Die Bewährungsprobe
Kompromisslos leuchtet die Reaktion auf Corona den Zustand der EU aus. Von ihrem Umgang mit der Pandemie hängt viel ab – und somit von Deutschlands Ratspräsidentschaft.
Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 kann kaum zu einem wichtigeren Zeitpunkt kommen. Als größter und finanzstärkster EU-Staat muss es in seine frühere Führungs- und Vermittlerrolle zurückfinden, wenn es – ganz im eigenen Interesse – die EU zusammenhalten will. Das erfordert Konfliktbereitschaft nach innen wie nach außen. Drei europapolitische Aufgaben stellen sich in Corona-Zeiten mit neuer Dringlichkeit: die Wiederherstellung der inneren Kohäsion und Überbrückung der klaffend aufgebrochenen Nord-Süd-Gegensätze, das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie die Stärkung der internationalen Rolle der EU.
Als COVID-19 Anfang 2020 erstmals in Europa nachgewiesen wurde, geschah, was in einer EU ohne entsprechende gesundheitspolitische Zuständigkeit geschehen musste: Die ersten Schutzmaßnahmen wurden auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ergriffen. Von heute auf morgen wurden die Grundfreiheiten im Binnenmarkt in teilweise EU-rechtswidriger Weise eingeschränkt. Zwölf Staaten, darunter Deutschland, schlossen ihre Grenzen. Berlin verhängte Anfang März ein Ausfuhrverbot für medizinische Schutzausrüstung, Paris beschlagnahmte Atemschutzmasken. Tiefe politische Enttäuschung wuchs, als Solidaritätsbekundungen und praktische Hilfsmaßnahmen ausblieben. Die unilateralen Reaktionen erinnerten an Zeiten der Eurokrise.
Doch die EU bewies Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Schneller als in Zeiten der Finanzkrise wurde das Krisenmanagement im Europäischen Rat zur Chefsache. Die Europäische Kommission richtete wöchentliche Koordinierungstreffen ein, gemeinsame Rückholaktionen aus Drittstaaten und Patientenverlegungen in andere EU-Länder begannen; die meisten Regierungen hoben Exportstopps innerhalb des Binnenmarkts auf, nachdem europäische Regeln gegenüber Drittstaaten beschlossen waren. Europäische Unternehmen begannen, Schutzmasken und Beatmungsgeräte herzustellen, während die Kommission die gemeinsame Beschaffung und Bevorratung von medizinischem Material einleitete.
Wie auch schon die Finanz- und Migrationskrisen haben die ersten Krisenmonate gezeigt, dass innereuropäische Entgrenzung ohne begleitende Politik auf EU-Ebene nicht funktionieren kann.
Grundfreiheiten in Gefahr
Der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wurde geschaffen, um grenzüberschreitende Mobilität und Vernetzung zu fördern. Wenn in einem derart integrierten Raum der gemeinsame Gesundheitsschutz nicht als europäisches öffentliches Gut gewährleistet wird, kann in der Abwägung zwischen Schutz der Bevölkerung und grenzüberschreitender Offenheit letztere nicht aufrechterhalten werden.
Fehlen gemeinsame gesundheitspolitische Instrumente und sind einzelne nationale Gesundheitssysteme nicht in der Lage, der Pandemie Herr zu werden, bringt dies die Grundfreiheiten im Binnenmarkt zu Fall. Zudem verspielt die EU das Vertrauen der Bevölkerung, wenn sie Gefahren für die Gesundheit nicht abwehren kann und Mitgliedstaaten, die dies selbst nicht schaffen, im Krisenfall nicht unterstützt und dabei hilft, sich selbst zu helfen.
Dass die EU in den Worten von Kanzlerin Merkel „vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung“ steht, hat auch damit zu tun, dass die unzureichenden gesundheitspolitischen Vorkehrungen die größte Wirtschaftskrise seit Anfang des 20. Jahrhunderts nach sich ziehen. Alle Industrieländer dürften im ersten Halbjahr 2020 in eine Rezession rutschen. Die sozialen Folgen werden für viele Gesellschaften anhaltend und schmerzhaft sein.
In Spanien gingen allein im März mehr als 800 000 Arbeitsplätze verloren, eine Arbeitslosenquote von bis zu 18 Prozent wurde erwartet. Auch in Italien dürfte die Arbeitslosigkeit auf deutlich über 10 Prozent ansteigen. In Frankreich befand sich bereits nach vier Wochen Lockdown ein Viertel aller Beschäftigten des Privatsektors in Kurzarbeit, die Hälfte der Wirtschaft stand still. Ähnlich hart könnte die Krise Mittel- und Osteuropa treffen.
Wirtschaft stärken
Die Abfederung der Wirtschaftskrise und ihrer sozialen Folgen ist daher auch unter deutscher Ratspräsidentschaft eine enorm wichtige Aufgabe. Dies bedeutet zunächst, die Beschränkungen im Binnenmarkt zurückzubauen und sicherzustellen, dass krisenbedingte Schutzmaßnahmen die EU nicht untergraben. Einige Regierungen werden eine größere industriepolitische Rolle einnehmen, um Versorgungssicherheit und kritische Infrastruktur zu sichern, wobei nicht nur EU-Subventionskontrollregeln flexibilisiert werden, sondern es auch zu erneuten Verstaatlichungen kommen kann.
Die EU sollte gemeinsame Ansätze und Prinzipien entwickeln, um trotz größter Wirtschaftskrise seit Beginn der europäischen Integration nationalen Protektionismus möglichst zu unterbinden und sicherzustellen, dass europäische Wettbewerbsprinzipien nach Abflauen der Krise wieder durchgesetzt werden. Im Gegenzug wird eine gemeinsame Interessenvertretung nach außen wichtiger, im Bereich des Investitionskontrollschutzes, in handelspolitischen Fragen und um als gemeinsamer Währungsraum möglichst stark international aufzutreten.
Die deutsche Ratspräsidentschaft wird sich auch mit der weiteren finanziellen Abfederung befassen müssen. Die Europäische Zentralbank und die neuen Finanzierungsinstrumente im Volumen von 500 Milliarden Euro der Europäischen Kommission, der Europäischen Investitionsbank und des Europäischen Stabilitätsmechanismus stellen kurzfristig Liquidität bereit. Dennoch wird es wahrscheinlich nötig, noch mehr frisches Geld zur Verfügung zu stellen, womit Spannungen zwischen nord- und südeuropäischen Staaten wieder aufflammen. In den Verhandlungen um den Mittelfristigen Finanzrahmen der EU, deren Abschluss unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft erfolgen sollte, können zudem unter dem Druck der Corona-Krise die ausgabenintensiven Politiken der EU überprüft werden und Zukunftsaufgaben wie Forschung, technologische Wettbewerbsfähigkeit, Gesundheitsschutz neben dem Kampf gegen Klimawandel stärker in den Mittelpunkt gestellt werden.
Schließlich gilt es auch, die negativen Auswirkungen von nationalen Sparpolitiken durch mehr internationale Kooperation zu reduzieren. Ein wichtiges Beispiel ist die Verteidigungspolitik. Ähnlich wie nach 2008 könnten in den EU- und NATO-Staaten unkoordinierte Budgetkürzungen die gemeinsame Bereitstellung von Fähigkeiten schwächen. Daher sollten die NATO-Partner und die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft frühzeitig die Auswirkungen der aktuellen Krise auf die Verteidigungsfähigkeit, die Rüstungsindustrie und ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit in den Blick nehmen.
Gesellschaftliche Resilienz
Trotz aller finanziellen Bemühungen seitens der EU ist kaum auszuschließen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise politische Instabilitäten nach sich ziehen und die gesellschaftliche Resilienz untergraben. Das steigert die Verwundbarkeit für hybride Bedrohungen. Die Krisenjahre ab 2008 haben Populisten, viele von ihnen EU- und Globalisierungsgegner, in Parlamente und Regierungen gebracht. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit dem Corona-Krisenmanagement seine autokratische Macht gestärkt. Polen steht ebenso unter Beobachtung wie Ungarn. Italien, so hat Ex-Premier Enrico Letta gewarnt, könne das „Ungarn der Eurozone“ werden, wenn das Land, in dem die Zustimmung zur EU schon vor der Krise abgefallen war, nicht ausreichend europäische Hilfe bekommt. In Spanien könnte die Minderheitsregierung von Pedro Sánchez ihren Rückhalt verlieren.
In Zeiten wachsender politischer Polarisierung, geringerer gesellschaftlicher Resilienz und verstärkter externer Einflussnahme müssen innerhalb Europas demokratische Grundprinzipien und Rechtsstaatlichkeit entschiedener geschützt werden. Ein Instrument dafür ist neben den bestehenden europäischen Verfahren das EU-Budget: Ausgabenprogramme sollten an die Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien sowie die Regeln des Binnenmarkts gekoppelt werden. Zudem muss genau beobachtet werden, ob der Einsatz von Technologie zur Überwachung der Virusausbreitung im Einklang mit den Grundrechten steht und wie gemeinsam Kriterien für ein Ende des Ausnahmezustands definiert werden.
Besondere Aufmerksamkeit verdient, dass Europa durch den Wirtschaftseinbruch und die im Vergleich womöglich raschere Erholung der chinesischen Volkswirtschaft eine offene Flanke bietet. China könnte mit dem Ziel der externen Einflussnahme gezielt europäischen Unternehmen, Banken und Regierungen Liquidität zur Verfügung stellen und sich tief in europäische Wertschöpfungsketten einkaufen, auch in Deutschland. Daher ist die Abwägung, wieviel eigenen Schutz die EU und die mitgliedstaatlichen Regierungen ihrer Wirtschaft bieten, hochpolitisch.
Corona macht Europas internationales Umfeld noch unüberschaubarer. Trumps Amerika untergräbt internationale Ordnungsstrukturen weiter, etwa indem der Präsident die US-Beiträge zur WHO einfriert. Derweil ist im Umgang mit Corona der Systemkonflikt zwischen China und dem Westen deutlich zutage getreten. Die USA treiben im Machtkampf mit China die Entkopplung voran. Auch für Europa stellt sich die Frage, welche Teile der Wertschöpfungsketten, insbesondere im Pharma- und in anderen sicherheitsrelevanten Bereichen, künftig auf eigenem Territorium angesiedelt sein sollen.
Ohne Konflikte wird es nicht gehen
Während sich das internationale System schrittweise weiter desintegriert, zeigt die Pandemie, wie wichtig eine engere Kooperation in Gesundheitsfragen ist. Wenn Deutschland am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, hat es die überaus wichtige Aufgabe, die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten im kurzfristigen Krisenmanagement, aber auch den Aufbau europäischer und internationaler Instrumente voranzubringen, die den aktuellen Herausforderungen angemessen sind. Das Ziel sollte sein, Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgehen zu lassen. Das wird nicht ohne Konflikte im Inneren und in den Außenbeziehungen möglich sein.
Deutschlands Rolle dabei kann daher nicht nur die eines ehrlichen Mittlers sein, der typischerweise dem EU-Ratsvorsitz zugeschrieben wird. Berlin, Paris, andere EU-Partner, die Präsidentin und Präsidenten der EU-Institutionen müssen mit Entschlossenheit und Weitsicht für EU-Prinzipien und europäische Interessen eintreten. Anders ist die EU nicht durch die Bewährungsprobe dieser so vielschichtig herausfordernden Zeit zu bringen.
Dr. Daniela Schwarzer ist Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 26-29