Vom Schmutzfink zum Streber
Peking kann nicht nur auf Kohle setzen – eine Chance für Deutschland
Um ihre dringlichsten Umwelt-, Energie- und sozialen Probleme zu lösen, setzt die neue Wirtschaftsmacht China in ihrer rasanten Aufholjagd auf Technologietransfer und Innovation. Neben den Risiken von Produktpiraterie und Patentverletzungen eröffnen sich damit auch neue Möglichkeiten für deutsche und europäische Unternehmen.
Spätestens bei der Eröffnung der Olympischen Spiele wurde auch der breiten Öffentlichkeit klar, dass China in vielen Bereichen zu den entwickelten Ländern aufgeschlossen hat. Seit dem Beginn der Öffnungspolitik Deng Xiaopings vor 30 Jahren hat sich das Land von einem der ärmsten Länder der Welt zum viert-reichsten1 emporgearbeitet. Mit jährlichen Wachstumsraten um die elf Prozent ist China eines der attraktivsten Länder für ausländische Direktinvestitionen. Dieses Jahr wird es sogar Deutschland als Exportweltmeister ablösen.
China setzt dabei auf Zukunftstechnologien der Informations- und Telekommunikationstechnik, der Luft- und Raumfahrt, aber auch auf neue Technologien zur Energiegewinnung und -effizienz. Das rasante Wachstum hat eine katastrophale Kehrseite, die Investitionen jedoch zusätzlich antreibt: In der vormals egalitären Gesellschaft Chinas ist die Schere zwischen Arm und Reich stärker auseinandergegangen als in den meisten anderen. Die Umweltverschmutzung und Ignoranz ihr gegenüber verschlechtern die Situation für die Armen noch zusätzlich. Bei einem Gini-Index2 von 45 besitzen die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung ganze 80 Prozent des Gesamteinkommens. Währenddessen leben vor allem in ländlichen Gebieten über 21 Millionen Chinesen unter der absoluten Armutsgrenze. Rund 200 Millionen Wanderarbeiter – soviel wie die Bevölkerung von Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen – haben auf der Suche nach Arbeit ihre Dörfer verlassen. Inzwischen drängen sich rund 90 Prozent der Bevölkerung auf einem Drittel der Fläche Chinas zusammen. Um die 340 Millionen Chinesen haben keinen Zugang zu ausreichender Wasserversorgung, mehr als zwei Drittel aller Flüsse und Seen sind verschmutzt. Und die sich ausbreitenden Wüsten sind inzwischen doppelt so groß wie das nutzbare Ackerland. Um den sozialen Spannungen entgegenzuwirken, muss die chinesische Regierung Lösungen für diese Probleme finden, wenn sie weiter Mittel und Möglichkeiten bereitstellen und ihre eigene Macht erhalten will. Um das Wirtschaftswachstum dabei nicht zu gefährden, muss sie die Energie- und Rohstoffzufuhr sichern und technologische Entwicklung fördern.
Kredite ohne Konditionen
Als „Werkbank der Welt“ verbraucht die Industrie in China enorme Mengen an Rohstoffen und Energie. Seit 1990 ist der Energieverbrauch um mehr als 70 Prozent gestiegen. Im letzten Jahr hat China die USA als größter CO2-Verschmutzer abgelöst. Nach wie vor dominieren fossile Energieträger den nationalen Energiemix – zwei Drittel entfallen auf Kohle, ein Viertel auf Öl und nur elf Prozent auf erneuerbare und nukleare Energien. Zur Sicherung der Energiezufuhr setzt die chinesische Regierung auf mehrere Optionen: Neben Investitionen in erneuerbare Energien wird pro Woche ein neues Kohlekraftwerk gebaut; die Anzahl der Atomkraftwerke soll in den nächsten Jahren von elf auf 40 ansteigen. Fünf sind derzeit schon im Bau. Gleichzeitig wird durch eine aktive Energie-Außenpolitik versucht, sich Exklusivzugänge zu Öl- und Rohstoffvorkommen zu sichern. Dazu kooperiert die chinesische Regierung mit international geächteten Machthabern in Ländern wie Simbabwe oder dem Sudan. Diese „Kredite ohne Konditionen“ für große Infrastrukturprojekte ohne Auflagen bei Menschenrechten oder Good Governance werden vor allem von der westlichen Welt kritisiert. China rechtfertigt sich, dass es als „latecomer“ auf dem internationalen Energie- und Rohstoffmarkt nicht wählerisch sein kann. Die Präferenz von teuren Exklusivzugängen wird verstärkt durch ein Misstrauen der chinesischen Seite, die „westliche Welt“ könnte China die Energiezufuhr auf dem Weltmarkt aus politischen Überlegungen abschneiden. Theoretisch könnten die im Land befindlichen Steinkohlevorräte den Entwicklungsbedarf der nächsten 100 Jahre abdecken. Diese Belastung hielte allerdings unsere Erde nicht aus. Bereits heute sind drei Viertel aller chinesischen Städte hochgradig verschmutzt. Von den 20 Städten der Welt mit der schlimmsten Luftbelastung liegen 16 in China. Jährlich sterben 750 000 Menschen an den Folgen der hohen Umweltbelastung.
Neue Technologien als Lösung
Bei der Suche nach Lösungen für die gewaltigen Herausforderungen setzt China auf eine doppelte Strategie: Technologietransfer sowie Forschung und Entwicklung. Gemäß dem Motto, dass Technologie, die das Wirtschaftswachstum eines Landes nach vorne bringt, nicht auch dort entstanden sein muss (siehe den Beitrag von Martin Jänicke und Klaus Jacob), folgt China zum Teil dem Beispiel Japans des „Reverse Engineering“ aus den 1950er und 1960er Jahren. Ein Großteil der Technologie wird direkt durch Joint Ventures bezogen. Auch durch die Bedingung, Entwicklungslabore vor Ort zu etablieren und lokale Zulieferer zu nutzen und auszubilden, kommt es zu freiwilligem, aber auch zu erzwungenem Technologietransfer. Bei letzterem scheinen der Kreativität erst langsam Grenzen gesetzt zu werden. Darüber hinaus fördert China beharrlich die eigene Innovationskraft und erhöht die Mittel für Forschung und Entwicklung (F&E). Bis zum Jahr 2020 wird China 2,5 Prozent seines BIP für F&E ausgeben. Damit schneidet das Land auch im Vergleich mit der EU besser ab: Die EU wird ihr selbst gestecktes Ziel, die F&E-Ausgaben bis zum Jahr 2010 auf drei Prozent des BIP zu erhöhen, vermutlich verfehlen. Die Ausgaben betrugen 2006 nur 1,84 Prozent und sind sogar rückläufig. Nach Sicht der OECD steigt China gerade zum zweitgrößten Investor in Innovationen nach den Vereinigten Staaten auf. Im entsprechenden nationalen „Science and Technology Plan 2020“ nennt die chinesische Regierung elf Schlüsselindustrien. Sie betreffen zentrale Themen wie Energie- und Wasserressourcen, Umwelt, Informations- und Kommunikationstechnologien, Verkehr, öffentliche Sicherheit und die nationale Verteidigung.
Vor allem in der Umwelttechnologie bieten sich dabei vielversprechende Felder zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland bzw. der Europäischen Union und China. In einem erstmals veröffentlichten nationalen Aktionsplan zum Klimawandel betonte die chinesische Regierung, dass ihre Ziele –„weniger Emissionen, mehr Absorption, mehr Recycling“ – nur durch internationale Technologiepartnerschaften erreicht werden können. Bis 2010 soll der Energieverbrauch pro BIP-Einheit um 20 Prozent fallen. Vor allem um den CO2-Ausstoß bei der Produktion zu verringern, sucht China bei den alten Industrieländern finanzielle und technologische Unterstützung. Gefordert wird ein Transfer hoch entwickelter Umwelttechnologie – ein Vorzeichen für den Streit, wer die Kosten für den globalen Kampf gegen den Klimawandel tragen soll.
Die chinesische Regierung investiert in erheblichem Umfang in F&E. Jedoch wird laut einer Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2007 China auch in absehbarer Zeit auf Technologietransfer aus dem Ausland angewiesen sein. Die Hürden auf dem Weg zur Hochtechnologienation sind systemisch: Trotz eines Anstiegs der Erfindungen bleiben die wirtschaftlich messbaren Ergebnisse hinter den Erwartungen; innovative F&E-Arbeit findet – von Regierungsseite initiiert und gesteuert – hauptsächlich in staatlichen Forschungseinrichtungen statt. Nur 24 Prozent der mittleren und großen Industrieunternehmen haben eigene Entwicklungsabteilungen. In deutschen Unternehmen sind es 60 Prozent.
Dieser zeitliche Aufschub muss in Deutschland genutzt werden, um langfristig konkurrenzfähig zu bleiben: Dazu muss mehr in Bildung und Forschung investiert werden. Um von den gewaltigen Entwicklungschancen des chinesischen Marktes und den ansteigenden F&E-Budgets zu profitieren, wird Technologietransfer unausweichlich bleiben. Um diesen abzusichern, muss die Politik auf faire Wettbewerbsbedingungen drängen, insbesondere, was Marktzugang, Rechtssicherheit und Produktzertifizierung angeht – inklusive der Freiwilligkeit des Technologietransfers.
Deutschland steht in einer guten Position – als größter Handelspartner Chinas innerhalb der EU, als Vorreiter in Sachen Klimapolitik und Umwelttechnologien und als langjähriger Partner Chinas, der durch umfassende Entwicklungspolitik seit 1981 eine tragfähige Grundlage geschaffen hat. Zur Zusammenarbeit mit China gibt es keine Alternative, vor allem nicht zur Erkenntnis, dass China ein Wettbewerber wird.
Dr. MAY-BRITT U. STUMBAUM ist Thyssen Fellow des Weatherhead Center, Harvard, und Associate Fellow der DGAP.
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 48 - 51