Von Fluchtgründen und Konflikttreibern
Migration, Krieg, bedrohte Lebensgrundlagen: Warum Klimapolitik Krisenprävention ist.
Mehr Menschen denn je sind heute auf der Flucht. Die Vereinten Nationen veröffentlichten im Mai die erschreckend hohe Zahl von über 100 Millionen Vertriebenen. Waren es Ende 2021 noch knapp unter 90 Millionen, so zwang der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine weitere 14 Millionen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Hinter diesen kaum greifbaren Zahlen stehen Einzelschicksale, zerstörte Lebenswege und tiefe gesellschaftliche Zäsuren. Mehr als die Hälfte dieser Menschen sind in ihrem eigenen Land vertrieben worden, wegen Bürgerkriegen, Verfolgung, politischer Spannungen oder auch Naturkatastrophen, die allein 2021 über 23 Millionen Menschen zu Binnengeflüchteten machten. Ein Treiber von Flucht und Migration könnte in Zukunft noch eine größere Wucht entfalten: der Klimawandel.
Schon heute, bei knapp 1,2° C globaler Erwärmung im Mittel, beobachten wir immer mehr Extremwetterereignisse. Brachiale Dürren wie in Afghanistan oder Äthiopien und extreme Überflutungen wie zuletzt in Bangladesch oder 2021 im deutschen Ahrtal zeigen, dass Anpassungsmaßnahmen schnell ausgeschöpft sind. Besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern mit großer sozioökonomischer Ungleichheit gibt es bestenfalls eine rudimentäre staatliche soziale Absicherung nach Ernteeinbrüchen oder dem Verlust von Haus und Hof infolge eines Sturmes. Schwinden Lebensgrundlagen, greifen Armut und Hunger um sich.
Überlebensmigration
Alle diese Gründe zwingen Menschen zur Flucht, auch wenn Migrationsentscheidungen oft eine komplexe Risikoabwägung der betreffenden Person vorausgeht, bei der eine Reihe von Faktoren zu Buche schlägt. Die große Mehrheit will nahe ihres ursprünglichen Wohnorts Schutz finden, um im eigenen Sprach- und Kulturraum zu bleiben und den Kontakt mit Freunden und Verwandten zu halten oder schnell zurückkehren zu können, wenn es die Situation erlaubt. Das ist in Entwicklungsländern nicht anders als im Ahrtal, wo nach der Flutkatastrophe überwiegend an Ort und Stelle wieder aufgebaut wird. Ziehen Menschen weg, sind häufig die in der Nähe liegenden Gemeinden das Ziel. Klimabedingte Bewegungen verlaufen oft entlang bestehender Migrationsrouten, etwa vom Land in die nächstgelegene Stadt. Dabei bestimmen auch finanzielle Möglichkeiten Wege und Mittel der Migration. Manche Menschen sind gezwungen zu bleiben, weil sie einen Ortswechsel finanziell nicht stemmen können; andere bleiben aus eigenem Willen, trotz wachsender Risiken.
Ohne staatliche Absicherung beginnt in vielen Entwicklungsländern nach einem Wetterextrem ein lange andauernder Überlebenskampf. Sind Menschen kurzfristig gezwungen, vom Land in die Stadt zu migrieren, verfügen sie vielfach nicht über die nötigen Qualifikationen, um sich auf dem urbanen Arbeitsmarkt zu behaupten. Was folgt, ist schwere, gesundheitsgefährdende körperliche Arbeit, oft auf dem Schwarzmarkt.
Während Bildungsmigration vom Land in die Stadt zu einer Aufwärtsspirale führen kann, führt Klimamigration nicht selten in informelle Armutssiedlungen ohne wirkliche Chance auf ein besseres Leben. Zwar wird in der Wissenschaft inzwischen auch von Migration als einer Form der Anpassung gesprochen, um dem Gespenst „Migrationskrise“ seinen Schrecken zu nehmen. Doch vielerorts gelingt diese Anpassung nicht. Gerade bei fluchtartigen Bewegungen, die als Reaktion auf ein klimatisches Ereignis erfolgen, ist der Lebensstandard oft nicht zu halten.
Die Folgen von Klimawandel und Vertreibung beschränken sich dann nicht nur auf die wirtschaftliche Situation betroffener Haushalte, sondern können auch Identitäten zerstören und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Somit dient das Framing „Migration als Anpassung“ letztlich einer Legitimierung des Status quo: einer Welt, in der mehrheitlich BIPoC (Black, Indigenous, People of Colour) im globalen Süden durch die Treibhausgasemissionen mehrheitlich weißer Menschen im globalen Norden ihre Heimat verlieren.
Schaut man sich den aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats an, wird allerdings deutlich, dass einige Gebiete irgendwann so stark vom Klimawandel betroffen sein könnten, dass Menschen dort nicht mehr leben können. In Hochrisikogebieten wäre Migration die letzte verbleibende Form der Anpassung. Damit künftig Klimamigration nicht zu einer humanitären oder sicherheitspolitischen Krise wird, ist es geboten, präventiv Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört auch, Abwanderung aus Hochrisikogebieten frühzeitig zu ermöglichen und Betroffene für Arbeiten außerhalb der Landwirtschaft zu befähigen. Solche Überlebensmigration sichert das Leben der Betroffenen, womöglich aber nicht ihre Lebensweise, ihre Kultur, ihre Verbindung zur Heimat.
Klimakrisenprävention
Wie stark die Lebensräume des Menschen sich verkleinern und verschieben werden, hängt von den globalen Treibhausgasemissionsminderungen ab. Schon ab einer Erwärmung von 1,5° C über dem vorindustriellen Temperaturniveau wären flachgelegene Küstengebiete, Inseln und Atolle durch den Meeresspiegelanstieg existenziell bedroht. Für diese und noch gravierendere Erwärmungsszenarien müssen Vorkehrungen getroffen werden.
Wie dramatisch die Lage ist, zeigt die kürzlich erschienene Pressemitteilung der Weltorganisation für Meteorologie, die mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, dass bereits in den kommenden fünf Jahren die Temperaturgrenze von 1,5° C erreicht werden könnte. Während die globalen Treibhausgasemissionen aufgrund der Corona-Pandemie einen kurzen Einbruch verzeichneten, steigt die Emissionskurve inzwischen wieder rasant nach oben. Wird dieser Entwicklung nicht schleunigst Einhalt geboten, kann die internationale Staatengemeinschaft das Pariser Abkommen nicht mehr einhalten. Das bedeutet: ambitioniertere Klimaschutzpolitik und mehr Investitionen in präventive Anpassungsmaßnahmen.
Die meisten Menschen wollen in ihrer Heimat bleiben, deswegen muss die Finanzierung für den Erhalt landwirtschaftlicher Lebensgrundlagen erhöht werden. Programme wie die „InsuResilience Initiative“, die darauf abzielen, den Schutz vulnerabler Gruppen zu verbessern und beispielsweise Kleinbäuerinnen und -bauern gegen Ernteverluste absichern, sind deshalb essenzieller Bestandteil vorausschauender Krisenprävention.
Sicherheitsrisiko Klimawandel
Einige Beispiele aus der Vergangenheit zeigen auch, dass plötzlich eintretende Vertreibung politische Spannungen erhöhen kann, wenn keine adäquate Hilfe geboten wird. So ging den Protesten in Syrien 2011 eine mehrjährige Dürre voraus, die fast alle Viehherden des Landes vernichtete und Ernteerträge einbrechen ließ, wie eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Amerikaner Colin Kelley analysiert hat. Die Eintrittswahrscheinlichkeit der Dürre, die schwerste seit mehreren hundert Jahren, wurde durch die bisherige Erwärmung um das Dreifache erhöht. Doch eine Dürre allein führt nicht zwingend in die Katastrophe. Falsche agrarpolitische Maßnahmen – zu geringe Investitionen, Anreize zur Übernutzung von Grundwasser und fehlende Absicherung für Landwirte und Geringverdienerinnen – potenzierten die negativen Effekte, wie Forscherinnen der Universität Lund in einer aktuellen Studie gezeigt haben.
Aufgrund der Dürre und ihrem Missmanagement waren 1,5 Millionen Syrerinnen und Syrer gezwungen, ländliche Gebiete zu verlassen und in städtische Zentren umzuziehen, immer auf der Suche nach überlebenssichernden Löhnen. So wurde der Wettbewerb um bezahlbaren Wohnraum und Arbeitsplätze in den Städten und Vororten härter. Gleichzeitig stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel enorm.
Diese verhängnisvoll ineinandergreifenden Faktoren trugen zur Unzufriedenheit mit dem diktatorischen Assad-Regime bei, das durch seine menschenverachtende und korrupte Politik nicht nur die Ungleichheiten im Land immer weiter vergrößerte, sondern auch mit größter Brutalität gegen politische Gegner vorging. Als 2011 aufgrund der prekären Lage im Land und vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings die Proteste in Syrien ausbrachen, wurden sie von Assads Handlangern blutig niedergeschlagen und mündeten in einen Bürgerkrieg. Dieser dauert bis heute an und hat bereits eine halbe Million Menschenleben gefordert. Die Interventionsmomente, den Krieg abzuwenden oder später die Eskalationsspirale zu entschärfen, wurden verpasst. Das Beispiel zeigt, wie komplex eine Konfliktgenese ist und von wie vielen Seiten Krisenprävention ansetzen müsste, um Gewalt zu verhindern.
Auch wenn viele Faktoren zum Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs beitrugen und der Griff zur Waffe immer ein menschlicher Entschluss bleibt: Die Klimakrise vergrößert die Reibungsfläche zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Das heißt auch, dass die Lösung bestehender Konflikte und die Bekämpfung humanitärer Notlagen durch den Klimawandel erschwert werden können.
Der Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung beleuchtet diese Zusammenhänge in der Studie „Klimawandel und Konflikte. Herausforderungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik“ und kommt zu dem Schluss, dass ein vertieftes Engagement der Bundesregierung notwendig sei, um „Krisen vorzubeugen, Sicherheitsgefahren zu bewältigen oder sie abzuwehren und um bereits entstandene Schäden einzudämmen“. Wachsende Klimafolgen erzwingen einen Perspektivwechsel auf die Mensch-Umwelt-Interaktion. Nicht nur nehmen wir Einfluss auf Erdsystem und Weltklima, unsere Gesellschaftssysteme werden auch in wachsendem Maße geprägt und möglicherweise destabilisiert durch Extremwetterereignisse, deren Entstehung wir durch Treibhausgasemissionen begünstigen.
Nicht zuletzt deshalb muss die Nationale Sicherheitsstrategie, die derzeit von der Bundesregierung entwickelt wird, den Klimawandel als ein Sicherheitsrisiko miteinbeziehen. In ihrer Auftaktrede zu den Konsultationen für die Strategie hat Außenministerin Annalena Baerbock die Sicherheit der Lebensgrundlagen neben dem Schutz des Lebens und der Freiheit als eines von drei Kernelementen von Sicherheit benannt. Nun wird es darauf ankommen, Klimafragen als Querschnittsthema in verschiedenen Teilen der Strategie zu verankern. Denn sowohl in der zivilen Krisenprävention als auch im Sicherheitssektor spielen umweltbasierte Mediation und Friedensförderung eine wichtige Rolle. Neben der Herausforderung, nachhaltige Lösungen zu entwickeln, birgt der Umstieg auf erneuerbare Energien eine Chance für höhere Versorgungssicherheit sowie Unabhängigkeit von fossilen Importen und Marktmonopolen.
Gleichwohl müssen Lieferketten für die Ressourcen, die für eine grüne Transformation notwendig sind, resilient aufgebaut und neue Handelspartnerschaften geschlossen werden. Die Fehler der Vergangenheit, sich stark abhängig von einem autokratischen Importeur zu machen, sollten nicht wiederholt werden. Arbeitsstandards nach dem Lieferkettengesetz und darüber hinaus müssen gewährleistet werden, wenn es etwa um Rohstoffabbau zugunsten der Implementierung des europäischen Green Deal geht.
Reallabore des Gesellschaftswandels
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 zum Klimaschutzgesetz legt nahe, dass Deutschland nicht nur verpflichtet ist, seinen eigenen Beitrag an den globalen Emissionen rasch zu senken, sondern auch auf andere Länder einwirken muss, ambitionierten Klimaschutz zu betreiben. Dafür braucht es ungewöhnliche Partnerschaften und Allianzen, sowohl auf zwischenstaatlicher wie auf subnationaler Ebene.
Städte und Kommunen sowie zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich international vernetzen, können gemeinsam neue Narrative der Zukunft entwerfen und austesten – als Reallabore des gesellschaftlichen Wandels. Solche Impulse können Einfluss auf nationale Gesetzgebung entwickeln und die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen Ländern für Emissionsminderungen fördern.
Nur durch rasches multilaterales Handeln kann der Klimakrise noch Einhalt geboten werden; Deutschlands Sicherheit ist somit auch abhängig von der Klimaschutzpolitik anderer Staaten. Doch auch die „radikale Kooperation“ über politische Grenzen hinweg für einen effektiveren Klimaschutz, wie sie Staatssekretärin Jennifer Morgan zu Beginn ihrer Amtszeit formuliert hat, hat durch den russischen Überfall auf die Ukraine Schaden genommen. So ist in quasi allen Bereichen die Kooperation mit Russland gegenwärtig unvorstellbar.
Für die bevorstehenden Klimaschutzverhandlungen sind das schlechte Vorzeichen, zumal sich Russland schon in den vergangenen Jahren immer wieder als Bremser klimapolitischer Bemühungen positioniert hat. Dies geschah nicht zuletzt aus der Motivation heraus, Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern zu zementieren, was im Falle Deutschlands auch gelang. Denn Russland hätte als größter Flächenstaat rein geografisch gesehen beste Voraussetzungen, erneuerbare Energien zu erzeugen und diese mittelfristig auch gewinnbringend zu exportieren. Doch die Interessen der russischen politischen und wirtschaftlichen Elite stehen einer solchen Transformation im Weg, denn ein großer Teil ihrer Machtbasis stützt sich auf das Monopol der Ausbeutung fossiler Energieträger wie Öl, Gas, Uran und Kohle.
Deutlich zutage treten diese Probleme in der Arbeit des Arktischen Rates, in dem Russland derzeit turnusgemäß den Vorsitz innehätte. Der Rat koordiniert in verschiedenen Arbeitsgruppen unter anderem die umwelt- und klimapolitische Zusammenarbeit im nördlichen Polarkreis. Die sieben Arktis-Anrainerstaaten neben Russland wollen nun ohne das Putin-Regime ihre Arbeit fortsetzen. Doch allein aufgrund der Größe der russischen Gebiete im Nordpolarkreis ist mittelfristig ein effektiver Schutz der Arktis so kaum vorstellbar. Indigene Gruppen, die in den arktischen Gebieten leben, könnten dort die ersten Leidtragenden des Niedergangs der Zusammenarbeit werden. Das Beispiel zeigt: Auch die Umwelt- und Klimapolitik wurden tief durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine erschüttert. Noch kein Jahr nach dem Regierungswechsel und der Verlagerung des Verhandlungsteams für die Klimaschutzdiplomatie in das Auswärtige Amt ist es der tragische Beweis dafür, dass Klima- und Außenpolitik zusammengedacht werden müssen.
Das Umfeld für Krisenprävention durch eine bessere Verwaltung der natürlichen Ressourcen, einen Interessenausgleich zwischen Konfliktparteien und durch umweltbasierte Mediation ist nicht einfacher geworden. Doch die bedrohlichen Signale des Erdsystems erlauben kein Aufschieben der Klimaschutzagenda, und die besorgniserregenden Verschiebungen im internationalen System erfordern den stärkeren Einsatz ziviler Friedensförderung.
Das heißt: Nicht nur in der Geopolitik ist Berlin gefordert, auch im Vorangehen bei den Emissionsminderungen und in der Unterstützung von Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern sind die Erwartungen vieler Staaten groß. Dies wird sich auch auf die Verhandlungsdynamik bei der COP 27 in Ägypten niederschlagen. Dem deutschen Verhandlungsteam wird dabei eine große Verantwortung zuteil. Denn die Bundesrepublik, unsere Werte, die Demokratie, das Territorium, all das kann nur sicher in einem stabilen Weltklima sein. Deswegen ist Klimaschutz Krisenprävention, in all seinen Facetten.
Internationale Politik Special 5, September 2022, S. 46-51