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02. März 2018

Preis der Vernetzung

Konnektivität zählt im Verhältnis zu Asien viel. Noch hat die EU keine Strategie

Chinas Belt-and-Road-Initiative verändert die Welt, bevor das gigantische Projekt konkrete Formen annimmt. Die EU kann es sich nicht leisten, die damit zusammenhängenden Konnektivitätsfragen zu ignorieren oder die eigenen Werte über Bord zu werfen. Oberstes Ziel muss sein, beim Schreiben der neuen Spielregeln mit am Tisch zu sitzen.

Sie ist die ehrgeizigste geoökonomische Vision der Gegenwart: Die Belt-and-­Road-Initiative (BRI) des chinesischen Präsidenten Xi Jinping soll 70 Länder miteinander verknüpfen, die zwei Drittel der Weltbevölkerung und 40 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts ausmachen. Die dafür angekündigten chinesischen Investitionen belaufen sich auf fast vier Billionen Dollar. Ob auf dem Landweg durch Zentralasien oder auf Seewegen durch Südostasien und Afrika: Alle BRI-Routen zielen auf die Entwicklungspotenziale der durchquerten und anliegenden Länder und nicht zuletzt auf den europäischen Markt – denn die neue Seidenstraße endet in Duisburg, dem größten Binnenhafen der Welt.

Bei diesem Megaprojekt geht es aber nicht nur um Infrastrukturprojekte: Es geht um neue Normen, neue Abhängigkeiten, neue Einflusssphären, eine neue Ordnung zwischen Asien und Europa und für die Welt. „China glaubt, dass die Zeit gekommen ist, unsere eigenen Ideen zur ‚global governance‘ einzubringen“, brachte es der ehemalige chinesische Vize-Außenminister He ­Yafei Mitte Januar auf den Punkt.1

Die BRI kommt mit einem eigenen „Regelwerk“: intransparente Auftragsvergaben, Kreditgewährung gegen strategische Zugänge, Berücksichtigung chinesischer Kerninteressen von der Ein-China-Politik bis zur Einschränkung der Pressefreiheit. Es geht um viel Geld, um Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und vor allem um Konnektivität – darum, alles mit allem zu verbinden. Damit wird nicht nur das Handelsumfeld für europäische Firmen neu geformt, auch für die europäische Politik werden neue Spielregeln auf internationaler Ebene und für die europäische Nachbarschaft aufgestellt.

Europas Politiker reagieren darauf bislang ganz unterschiedlich. Osteuro­päische Regierungschefs aus Ländern wie Ungarn und Polen unterstreichen ihre Unterstützung für China. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron machte dagegen Anfang Januar während seiner China-Reise klar, dass die neue Seidenstraße in beide Richtungen funktionieren und auf Kooperation basieren müsse: „Diese Verkehrswege können nicht Teil einer neuen hegemonialen Ordnung sein, die die Anrainerstaaten zu Vasallen macht.“2

In Westeuropa gehen so manche vorsichtig auf Distanz. Noch im April 2017 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch von Außenminister Wang Yi Deutschlands Unterstützung für die BRI ausgedrückt. Doch nur einen Monat später beim Belt-and-Road-Forum Mitte Mai 2017 in Peking verweigerten die 28 EU-Staaten die Unterschrift unter eine gemeinsame Handelserklärung, da diese keine Aussagen zu Transparenz, sozialer und umweltverträglicher Nachhaltigkeit enthielt – sehr zur Überraschung der chinesischen Seite, die mit dem Treffen von 29 Staats- und Regierungschefs sowie Vertretern aus 130 Ländern und von 70 internationalen Organisationen den Anspruch auf globale Führung unterstreichen wollte. Auch die britische Premierministerin Theresa May, Anfang Februar auf China-Besuch, verweigerte eine unkritische Unterstützungserklärung für die BRI und verwies auf die Notwendigkeit, dass die Initiative „internationale Standards“ einhalten müsse.

Europäische Unternehmen schwanken zwischen Optimismus und Zurückhaltung: Für viele ist die neue Seidenstraßen-Initiative noch undurchsichtig. Sie hegen Zweifel an der Nachhaltigkeit der ­Initiative und fragen sich, ob sich diese angebliche „Win-win-Situation“ nicht vornehmlich für die chinesische Seite auszahlen wird – laut dem amerikanischen Center for Strategic and International Studies (CSIS) sind bisher 89 Prozent aller Aufträge an chinesische Firmen gegangen.

Andere Unternehmen, vor allem in der Logistikbranche, sind zuversichtlich und stellen sich neu auf: Im Jahr 2008 fuhr der erste Zug von Peking über ­Ulaanbaatar nach Hamburg, 2016 waren es bereits über 500. Tendenz: weiter steigend. Die neue Verbindung bietet schnellere Alternativen zur Schifffahrt und billigere zum Cargo-Transport mit dem Flugzeug. Der Zusammenschluss der drei niederländischen Unternehmen Royal Wagenborg, H.Essers und KLG Europe zu „New Silkway Logistics (NSWL)“ Mitte 2016 für die 11 000 Kilometer lange Strecke des Chongqing–Khorgos–Brest–Duisburg-­Express zeugt davon, dass viele Unternehmen hier auch große Chancen sehen.

Zugang zum Zukunftsmarkt

Worum geht es bei der neuen Seidenstraße und dem mit ihr eng verknüpften Thema Konnektivität? Es geht um Wettbewerbsfähigkeit, um Zugang zu neuen Märkten und zu Innovationen. Asien ist der Zukunftsmarkt für digitale, disruptive Technologien – nirgendwo sonst gibt es eine so große Zahl an potenziellen Internetnutzern: Nur 37 Prozent der asiatischen Bevölkerung sind bislang online, verglichen mit 77 Prozent der Europäer. Schon jetzt ist Asien-­Pazifik die wichtigste Handelsregion der EU. 2016 betrug das europäische Handelsvolumen mit der Region fast das Dreifache des Handels mit Nordamerika. „Diplomacy by Infrastructure“ lautet das Schlagwort, unter dem der Wettbewerb um den Ausbau von Exportwegen, Marktöffnungen, strategischen Zugängen und politischem Einfluss in einem Großraum läuft, der von Nord­ostasien bis Südeuropa reicht; ein Wettbewerb auch um Normen, Werte und Machtverteilung – wer zahlt, schafft an. Konnektivität ist dabei der Schlüsselbegriff – nicht nur Güter, sondern auch Energieströme, Kommunikationswege und Menschen sollen verstärkt miteinander verbunden werden.

Die Chinesen treffen mit der BRI einen Nerv in Asien. 2010 schätzte das Institut der Asiatischen Entwicklungsbank den voraussichtlichen Investitionsbedarf der asiatischen Entwicklungsländer für nationale und regionale Infrastruktur auf jährlich bis zu 776 Milliarden Dollar – mit einer Finanzierungslücke von acht Billionen Dollar bis zum Jahr 2020. OECD und World Pensions Council taxierten 2016 den Bedarf der Länder ohne China sogar auf 900 Milliarden Dollar pro Jahr; die tatsächlichen ­Infrastrukturinvestitionen erreichen gerade einmal die Hälfte.

Peking ist nicht allein

Im Wettbewerb um Einfluss und Normensetzung treiben auch Japan, Indien, Russland und Südkorea eigene Konnektivitätsinitiativen voran. Moskau hat die Eurasische Wirtschaftsunion ins Leben gerufen, Südkorea präsentierte 2013 eine eigene Eurasische Initiative, deren „Silk Road Express“-Projekt ­Logistik, Kommunikationstechnologie und Energienetzwerke zwischen der koreanischen Hafenstadt Busan und Europa stärken will. Indien stellt sich offiziell gegen die BRI und konzentriert sich auf eine bessere Vernetzung innerhalb Indiens und Südasiens. Gemeinsam mit Bangladesch, Bhutan, Myanmar, Nepal, Sri Lanka und Thailand unterstützt es die „Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation“.

Japans Premierminister Shinzo Abe lancierte als Antwort auf die BRI bereits im Mai 2015 Partnerschaften für Qualitätsinfrastruktur – Programme im Wert von 200 Milliarden Dollar zur Förderung asiatischer Infrastrukturprojekte insbesondere im Handelskorridor zwischen dem Golf von Bengalen und dem Südchinesischen Meer. Und auch Trumps USA sind aufgewacht: Keine Macht könnte die Welt auf nur eine Straße oder nur einen Gürtel zwingen, erklärte Außenminister Rex Tillerson. Zugleich verstärkte Washington den Druck auf Partner, die BRI nicht anzuerkennen.

Allerdings lockt Peking mit viel Geld: mit einem Seidenstraßen-Fonds in Höhe von 40 Milliarden Dollar, mit 25 Milliarden Dollar für die maritime Seidenstraße und weiteren 41 Milliarden für die Neue Entwicklungsbank, die 2014 von den BRICS-Staaten gegründet wurde. Diese will fast 900 Milliarden Dollar in über 900 Seidenstraßen-Projekte stecken; die Asiatische ­Infrastruktur-Investmentbank (AIIB) hat 100 Milliarden Dollar an Krediten in Aussicht gestellt. Zusätzlich dürfte die chinesische Regierung innerhalb der nächsten zehn Jahre bis zu eine Billion Dollar für staatliche Finanzierungen im Ausland mobilisieren. Bei allen Superlativen bleiben Bedenken über neue Abhängigkeiten, riskante Routen durch unsichere Gebiete und mangelnde Nachhaltigkeit der Riesenprojekte – vor allem aus europäischer Sicht. Viele Projekte wurden weder auf Wirtschaftlichkeit noch auf Umweltverträglichkeit geprüft.

Auch hält sich bei europäischen Firmen hartnäckig der Eindruck, dass die chinesische Seite bei BRI-Projekten vor allem bestrebt ist, den eigenen Firmen mit staatlicher Unterstützung bei der Internationalisierung und damit vor allem der eigenen, sich abkühlenden Volkswirtschaft zu helfen. Der Ausbau der Land- und Seerouten sowie der weniger häufig genannten digitalen bzw. Informations-Seidenstraße ermöglicht es China, seine Überproduktion in neue Märkte umzulenken. Inwiefern die chinesischen Garantien für private Investitionen auch für nichtchinesische Projektpartner gelten, ist unklar. Europäische Firmen wollen vor allem wissen, welche Spielregeln gelten.

Umkämpfte Routen, schwelende Konflikte

Weitere kritische Faktoren sind bestehende Territorialkonflikte entlang der Streckenverbindungen und die punktuell prekäre Sicherheitslage in den Gebieten, durch die die BRI-Routen verlaufen sollen. Russland und Kasachstan garantieren bisher die Nutzung ihrer Territorien. Länder aber, deren Beziehungen zu China historisch und aktuell belastet sind – wie Vietnam und Indien – boykottieren die BRI.

Die Konfrontation in Doklam, einem zwischen China und Bhutan umstrittenen Gebiet, vom Sommer 2017 gab einen ersten Vorgeschmack: Indisches Militär unterstützte Bhutan gegen eine von chinesischer Seite vorangetriebene Straße. Der Verlauf des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors durch das zwischen Indien und Pakistan umkämpfte Kaschmir ist ein weiterer neuralgischer Punkt der neuen Seidenstraße. Chinas Unterstützung für Pakistan hat die ­sino-indische Rivalität wieder heftig entfacht; Experten in Peking diskutieren seit neuestem, ob nicht Indien statt Japan die zweitgrößte Bedrohung Chinas nach den Vereinigten Staaten sei. Umgekehrt besteht die starke Vermutung, dass der pakistanische Gwadar-Tiefseehafen, den Peking als Teil des 50 Milliarden Dollar schweren „China-Pakistan Economic Corridor“ baut, ein militärischer Stützpunkt für die chinesische Marine wird.

Noch stärker aber treibt die Schuldenfrage kritische Beobachter um. Neben privaten Firmen gehen auch Staaten gegenüber China enorme Kreditverpflichtungen ein – und begeben sich damit in mögliche Schuldenabhängigkeiten: Anders als Bretton-Woods-Institutionen wie Weltbank oder Internationaler Währungsfonds verlangt Peking als Sicherheiten unter anderem den Zugang zu Ressourcen und strategisch relevanten Häfen sowie die Durchführung der Projekte durch chinesische Arbeiter und Firmen. So bleibt die Wertschöpfung in chinesischer Hand, die Risiken verbleiben im Schuldnerstaat. Sri Lanka ist das jüngste Beispiel dieser effektiven Schuldenfallendiplomatie: Nachdem das Land seine enormen Kreditschulden im Dezember 2016 gegenüber China nicht mehr bedienen konnte, musste es Peking seinen strategisch wichtigen Hafen Hambantota für 99 Jahre überschreiben.

Der höchste indische Diplomat Vijay Keshav Gokhale rief im Januar beim Raisina-Dialog in Neu-Delhi ausdrücklich nach europäischer Hilfe: Schwache Staaten entlang der BRI könnten sich nicht gegen die Regeln des Kreditgebers durchsetzen. Mit anderen Worten: Wer die Infrastruktur baut, lenkt auch das Land – und schafft damit immer stärker abhängige Staaten in Europas Nachbarschaft und in Europa selbst.

Die Spielregeln werden neu geschrieben

Trotz aller Bedenken schafft die BRI bereits Fakten – und Europa kann es sich nicht leisten, nur am Rande zu stehen, wenn die Spielregeln neu geschrieben werden und die internationale Ordnung verändert wird. Niemand profitiert von einem regelbasierten, multilateralen System bisher so sehr wie die Europäer – sowohl im Handel als auch in der Politik. Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten fehlt den Europäern ein starker Partner, um diese liberale internationale Ordnung zu schützen. Deshalb heißt es für Europa: dabei sein, um mitzugestalten. Bei Konnektivität geht es nicht nur um Logistikprojekte, sondern auch um Jobs, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Standards, Nachhaltigkeit – um die Spielregeln für die internationale Kredit- und Auftragsvergabe ebenso wie für die internationale Politik.

Im Ringen um gemeinsame, international anerkannte Standards forcieren die Europäer Konnektivität aktiv auf internationalen Plattformen wie dem Asia-Europe Meeting (ASEM), an dem 53 Länder teilnehmen. Hier wurde im Juni 2017 auf Bestreben der EU und ihren Mitgliedstaaten eine gemeinsame Definition für Konnektivität gefunden; bis zum Regierungsgipfel im Oktober 2018 in Brüssel wird noch weiter über Standards und Nachhaltigkeit diskutiert werden. Länder wie Indien drängen auf gemeinsam beschlossene, internationale Standards – aber auch kleinere Staaten, die sich in der bislang bilateral ausgerichteten BRI einem übermächtigen China gegenübersehen. Gleichzeitig hat die Volksrepublik ein Interesse, durch multilaterale Abmachungen internationale Legitimation für ihre Initiative zu gewinnen und diese in internationalen Organisationen zu verankern.

Brüssel bemüht sich derweil um Einigkeit innerhalb der EU. Der Euro­päische Auswärtige Dienst (EAD) hat die verschiedenen bestehenden Konnektivitäts­initiativen aller EU-Mitgliedstaaten und -Programme zusammengetragen und, auf knappen 16 Seiten zusammengefasst, zur Diskussion gestellt („Euro-Asian Connectivity Mapping Exercise“, 23.11.2017). Gleichzeitig sucht die Europäische Union den Austausch mit der Wirtschaft, um Herausforderungen und Chancen multinationaler Projekte in den Bereichen Logistik, Transport, Digitales und Energie in den Verhandlungen über Standards, Nachhaltigkeit und Normen realistisch abzubilden. Doch eine einheitliche ­Linie ist bislang nicht zu erkennen.

Beim 16+1-Gipfel im November 2017 in Budapest wurden die mittel- und osteuropäischen Staaten auf die BRI eingeschworen. Bereits jetzt lässt sich ein chinesischer Einfluss auf EU-interne Diskussionen feststellen – auch auf Konflikte, bei denen es um die chinesische Vorgehensweise bei Kredit- und Auftragsvergaben und den europäischen Regeln für öffentliche Aufträge geht. Eines der BRI-Leuchtturmprojekte in Osteuropa – eine Bahnlinie zwischen Belgrad und Budapest – ist derzeit in der Schwebe, bis eine EU-Untersuchung darüber abgeschlossen ist, ob es einen Regelverstoß bei öffentlichen Ausschreibungen gegeben hat. Sollte am Ende stehen, dass sich China auf EU-Territorium nicht an EU-Regeln halten muss, wäre das ein Präzedenzfall von enormer Wirkung.

Die EU muss hier tragfähige Alternativen zu den chinesischen Angeboten suchen – und das stete Gespräch. Letztlich geht es darum, den chinesischen Kreditversprechen etwas entgegenzusetzen. Zugleich muss klar sein, dass auch EU-Geld nicht selbstverständlich fließt, sondern ein Miteinander und das Einhalten einer Außenlinie Bedingungen sind. Wichtig ist aber auch, dass Europa auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene mitspielt, denn der Bedarf an Konnektivität ist groß und muss erfüllt werden. Europa muss sich weiterhin in internationalen Foren für allgemeingültige Standards einsetzen und dabei proaktiv vorgehen. Es muss mit China und den anderen Staaten Lösungen suchen, nicht gegen sie. Sonst wird es keine europäisch mitbestimmten Spielregeln geben. Die ersten Schritte sind getan, die Richtung stimmt. Jetzt gilt es, beharrlich und europäisch selbstbewusst mitzuspielen in dieser neuen Welt.

Dr. May-Britt Stumbaum leitet die NFG Research Group „Asian Percpetions of the EU“ an der FU Berlin und ist Team Leader des „Asia-Pacific Research and Advice Network“ der EU. Der Artikel gibt ihre persönliche Meinung wieder.

  • 1George Parker: Theresa May declines to endorse China’s Belt and Road initiative, ­Financial Times, 29.1.2018.
  • 2Zitiert nach „China’s new Silk Road cannot be ‚one-way‘“, The Straits Times, 9.1.2018.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 18 - 23

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