahlergebnisse erzielen (wie zuletzt in Deutschland und Italien). Parallel hierzu steigt das Wählerpotenzial der extremen Parteien. Krisen wie das Scheitern des Verfassungsvertrags, die Gewaltausbrüche in den Vorstädten, das politische Fiasko bei der Reform des Arbeitsrechts (die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes für junge Arbeitnehmer) oder auch der Skandal um die Liste mit angeblichen Clearstream-Konten (durch den die Nachrichtendienste und die politische Klasse vor dem Hintergrund eines Finanzskandals in Misskredit gerieten) haben dazu beigetragen, dass sich eine wachsende Zahl von Wählern von den großen Parteien abkehrt.
Die positive Nachricht aus Frankreich vor der Wahl ist, dass die Abkehr von den beiden Großparteien UMP und PS nicht zu einem völlig ungebremsten Zustrom von Wählern an den Front National, das Mouvement pour la République oder die Linksextremen zu führen scheint. Stattdessen profitiert – zumindest zeitweise – der Kandidat der UDF, François Bayrou. Dass er 2007 als Wahlalternative angenommen zu werden scheint, gibt Grund zur Hoffnung, dass mittelfristig politische und intellektuelle Strömungen an Gewicht zurückgewinnen, die eine – europäisch und international geöffnete – liberale Demokratie als Leitbild haben und damit Frankreich wieder an das eigene Ideal der Republik annähern.
Dr. DANIELA SCHWARZER, geb. 1973, ist Frankreich- und Europa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Zuvor war sie die Frankreich-Korrespondentin der Financial Times Deutschland.
- 1Bekanntestes Werk dieser Debatte ist Nicolas Bavarez: La France qui tombe, Paris, Librairie Académique Perrin, 2004.
- 2Zum Beispiel die Enthüllungen zum Einkommen von Sarkozy und Royal, heimliche Videos, Skandale um Berater etc. 2002 hingegen war „die“ Affäre des Wahlkampfs die Anspielung des sozialistischen Kandidaten Jospin auf das fortgeschrittene Alter seines Konkurrenten Chirac (damals 73 Jahre alt).
- 3So entsprechen etwa nicht alle Positionen Royals auf ihrer Kampagnenwebsite http://www.desirsdavenir.org dem Programm der PS. Dies erhöht die Unverbindlichkeit der Positionen, da ein kurzfristiges Umschwenken mit Bezug auf das Parallelprogramm möglich ist.
- 4Etienne Schweisguth: Quelle gauche et quelle droite pour la campagne de 2007? Baromètre politique français. Elections 2007, CEVIPOF, 2007, S. 5 f.
- 5Siehe beispielsweise die Kampagnenwebsite La Diagonale. Pour un Sarkozysme de gauche. http://www.ladiagonale.org/. Immer wieder nutzt Sarkozy zudem Referenzen zu linken Leitfiguren wie Jean Jaurès oder Leon Blum.
- 6Schweisguth (Anm. 4), S. 8.
- 7Philippe Cohen, Richard Malika und Riss: La face karchée de Sarkozy, Vents d’Ouest/Fayard, 2006.
- 8Siehe zum Beispiel http://www.toutsaufsarkozy.com.
- 9Ein Beispiel ist der auf vielen anderen Webseiten reproduzierte Artikel: Miklos Kovacs: La France risque-t-elle de voir les résultats de son élection présidentielle manipulée?, 2.2.2007, http://www.newropeans-magazine.org/index.php?option= com_content&task=view&id=5254&Itemid=84.
- 10Vgl. Bruno Pallier: Les enjeux des reformes de la protection sociale. Baromètre politique français. Elections 2007, CEVIPOF, 2007.
- 11Umfrage BVA-Orange, zitiert in: Reuters: Pauvreté et chômage, thèmes clés de la campagne, 20.12.2006.
- 12Rede von Nicolas Sarkozy am 18. Dezember 2006 in Charleville-Mézières: „Discours pour la France qui souffre“ (Rede für das leidende Frankreich).
- 13Wichtigster Meilenstein für die französische Debatte war der von Sarkozy als Finanzminister in Auftrag gegebene Bericht von Michel Pébéreau: Des finances publiques au service de notre avenir, 15. Dezember 2005. Diese Aufforderung zur Haushaltskonsolidierung erhält in einem intensiven Medienecho breite Zustimmung.
- 14Ein Beispiel hierfür sind die Berechnungen auf der Webseite des Institut de l’Entreprise zur Wahl 2007: http://www.debat2007.fr/index.php?id=23.
- 15Für eine Analyse der französischen Euro- und EZB-Debatte siehe die Beiträge zu Frankreich von Daniela Schwarzer auf http://www.eurozonewatch.eu.
- 16Sarkozy blames ECB for crisis at Airbus“, Financial Times, 13.3.2007.
- 17Le Pen versuchte zwischenzeitlich, sein Image zu verbessern, indem er von offen antisemitischen Positionen absieht und weniger ausländerfeindlich auftritt. Seine Wählerbasis versucht er zu vergrößern, indem er eingebürgerte Einwanderer der zweiten und dritten Generation anspricht. Seine jüngste Polemik gegenüber Homosexuellen und die erneute kämpferische Betonung der Préférence Nationale weichen von dieser Strategie jedoch wieder ab.
- 18Siehe hierzu Annie Collovald: Le „populisme du FN“, un dangereux contresens, Broissieux, Le Croquant, 2004. Pierre Tevanian und Sylvie Tissot: La lepénisation des esprits. Eléments pour une grille d’analyse du racisme en France, Les Mots sont importants, Juni 2006, http://lmsi.net.
- 19Stefan Collignon und Christian Paul: Lettre Ouverte aux Citoyens de la République Européenne, Manuskript zur Publikation bei Editions Odile Jacob.
- 20Julia Lieb, Benoît Roussel und Daniela Schwarzer: Falsche Fragen, falsche Antworten. Wie Frankreich eine notwendige Zukunftsdiskussion verpasst. SWP-Diskussionspapier, Juni 2006, http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?asset_id=3074.
Internationale Politik 4, April 2007, S. 6 - 15.