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28. Febr. 2011

Von der Revolution ins Reformlabor

Wer gestaltet den Übergang in Tunesien?

Nach dem Sturz von Präsident Ben Ali, der weltweiten Euphorie über den Mut der tunesischen Bevölkerung und dem anschließenden Revolutionskater kehrt der Alltag nach Tunesien zurück. Welches politische Modell soll das autoritäre Ben-Ali-System ablösen, welche Kräfte sind in der Lage, die notwendigen wirtschaftlichen Reformen in Gang zu setzen?

Tunesien hat keinen Nelson Mandela, keine Aung San Suu Kyi und auch keinen Mohammed El Baradei – zumindest hat sich bislang keine vergleichbare charismatische Führungsfigur hervorgetan. Aber was nicht ist, das kann ja im bevorstehenden Wahlkampf noch werden. Während die Sicherheitslage angespannt bleibt, wissen sowohl die Übergangsregierung als auch die Bevölkerung, dass die Zeit drängt und sehr viel von den politischen Fortschritten der kommenden Monate abhängt: die soziale Befriedung, die Glaubwürdigkeit der neuen Institutionen und des neuen Führungspersonals, die Präsenz ausländischer Firmen und Investoren, die Rückkehr der Touristen.

Tunesien steht vor immensen Herausforderungen. Die Übergangsregierung muss zunächst „die Straße“ wieder in den Griff bekommen, aber auch die untergetauchten ehemaligen Sicherheitskräfte und die entflohenen Häftlinge. Die öffentliche Sicherheit bleibt fragil, wie die anhaltenden Auseinandersetzungen oder Racheaktionen zeigen. Öffentliche Plätze, wie die Avenue Bourguiba oder die Place du Gouvernement, wurden geräumt; auf dem Land und in Städten wie Bizerte, Gafsa, Le Kef oder Kasserine kommt es weiterhin zu gewaltsamen Konflikten zwischen Polizei und Demonstranten. Teilweise bezahlen Mitglieder der ehemaligen Regierungspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD) Jugendliche und Söldner dafür, Unruhe zu stiften. Und die Übergangsregierung soll den überhöhten Erwartungen gerecht werden, dass von einem Tag auf den anderen alles anders, alles besser sein soll.

Gleichzeitig weiß noch niemand, wie dieses neue und freie Tunesien denn überhaupt aussehen, welches politische System das autoritäre Ben-Ali-System ablösen soll. Darüber hatte sich vor der Revolution, die ja sehr plötzlich über das Land kam, kaum jemand im Detail Gedanken gemacht, obwohl sich seit über 20 Jahren ein enormes Frust- und Protestpotenzial aufgestaut hatte. Nach der ersten Euphorie über die gemeinsam errungenen Ziele „Ben Ali dégage“ (Hau ab, Ben Ali) und „RCD dégage“ gehen nun die Vorstellungen über die Zukunft Tunesiens weit auseinander: ein säkulares System nach französischem, britischem oder amerikanischem Modell oder eine moderate islamische Demokratie nach türkischem Vorbild? Viele erhoffen sich vor allem eine sofortige Verbesserung ihrer materiellen Lage, einen neuen Arbeitsplatz, eine Senkung der Lebensmittelpreise. Und viele wünschen sich, dass endlich Gerechtigkeit herrscht und die ehemaligen Peiniger zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden. Manch einer möchte die Rache gerne selbst in die Hand nehmen.

Eine weitere offene Frage ist die nach der Legitimität der Übergangsregierung und den von ihr eingeleiteten Schritten. Die tunesische Bevölkerung hat klar signalisiert, dass sie keine Minister mehr akzeptiert, die dem alten Regime angehörten und RCD-Mitglieder waren. Viele Politiker sind inzwischen aus dem RCD ausgetreten. Aber das aktuelle Parlament ist nicht demokratisch legitimiert; die Mitglieder der jetzigen Übergangsregierung sind nicht frei gewählt, sie verfügen nicht unbedingt über die Autorität, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Das hat das Beispiel des neuen Innenministers Farhat Rajhi gezeigt. Rajhi entging am 31. Januar 2011, kurz nach seinem Amtsantritt, nur knapp einem Angriff von über 2000 Jugendlichen, die, von den alten Machthabern angestiftet, das Ministerium stürmten. Angesichts dieser fragilen Situation sollten möglichst schnell freie Wahlen vorbereitet und der demokratische Prozess gestartet werden.

Reformbedarf, wohin man schaut

Am dringendsten ist der Reformbedarf in Sachen politische Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit. Zwar wurden einige Zensurmaßnahmen in Bezug auf die Presse und das Internet bereits aufgehoben, doch müssen sämtliche bürgerlichen Freiheiten gewährleistet werden. Eine Änderung des Wahl- und Parteiengesetzes ist in Arbeit, um einen gerechten Wahlkampf sowie freie und faire Wahlen zu ermöglichen. Wahlhilfe wurde bereits von der EU und den USA zugesagt. Doch freie Wahlen allein garantieren noch kein demokratisches System. Auch die Verfassung muss überarbeitet werden. Weiteren Reformbedarf gibt es im Justizwesen, im Sozialversicherungssystem, aber auch in der Lebensmittelversorgung, der Bildung, der Gesundheit, dem Tourismus, dem Außenhandel (vor allem Zollwesen) sowie auf dem Energiemarkt.

Ein zentrales Problem bleibt die Korruption: Jahrzehnte „von oben“ vorgelebt und teilweise gezielt gefördert, zieht sie sich durch alle Gesellschaftsschichten und Arbeitsbereiche.1 So wurden Polizisten schlecht bezahlt und dazu angehalten, den Rest ihres Gehalts selbst einzutreiben; viele staatlich beschäftigte Ärzte behandelten nur dann Patienten, wenn sie mit Bakschisch zusätzlich motiviert wurden. Die Glaubwürdigkeit des Justizsystems ist ausgehöhlt. Die Übergangsregierung hat nun angekündigt, dass Tunesien noch ausstehende internationale Konventionen unterzeichnen wird, insbesondere die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen und das Statut des Internationalen Gerichtshofs.

Die Parteienlandschaft formiert sich neu und spannt einen Bogen von denen, die das alte System radikal ausradieren und wieder „bei null“ anfangen wollen, bis zu jenen, die aus Angst vor Unordnung, Chaos und Anarchie die Verantwortung nicht an unerfahrene Politiker übertragen möchten und zu gewissen Zugeständnissen an die ehemalige Elite und die Technokraten bereit sind. Zwischen diesen beiden Extremen stehen die verschiedensten Gruppierungen, von ehemaligen Kommunisten über Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten, Liberale, Konservative bis hin zu „den“ Islamisten. Einige der ehemaligen Regimegegner sind aus ihrem Exil (meist in Frankreich) zurückgekehrt und erleben, dass ihre Stimme nicht mehr viel zählt. So war der Empfang für den linksliberalen Politiker Moncef Marzouki nicht besonders herzlich. Ein bitteres Schicksal für all diejenigen, die ihren Einsatz für mehr Freiheit einst mit Folter, Zensur und Exil bezahlen mussten. Parallel zu diesen verschiedenen Gruppierungen, die sich nun endlich freier und besser organisieren können, funktioniert der alte Staatsapparat weiter. Das ist einerseits gut für einen vergleichsweise friedlichen Übergang, andererseits besteht die Gefahr, dass vieles einfach weiterlaufen wird wie bisher, wenn der revolutionäre Elan erst einmal verpufft ist.

Gesamtgesellschaftlicher Generationenkonflikt

Letztendlich war diese Revolution nicht nur ein Auflehnen gegen einen korrupten Autokraten, sondern auch Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Generationenkonflikts. Deshalb ist es nicht unproblematisch, dass nun ein Teil der alten Elite eine zentrale Rolle im politischen Reformprozess spielt. Hierbei handelt es sich zwar um die Teile der Elite, die sich am Rande des Regimes aufhielten, oft zwischen Frankreich, den USA oder Kanada und Tunesien lebten und durch ihr Standing in der tunesischen Gesellschaft (angesehene Familien der Bourgeoisie, ehemalige Diplomaten) über eine gewisse intellektuelle Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit verfügen. Dazu zählt zum Beispiel der renommierte Intellektuelle Yadh Ben Achour, der nun die Kommission für politische Reformen leitet. Diese hat zunächst die  Aufgabe, das Wahlgesetz zu reformieren, transparente demokratische Verhältnisse zur Vorbereitung und Durchführung von freien Wahlen zu schaffen, einen fairen und freien Wahlkampf zu ermöglichen und das Pressegesetz zu liberalisieren, um eine freie und unabhängige Presse und Informationspolitik zu ermöglichen.

Aber auch Persönlichkeiten wie Taoufik Bouderbala, Leiter der Kommission zur Aufklärung der jüngsten Ereignisse, und Abdelfattah Amor, Leiter der Kommission zur Aufklärung von Korruptions- und Bereicherungsfällen, gehören zu dieser Elite und genießen großes Ansehen.2 Letztere Kommission hat die Aufgabe, die Verbrechen des Ben-Ali-Regimes aufzuklären und einen Versöhnungsprozess mit denjenigen zu organisieren, die das System erlitten, aber eben auch mitgetragen haben, ohne sich dagegen aufzulehnen.

Einige Minister der Übergangsregierung sind aus dem Ausland zurückgekommen und bringen internationale Expertise mit. Dazu zählen zum Beispiel der Mathematikprofessor Elyès Jouni, Staatsminister des Premierministers, der für die sozioökonomischen Reformen zuständig ist. Ob die Experten und Technokraten den Hoffnungen und Erwartungen der jüngeren Generation gerecht werden können, ist noch offen. Auch viele Köpfe der ehemaligen Oppositionsparteien gehören dieser Generation an, seien es die Sozialdemokraten Mustapha Ben Jaafar (FDTL) und Ahmed Brahim (Ettajdid) oder der Marxist Ahmed Néjib Chebbi (PDP).

Politische Hoffnungsträger der jüngeren Generation sind in diesen Oppositionsparteien und der Übergangsregierung so gut wie nicht vertreten. Dabei müsste die Generation der 25- bis 45-Jährigen jetzt das neue Tunesien aktiv mitgestalten. Um den Erwartungen der Demonstranten entgegenzukommen, wurde zwar der Blogger Slim Amamou (Twitter: Slim404), eine der führenden Figuren der Facebook-Revolution, wenige Tage nach Ben Alis unrühmlichem Abgang zum Staatssekretär für Jugend in der Übergangsregierung ernannt. Doch er hat sich schnell angepasst, und natürlich ist dies auch nicht ausreichend. Es wird sich zeigen, ob im Wahlkampf vermehrt qualifizierte „Young Leaders“ in Erscheinung treten.

Im Gegensatz zu den meisten bisherigen Oppositionspolitikern und anderen politischen Köpfen war Rachid Ghannouchi, der Gründer der bislang verbotenen und massiv unterdrückten islamistischen Nahda-Partei, nach dem Umsturz sofort sehr professionell auf Facebook vertreten. Die Nahda vergleicht sich selbst mehr mit der AKP in der Türkei als mit den Ayatollahs im Iran und definiert sich als nicht korrupt, demokratisch und einen modernen Islam repräsentierend. Ihre Anhängerzahl in der tunesischen Bevölkerung wird auf 30 Prozent geschätzt, aber statistische Erhebungen liegen nicht vor. Nach über 20 Jahren Exil in London wurde Rachid Ghannouchi von mehreren tausend Anhängern am 6. Februar am Flughafen von Tunis begeistert empfangen. Die liberalen tunesischen Frauen fürchten nun, dass sie ihre mühsam erkämpften Freiheiten verlieren könnten. Aber da die Islamisten unter Ben Ali Staatsfeind Nummer eins waren, hat sich der islamistische Weg auch zu einer Art Protestkultur entwickelt, nicht nur bei Männern. Es gibt viele Frauen, die das Kopftuch als eine Art Symbol ihrer Freiheit getragen haben – aus Protest gegen Ben Alis Unterdrückung. Doch an der Revolution war die Nahda-Bewegung nicht maßgeblich beteiligt. Sie springt nun im Nachhinein auf den Zug auf.

Bedeutender in der Revolution als die Rolle der Islamisten war die der Gewerkschafter. Viele Mitglieder der Union Générale des Travailleurs de Tunisie (UGTT) haben aktiv Streiks und Demonstrationen mitorganisiert. Dadurch wurden sie zum Ziel von Angriffen der Ben-Ali-Anhänger, die mehrere UGTT-Regionalbüros zerstörten. Gleichzeitig brachen aber auch massive Konflikte innerhalb der Gewerkschaftsbewegung aus. Anschuldigungen über die Verwicklung der Führungsebene, insbesondere ihres Vorsitzenden Abdessalem Jrad, in die Machenschaften des Regimes wurden laut. Nichtsdestotrotz bleibt die UGTT ein zentraler Akteur im aktuellen Reformprozess. Am 1. Februar 2011 konnte Habib Guiza die neue Gewerkschaft Confédération Générale Tunisienne du Travail (CGTT) offiziell gründen, die bereits seit vier Jahren im Untergrund existierte. Ihr Ziel ist es, die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, sich für gewerkschaftlichen Pluralismus und die Unabhängigkeit der Gewerkschaften einzusetzen und den anstehenden sozialen Übergangsprozess aktiv zu gestalten. Engagierte Gewerkschafter werden sicherlich eine wichtige Rolle im Reformlabor spielen. Ebenso zahlreiche Rechtsanwälte, die von Anfang an hinter der Revolution standen und auch jetzt noch von korrupten Mitgliedern des alten Regimes bedroht und sogar überfallen werden. Nicht zuletzt wurde die Revolution von vielen engagierten Persönlichkeiten aus Medien, Kunst und Kultur maßgeblich mitgetragen. Die Mehrheit der führenden Wirtschaftsleute und Arbeitgeber verhält sich jetzt loyal zur Übergangsregierung, auch wenn ihr Verband UTICA zunächst gespalten war: Ein Teil begrüßte den Wechsel, andere waren dagegen.

Unterstützung ja, Einmischung nein

Viele der genannten Akteure waren schon zu Zeiten Ben Alis politisch aktiv und – gewollt oder ungewollt – in die alte Regierung verstrickt. Wo wird heute die Toleranzgrenze gezogen? Wer kann jetzt „politisch recycelt“ oder rehabilitiert  werden und wer ist endgültig aus dem Spiel? Diese Fragen werden die tunesische Gesellschaft in den nächsten Monaten und Jahren beschäftigen, wobei sich angesichts des akuten Reformbedarfs ein gewisser Pragmatismus durchsetzen wird. Vor der Revolution hieß es oft, es gebe keine unabhängige Zivilgesellschaft in Tunesien. Irgendwie existierte sie wohl doch, denn sonst wäre der Sturz Ben Alis nicht gelungen.

Doch wie wird die Mehrheit derjenigen reagieren, die letztendlich Anhänger des alten Regimes waren, in seinem Sold standen oder in irgendeiner anderen Form von ihm profitierten? Diese Menschen werden allen demokratischen Reformen skeptisch gegenüberstehen und sofort Kritik äußern, wenn der demokratische Prozess nicht ideal abläuft, nach dem Motto: Seht ihr, früher war es doch besser. Der Reformprozess kann nur gelingen, wenn die Armee weiterhin auf Seiten der Revolution steht. Insofern spielt auch der Armeechef General Rachid Ammar eine entscheidende Rolle. Die Gefahr, dass die Revolution gekapert wird, bleibt bestehen. In diesem Sinne brauchen die Reformkräfte eine differenzierte Unterstützung von Europa, aber keine Einmischung, Belehrung oder Erfolgsdruck.

Angesichts der für Juni 2011 geplanten Wahlen zeichnen sich einige Entwicklungen ab: Übergangspremier Mohammed Ghannouchi (nicht verwandt mit Rachid Ghannouchi) hat angekündigt, dass er nicht weiter zur Verfügung stehen wird. Die säkularen liberalen und linken Gruppierungen werden zersplittern. Die moderaten Islamisten werden sich sehr gut organisieren und als politische Kraft etablieren. Ehemalige RCD-Mitglieder werden verschiedene neue Parteien gründen, von liberal bis konservativ (eine Art RCD-Nachfolgepartei à la deutsche PDS ist denkbar). Möglich ist auch eine neue Formation unter dem ehemaligen Außenminister Kamel Morjane, der als ein Hoffnungsträger des progressiven RCD-Lagers galt und auch international geschätzt wurde.

Die Ergebnisse des tunesischen Reformlabors werden aber auch von den weiteren Entwicklungen in den Nachbarländern Algerien und Libyen abhängen. Tunesien ist ein kleines Land, geografisch eingepfercht zwischen zwei autokratischen Riesen, die nur ungern zusehen werden wie sich zwischen ihnen ein liberaler, unabhängiger, demokratischer und prosperierender Staat entwickelt. Ein friedlicher Übergang zu einem demokratischen System in Tunesien ist möglich. Ob das Land den Anstoß für die neue Welle der Demokratisierung – jetzt in der arabischen Welt – gegeben hat, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, aber die Dynamik der aktuellen Bewegung und vor allem der Umsturz in Ägypten deuten darauf hin.

Dr. ISABEL SCHÄFER, Senior Researcher in International Relations und Mediterranean Studies, Humboldt-Universität Berlin, zurzeit in Tunis.

  • 1Für eine ausführliche Beschreibung der Korruptionsfälle des Ben-Ali-Trabelsi-Clans siehe Nicolas Beau und Catherine Graciet: La régente de Carthage: Main basse sur la Tunisie, Paris 2009
  • 2Die drei Kommissionen bestehen aus Juristen, Vertretern der Politik und der Zivilgesellschaft. Im Original: „Haute Commission nationale pour la réforme politique“, „Commission nationale d’établissement des faits sur les affaires de malversations et de corruption“, „Commission nationale des faits sur les abus durant la dernière période“
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 20-25

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