Von fremden und eigenen Kriegen
Zehn Jahre 9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte?
Nichts erklärt und verkauft sich so gut wie runde Jubiläen. Zehn Jahre nach Beginn des „Krieges gegen den Terror“ und wenige Wochen nach der Erschießung Osama Bin Ladens zieht die Buchbranche Bilanz. Wie fällt sie aus – für Amerika, für den islamistischen Terrorismus, für die Welt? Vier Neuerscheinungen.
Bernd Greiner ist kein Trittbrettfahrer modischer Themen, auch wenn die Veröffentlichung einer Monografie zu 9/11 just im Jubiläumsjahr ein solches Urteil nahelegen könnte. Spätestens mit seinem Werk „Krieg ohne Fronten“ über die USA in Vietnam hat sich der Leiter des Arbeitsbereichs „Theorie und Geschichte der Gewalt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung in die erste Reihe der internationalen Militärhistoriker geschrieben.
Die Geschichte von 9/11 und seinen Folgen erinnert Greiner an die dunkelsten Kapitel des Kalten Krieges. Nach seiner Analyse handelt die Geschichte von einer Rückkehr der Angst ins öffentliche Leben: „Sie sind überall, in Fabriken, Büros, Metzgereien, an den Straßenecken, in privaten Firmen. Und jeder trägt den Keim für den Untergang der Gesellschaft in sich“, warnte der amerikanische Justizminister Tom Clark Ende der vierziger Jahre vor kommunistischen Schläferzellen. Zum Verwechseln ähnlich klang das bei Tom Ridge, Leiter des US-Heimatschutzministeriums, als er nach dem 11. September vor noch verheerenderen Angriffen warnte. Von Giftgasanschlägen in U-Bahnen war die Rede. Hunderte von Detektoren wurden über das Stadtgebiet von Los Angeles verteilt. F-15-Abfangjäger patrouillierten über potenziellen Anschlagszielen.
Wie diese Situation Amerika prägte, wie der „Krieg gegen den Terror“ demokratische Werte, Institutionen und damit jene Fundamente beschädigte, die es gegen die terroristische Herausforderung eigentlich zu stärken galt, macht Greiner zum Thema seiner klugen und präzisen Untersuchung, die keine umfassende Geschichte des „nervösen Jahrzehnts“ nach 9/11 sein will. Stattdessen wirft Greiner eine zentrale Frage auf, die erst nach der Präsidentschaft von Barack Obama seriös zu beantworten sein dürfte: Bleibt George W. Bush eine radikale Ausnahme in der Geschichte oder werden die USA auf künftige Angriffe ähnlich reagieren – mit Krieg zur Beglaubigung imperialer Größe und Durchsetzungsfähigkeit, Angriffskriegen auf bloßen Verdacht und zur Vorbeugung gegen künftige Gefahren, Setzung neuen Rechts ohne Verfahren, Diskussion und Legitimation?
Erste Antworten scheint ein überaus reizvoller Band gefunden zu haben, der die provozierende These aufstellt, dass der 11. September 2001 „kein Tag“ war, „der die Welt veränderte“. Die Herausgeber Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller gehen noch weiter: Noch nicht einmal die USA selbst seien durch die Anschläge von New York und Washington grundlegend verändert worden. Mit 9/11 habe keine neue Epoche in der Weltgeschichte begonnen – schon gar nicht für Europa und Amerika.
Die Herausgeber bestreiten nicht, dass 9/11 erhebliche Folgen hatte – von den Abertausenden durch die Anschläge und in den Folgekriegen ums Leben gekommenen Menschen bis hin zum radikalen Wandel der staatlichen Ordnung am Hindukusch und zwischen Euphrat und Tigris. Für diese Länder markiere der 11. September 2001 in der Tat eine Zäsur – für die USA, auf die sich der Band konzentriert, aber nicht. Die Gründe für diese These sollten ernst genommen werden – gerade im nach „Breaking News“ süchtigen Westen, der beinahe wöchentlich angebliche Epochenwechsel ausruft. Denn erst in der „Longue Durée“, in der französische Historiker die Weltgeschichte analysieren, können wir elementare von oberflächlichen Veränderungen unterscheiden.
Dennoch lassen sich schon heute einige Aussagen über die Wirkung von 9/11 auf die USA treffen: Mit Blick auf die Themen Weltmacht, Umwelt, Kunst, Religion, Wirtschaft, Patriotismus, Recht, Verschwörung und Anti- Amerikanismus war der Tag nur ein Katalysator. Er hat langfristige Entwicklungen verstärkt und sichtbarer gemacht – politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Anschläge markieren weder das Ende der amerikanischen Vorherrschaft noch den Beginn von außenpolitischen Alleingängen der US-Regierung. Amerika hat seit 1945 immer alleine gehandelt, wenn es das für nötig hielt. Und so wird es nach dem Urteil der Herausgeber auch bleiben. Damit wird 9/11 angenehm unaufgeregt in die längerfristigen historischen Entwicklungen eingeordnet.
Auch nach der Tötung Osama Bin Ladens wird Amerika wohl weiter in der ständigen Angst vor einem neuen Terroranschlag leben müssen. Das Ende der Präsidentschaft George W. Bushs ging keineswegs einher mit einem Ende der amerikanischen Strategie offensiver Defensivkriege, die Bestandteil einer Präventionspolitik gegen weitere Anschläge in Amerika ist. Das betont Bob Woodward in seinem Sachbuchthriller über Barack Obamas Kriege. Anhand von Wortlautprotokollen geheimer Sitzungen, Notizen und Gesprächen schildert Woodward, zu welch intensiven Debatten und Konflikten das Engagement etwa in Afghanistan innerhalb der Obama-Regierung sowie zwischen US-Regierung, Militär und anderen Staaten bereits geführt hat.
Die Ironie der Geschichte: Während Woodward mit „Obamas Kriege“ noch die von Bush „geerbten“ Kriege in Afghanistan und im Irak bezeichnet, hat der amtierende Präsident inzwischen seinen ersten eigenen Krieg begonnen: gegen das Regime von Gaddafi in Libyen. Eine weitere bittere Ironie: Am 10. Juli 2010 zitierte Obama gegenüber Woodward den amerikanischen Bürgerkriegsgeneral William T. Sherman: „Der Krieg ist die Hölle. Und wenn die Hunde des Krieges einmal losgelassen sind, weiß man nicht, wohin das führt.“ Damit waren noch Bushs Feldzüge gemeint. In Afghanistan und dem Irak hat das nicht nur zu Zerreißproben für amerikanische Präsidentschaften, sondern auch zu Debakeln geführt, die Militärhistoriker mit Vietnam vergleichen. Im Fall Libyen hat der Streit innerhalb der USA und zwischen ihren Alliierten bereits ähnliche Verwerfungen hervorgerufen wie Bushs Kriege.
Gibt es einen Ausweg für den Westen aus den Dilemmata asymmetrischer Kriege wie im Irak, in Afghanistan oder Libyen? Gernot Erler sucht nach „besseren Strategien gegen den Terror“, und er scheint sie im revolutionären Umbruch in der arabischen Welt gefunden zu haben. Die Aufstände bedeuten nach Ansicht des SPD-Politikers eine Chance im Kampf gegen den Terror: Gerade wenn im Maghreb die Demokratisierung Erfolg habe, verflüchtige sich die primäre Motivation der Terrororganisationen, die stets gegen die eigene Regierung mit ihrer behaupteten Abwendung vom Islam und dem „Verrat der arabischen Interessen“ gerichtet gewesen sei.
Mit diesem Urteil folgt Erler einem der profiliertesten deutschen Anti-Terror-Experten: Vor sechs Jahren stellte Guido Steinberg, damals Referent im Bundeskanzleramt, die These auf, dass die Militanten auf die Regime in ihren Heimatländern abzielten. Steinberg zitierte eine Ansprache Bin Ladens, in der sich der Al-Kaida-Chef im Dezember 2004 via Tonband an die saudi-arabische Bevölkerung wandte und erklärte, dass die beiden mekkanischen Attentäter des 11. September 2001 das World Trade Center und das Pentagon zerstört hätten, „um Mekka und seine Umgebung zu verteidigen“. Bin Laden habe damit deutlich gemacht, worum es ihm vor allem ging: um den Sturz der saudi-arabischen Regierung, indem er den „fernen Feind“ attackierte, um den „nahen Feind“ zu schlagen.
Wie soll der Westen auf diese nahen und zugleich fernen Feinde reagieren? Erler hält die politische Einbindung von islamistischen Gruppierungen in ein noch aufzubauendes pluralistisches Parteiensystem und in politische Verantwortung für geeigneter, den Terrororganisationen in den arabischen Ländern den Zulauf abzuschneiden, als Ausgrenzung und Isolierung. Verzicht auf Einmischung, verbunden mit Hilfe im Kampf gegen die ökonomische Krise, für die schon zahlreiche Konzepte bis hin zu umfassenden „Marshall-Plänen“ für Nordafrika diskutiert werden – das wären nach Erlers realistischem Urteil die besten Beiträge des Westens für einen Erfolg gegen den Netzwerkterrorismus vor Ort. Tunesien, Ägypten und Libyen könnten hier ein Anfang sein. Einen Versuch ist es nach den Debakeln in Somalia, im Irak und in Afghanistan allemal wert.
Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, C.H.Beck, München 2011, 280 Seiten, 19,95 €
Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller (Hrsg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2011, 169 Seiten, 16,90 €
Gernot Erler: Das Versagen nach 9/11. Mit besseren Strategien gegen den Terror, Edition Körber- Stiftung, Hamburg 2011, 110 Seiten, 10 €
Bob Woodward: Obamas Kriege. Zerreißprobe einer Präsidentschaft, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, 490 Seiten, 24,99 €
Dr. THOMAS SPECKMANN lehrt am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 137-139