Virtueller Erfolg
Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung
Die Afghanistan-Strategie des Westens beruht auf der Erkenntnis: Es gilt, die selbsttragende Sicherheit der Bevölkerung zu schaffen. Ohne Zweifel kann dies auch gelingen. Doch der globale Terrorismus ist damit nicht zu bekämpfen. Dank moderner Technologien gleicht er dem Betriebssystem Linux: dezentral, selbst rekrutiert, nicht zu schlagen.
Die Afghanistan-Strategie der amerikanischen Regierung sowie der NATO geht von der Annahme aus, das Problem des Terrorismus werde an der Wurzel gepackt. Diese Prämisse – nämlich den Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan zu führen, um ihn nicht in Amerika führen zu müssen – hat Präsident Barack Obama von seinem Vorgänger George W. Bush übernommen. In der deutschen Afghanistan-Politik baut Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls auf dem griffigen Diktum ihrer Vorgängerregierung auf, dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Schwächen dieser Sichtweise blieb jedoch aus. Welche Wirkung hätte es auf den globalen Terrorismus, wenn die NATO in Afghanistan erfolgreich wäre? Dass dieses Szenario derzeit unwahrscheinlich ist, macht die Frage nur noch dringlicher. Denn stimmen die Annahmen überhaupt, auf denen die Aufstandsbekämpfung und die Afghanistan-Strategie der westlichen Verbündeten beruhen? Oder haben moderne Informationstechnologien, im Verbund mit neuen Ideologien, nicht vielmehr veränderte Voraussetzungen für politische Gewalt geschaffen?
Menschliches Terrain
Nach dem Regierungswechsel in Washington wurden allenfalls kleinere Korrekturen der Afghanistan-Strategie vorgenommen. Der Grundgedanke blieb erhalten: Oberste Priorität sei Bevölkerungssicherheit, „population security“, verklausuliert als „vernetzte Sicherheit“ im Jargon der Bundesregierung. Die heutige amerikanische Strategie der Aufstandsbekämpfung geht davon aus, dass die Sicherheit der lokalen Zivilbevölkerung entscheidend ist. Nicht mehr überwältigende Kampfkraft und ausreichende Gefängniskapazitäten stehen im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen, Vertrauen aufzubauen, stabile Regierungsführung zu unterstützen, zivilen Wiederaufbau zu leisten. Die US-Landstreitkräfte sind nach dieser Kehrtwende gewissermaßen mit kräftigen Schritten an allen ihren Verbündeten vorbeimarschiert: Ausbildung, Ausrüstung und Einsatzdoktrin für jene „bevölkerungszentrierte“ Art der Operationsführung sind wesentlich fortschrittlicher als die der Deutschen. Selbst britische Offiziere vom Fach merken mit Hochachtung an, dass die amerikanischen Landstreitkräfte heute in der Aufstandsbekämpfung führend sind.
Die konzeptuell-doktrinäre Grundlage für diesen Sinneswandel ist die Annahme, dass erfolgreiche Aufstandsbekämpfung einen Wettbewerb darstellt. Die Aufständischen und die Aufstandsbekämpfer befinden sich nach dieser Logik in einem Konkurrenzkampf um das Vertrauen und die Unterstützung der neutralen Zivilbevölkerung. Wer die Bevölkerung für sich gewinnt, der gewinnt letztlich den Krieg. Die Bevölkerung ist, in den Worten der US-Streitkräfte, das entscheidende „menschliche Terrain“, auf dem die militärischen Operationen erfolgreich sein müssen. Moderne Landstreitkräfte müssen daher in der Lage sein, „unter den Menschen“ zu operieren, wie der britische General und Autor Rupert Smith zu bedenken gab.1 Das bedeutet: Kenntnis der lokalen Stammesstrukturen, der Sprachen, der Kulturen, längere Standzeiten, raus aus den gepanzerten Fahrzeugen, weniger Waffen, mehr Projektgelder in den Taschen, Projekte betreuen, Tee trinken mit Scheichs und Bürgermeistern.
Die historischen Ursprünge dieser Sichtweise reichen zurück bis in die französischen Kolonialkonflikte des 19. Jahrhunderts. In Algerien, im Westsudan, in Tonkin und in Madagaskar am Ende des 19. Jahrhunderts sahen sich französische Offiziere mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Dort haben Joseph-Simon Galliéni und Hubert Lyautey bereits jene taktisch-operative Doktrin entwickelt, die von amerikanischen Offizieren im 21. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. „Der Pirat“, wie Aufständische damals genannt wurden, „ist eine wilde Pflanze, die nur in gewissen Böden gedeiht“, schrieb Lyautey aus Madagaskar. Und die sicherste Methode, einen Aufstand erfolgreich zu bekämpfen, sei „das Terrain unfruchtbar“ zu machen. Damit meinte der legendäre Marshall nicht den Einsatz von harscher Gewalt. Im Gegenteil: Indem Sicherheit garantiert, sowie Organisation und Administration gewährleistet würden, „sollten wir die Bevölkerung zu unserem wichtigsten Verbündeten machen“.2 Dieser Gedanke war Grundlage für die so genannte Ölfleck-Methode, die Galliéni als die „fruchtbarste“ bezeichnete. Sie bestünde darin, „schrittweise neue Gebiete an der Front zu gewinnen, jedoch erst dann, wenn die hinteren Gebiete organisiert und administriert sind“. Die sicheren Gebiete sollten sich also ausbreiten wie ein Ölfleck auf einer Wasserfläche. Erst im Juni 2009 hat das „Center for a New American Security“, ein einflussreiches neues Beratungs-institut in Washington, den „Ölfleck“ als Erfolgsrezept für Afghanistan und Pakistan empfohlen.
David Galula, ein französischer Oberstleutnant und Gast der RAND Corporation, veröffentlichte 1964 ein schmales Buch, das die französischen Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert prägnant auf Englisch zusammenfasste.3 Nicht von ungefähr wurde es 2006 neu aufgelegt. Schließlich hat Galula die in Afghanistan geltende Militärdoktrin und das vom Kommandeur des US Central Command David Petraeus und dessen Team entwickelte, äußerst wichtige Feldhandbuch „FM 3-24 Counterinsurgency Warfare: Theory and Practice“ entscheidend geprägt.4 Dabei ist der meist zitierte Autor dieses Handbuchs nicht einmal Galula selbst, sondern Mao Tse Tung, dessen Werk ebenfalls das Volk, jene „Bastion aus Eisen“, in den Mittelpunkt stellt. Maos berühmte Metapher vom Partisanen, der sich zum Volk verhält wie der Fisch zum Wasser, ist jener Galliénis und Lyauteys freilich analog. Aber das Bild von tiefen Wassern, vom fruchtbaren Boden oder „menschlichem Terrain“ ist sehr fragwürdig geworden als Leitvision für die heutige Terrorismusbekämpfung.
Das flache Ende
Wer politische Gewalt im 21. Jahrhundert verstehen will, muss sich von den Analogien des 19. Jahrhunderts verabschieden. Zunächst sollte begrifflich zwischen Terrorismus und Aufstandsbewegungen unterschieden werden. Militante Gruppen, die ein politisches Ziel verfolgen, können Terrorismus als Mittel nutzen. Terror ist dabei ein erprobtes Instrument, um die Autorität und die Legitimität des Staates zu unterhöhlen. Wenn die militante Bewegung einen potenten politischen Beweggrund anführt, kann sie breite und tiefe Unterstützung in der Bevölkerung mobilisieren und schließlich am politischen Prozess teilnehmen oder eine Machtübernahme anstreben. Hamas oder Hisbollah sind einen solchen Weg gegangen. Der globale dschihadistische Terrorismus funktioniert anders. Die politische Gewalt Al-Kaidas folgt einer neuen Produktionslogik: Sie ist offen, dezentral, selbstmotiviert, teilweise selbstrekrutiert, aber letztlich hoch spezialisiert und in ihren Möglichkeiten stark beschränkt. Neue Technologien haben im Verbund mit neuen Ideologien einen Keil zwischen Aufstandsbewegungen und Terrorismus getrieben. Die Eintrittsbarriere für militante Gruppen ist gesunken, während die Schwelle zur politischen Machtübernahme angehoben wurde. Terrorismus hat sich also gewissermaßen an dem flachen und extremen Ende einer gesellschaftlichen Nachfragekurve politischer Beweggründe festgefressen.
Dagegen ist die westliche Gegenstrategie auch in ihrer aktualisierten Form auf einen Gegner ausgelegt, der auf ein tiefes Volumen an Unterstützung in der Bevölkerung angewiesen ist. Heutige Konflikte sind dabei von der Nutzung moderner Informationstechnologie geprägt. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse, angetrieben durch das Internet und Telekommunikation, sind jedoch nicht auf politische Gewalt und Krieg beschränkt. Im Gegenteil. Die Kausalität hat sich historisch umgekehrt. Neue Trends in der Informationstechnologie haben heute in Gesellschaft und Wirtschaft ihren Ursprung, nicht mehr wie früher im Militärischen. Folglich sind die besten Ideen, um den aktuellen Wandel zu begreifen, nicht aus dem Shah-i-Kot Valley in Afghanistan zu erwarten, sondern aus Silicon Valley in Kalifornien.
Eine dieser hilfreichen Ideen ist das so genannte „flache Ende“ der Nachfragekurve. Der Autor Chris Anderson, Herausgeber des amerikanischen Technologie-Magazins Wired, hat diese Nachfragekurve den „Long Tail“ genannt. Ein Ausschöpfen des tiefen Käufervolumens des Massenmarkts ist zwar weiterhin notwendig für große Unternehmen, um einige aufwändige Produkte profitabel produzieren und vertreiben zu können. Damit stellt das Unternehmen komplexe Produkte her. Und vor allem: Damit stützen sich das Unternehmen und seine Produkte auf eine große Kundenzahl, die tief in die Bevölkerung und die weltweiten Märkte hineinreicht.
Doch viele Unternehmen funktionieren nach einer anderen Logik. In weiten Bereichen haben sich die Produktionsmittel „demokratisiert“. Volumen und Tiefe sind daher nicht mehr Erfolg- und Profitvoraussetzung. Das Internet oder präziser, gesunkene Kosten für Produktion, Werbung, und Vertrieb, haben für eine Reihe von Nischenprodukten das lange, flache Ende der Nachfragekurve profitabel gemacht. Nicht mehr große Stückzahlen von wenigen Produkten sind notwendige Bedingung, auch kleine individuelle Stückzahlen aus einer großen Auswahl von vielen verschiedenen Nischenprodukten können Unternehmen hinreichend zu Umsatz verhelfen. Unternehmen wie iTunes von Apple, Amazon.com, Ebay oder Netflix machen Gewinn, indem sie eine kleine Zahl von bisher schwer zu findenden Produkten an eine sehr große Zahl von Kunden verkaufen. „Plötzlich hatte Popularität nicht mehr das Monopol auf Profitabilität“, so Anderson. Eine Reihe von zusätzlichen Dynamiken haben sich um das Phänomen des flachen Endes herum gebildet: Besonders aus der Software-Industrie ist das Prinzip der Peer-Production bekannt. Es beschreibt, wie Eigenunternehmer, selbst motiviert und rekrutiert, über offene Plattformen an der Entwicklung eines komplexen Produkts teilnehmen. Oft, aber nicht immer, finden solche Entwicklungen mithilfe offener Quellcodes statt (Open Source), die für interessierte Individuen frei zugänglich sind. Das wohl bekannteste Produkt, das auf diese Weise entwickelt wird, ist Linux, ein leistungsfähiges Betriebssystem. Die Anreizsysteme solcher Formen der Zusammenarbeit sind oftmals nicht monetär, ohne jedoch dadurch die Qualität des Produkts herabzusetzen.
Flach, nicht tief
Politische Gewalt im 21. Jahrhundert funktioniert nicht mehr nach hergebrachter Logik. Dschihadistischer Terrorismus, so lässt sich zugespitzt sagen, kann sich heute ähnlicher Produktionslogiken bedienen wie Linux: Al-Kaida hat sich mit einer Nischenstrategie am flachen Ende der politischen Nachfragekurve eingenistet. Dort kann die zunehmende diffuse Bewegung für längere Zeit überleben, ohne jemals oder irgendwo ein tieferes Volumen an politischer Unterstützung zu erlangen. Erfolgreiche Aufstandsbewegungen hingegen folgen weiterhin dem klassischen Modell der tiefen Verankerung – politische Macht letztendlich zu übernehmen, erfordert ein hohes Maß an Organisation, Verwaltungsstrukturen und vor allem eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, Internet hin oder her. Oder zumindest die Möglichkeit, diese breite Unterstützung erlangen zu können. Die Globalisierung, insbesondere die anhaltende Revolution in der Informationstechnologie, hat folglich die Bedingungen für Terrorismus stärker verändert als jene für Aufstandsbewegungen (dazu der Text von Jakub Grygiel auf S. 40 ff.).
Die Literatur über das Internet und modernen Terrorismus füllt heute ganze Regale. Mehrere Blogs haben sich des Themas angenommen.5 Zeitungen berichten regelmäßig über den Terror und das Internet und sogar über Debatten, die sich unter Experten abspielen.6 Aber nahezu alle Analysten sind sich über einige grundsätzliche Einsichten einig: Terroristische Vereinigungen nutzen das Netz nicht nur zur Verbreitung von Propagandamaterial. Wissenstransfer zum Bombenbau und Training, aber auch Ausbildung, Kommunikation, Rekrutierung, Finanzierung, Radikalisierung, all das findet zunehmend eng verzahnt online sowie offline statt. Die Kontroverse beginnt bei dem genauen Ausmaß dieser Entwicklungen, bei der Rolle von Führungsstrukturen und Selbstrekrutierung und bei der Frage, inwiefern „virtuelle“ Trainingslager wirkliche Trainingslager ersetzen können.
Nicht kontrovers dürfte die Feststellung sein, dass Informationstechnologie terroristische Organisationen noch weiter in den Extremismus gedrängt hat. Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist, dass diese Entwicklung die Kosten, Schwächen und auch die Verwundbarkeiten für terroristische Organisationen mit politischen Ambitionen drastisch erhöht hat. Gleichzeitig, und dies ist auf eine gewisse Weise paradox, hat diese Entwicklung den Terrorismus anpassungsfähiger und als extremistisches Phänomen stabiler gemacht. Zugespitzt: Terroristen können nicht mehr gewinnen und nicht mehr besiegt werden. Eine Reihe von Trends sprechen für diese These. Erstens sind die Aktivisten des modernen Dschihad eine bunt zusammengewürfelte Gruppe mit niedriger inhärenter Kohäsion. Europäische Geheimdienste gehen deshalb davon aus, dass das Internet einen vereinenden Charakter hat. Der Verfassungsschutzbericht 2007 hebt hervor: „Die über das Internet verbreitete Propaganda sorgt dafür, dass sich Aktivisten und Sympathisanten des globalen ‚Dschihad‘ als Teil einer einzigen, in sich geschlossenen Bewegung begreifen können, auch wenn Lebenswelten und Handlungsmotive der Beteiligten höchst verschieden sein mögen.“
Der lose Zusammenhalt wird zweitens verdeutlicht durch die Sprachenvielfalt in globalen islamistischen Bewegungen. Al-Sahab, wohl die wichtigste Medienorganisation, die mit Al-Kaida in Verbindung gebracht wird, hat Texte, Reden und Videos in den vergangenen Jahren in mehr und mehr Sprachen zur Verfügung gestellt, nicht zuletzt um die zweite und dritte Generation von muslimischen Immigranten sowie Konvertiten in Europa anzusprechen, die oft nur schlecht oder gar nicht Arabisch sprechen. Der niederländische Geheimdienst nennt Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, aber auch Türkisch, Paschtu, Urdu sowie Russisch. Ziel ist es, frustrierte und gewaltbereite Rekruten aus Randgruppen in möglichst vielen Ländern und Kulturkreisen anzuwerben.
Drittens, eng mit der Sprachenvielfalt verknüpft, ist der hohe Anteil von Ausländern zu nennen. Olivier Roy, einer der führenden Experten des politischen Islam aus Frankreich, hat beobachtet, dass die Al-Kaida-Bewegung einen hohen Anteil von Konvertiten aufweist. Er setzt die Zahl bei 25 Prozent an, „nicht vergleichbar mit irgendeiner anderen islamischen Organisation“.7 Roy sieht Al-Kaida daher als „entkulturalisiert“ an und argumentiert, Dschihadisten hätten sowohl Profil als auch den Kontakt mit lokalen Widerstandsbewegungen verloren – und damit Legitimität. Keine politisch ernstzunehmende Organisation würde so viel Verantwortung an nicht vertrauenswürdige Ausländer abgeben.
Viertens sind die Terroristen im Durchschnitt jünger als noch vor wenigen Jahren. Das Durchschnittsalter der in Europa festgenommenen Dschihadisten sank nach 2005 ab. Am Ende des Jahres 2003 betrug es 26 Jahre. Das Durchschnittsalter der seit 2006 festgenommenen Aktivisten betrug nur 20 Jahre.8 Angesichts dieser Verjüngung muss man davon ausgehen, dass sich die soziale Vertrautheit mit neuen, interaktiven Medien erhöht hat. „Der Radikalisierungs- und Rekrutierungsprozess ist dabei ein in beide Richtungen offener und dynamischer Vorgang“, schreibt das österreichische Innenministerium in seinem Verfassungsschutzbericht. „Das Engagement kann sowohl vom User selbst ausgehen und/oder terroristische Organisationen versuchen, durch Marketing Informationen über den ihre Webseiten durchstöbernden User in Erfahrung zu bringen, um später direkt, via Internet, zu ihm Kontakt aufzunehmen.“ Eine solche schwer zu überblickende Dynamik wäre selbst noch vor wenigen Jahren nicht denkbar gewesen. In der Folge heißt dies jedoch auch: Die Gotteskrieger selbst haben letztendlich keine Kontrolle über die „Mitgliedschaft“ in ihrer eigenen Bewegung. Der Drall hin zum extremen Ende ist strukturell angelegt.
Der wichtigste Punkt, fünftens, bleibt jedoch die brutale Gewalt der Extremisten und die dazugehörige Ideologie. Nach blutigen Anschlägen, etwa in London, reagierte die Mehrheit der britischen Muslime mit Abscheu und Schock. Nur eine verschwindend kleine Zahl zeigte Sympathie für die Brutalität der Anschläge. Terroristische Gewalt polarisiert also. Der Salafismus schöpft frustrierte, junge Männer und seltener junge Frauen von einem gewaltbereiten extremen Rand der Gesellschaft ab und füttert sie mit einer utopischen und realitätsfernen Ideologie ohne Chance auf politische Verwirklichung. Einer der wenigen funktionalen Elemente dieser Ideologie ist es, auf psychologisch diffizile Weise die Toleranz und die Bereitschaft zur Gewalt bei (selbst-)rekrutierten Aktivisten zu erhöhen, etwa indem nichtmuslimische Mitbürger zu Ungläubigen – kaffir – herabgestuft werden und selbst unbeteiligte Muslime durch einen pseudoreligiösen Trick, takfir genannt, exkommuniziert werden. Zusammenfassend profitiert der globale Terrorismus zwar von neuen Technologien. Gleichzeitig ist damit aber auch eine der wichtigsten Schwächen benannt. Der Dschihad hat das verloren, was Carl Schmitt einmal den „tellurischen Charakter“ des Partisanen genannt hat: seine grundsätzlich defensive Verwurzelung.
Entwurzelt
Aus dieser Analyse sind kontroverse Schlussfolgerungen abzuleiten. Einen regionalen Aufstand erfolgreich bekämpft zu haben ist eine Sache — global den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen eine ganz andere. In diesem Licht stellt sich also Peter Strucks Behauptung als Frage neu: wie wird Deutschland am Hindukusch eigentlich verteidigt? Würde eine langfristige erfolgreiche Niederschlagung des Taliban-Aufstands und gleichzeitige Stabilisierung Afghanistans und Pakistans den globalen islamistischen Terrorismus ernsthaft in seiner weiteren Existenz gefährden? (Dazu der Beitrag von Steven Biddle auf Seite 90)
Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Der Dschihadist ist nicht im tiefen Boden verwurzelt, um in Lyauteys Bild zu bleiben, sondern sitzt fest am flachen Ende. Das Problem dabei ist: den Boden „unfruchtbar“ zu machen, wird das flache Ende nicht abschneiden. Neue Technologien sowie neue Ideologien haben den Extremismus in eine Richtung getrieben, die der heute in Afghanistan angewendeten Strategie diametral widerspricht: der moderne Krieg wird nicht nur, wie von Petraeus und seinen intellektuellen Offizieren gern behauptet, mehr als jemals zuvor „unter dem Volke“ geführt. Im Gegenteil. Politische Gewalt ist heute gleichzeitig weniger bevölkerungszentriert als jemals zuvor.
Die Gegenfrage zu stellen ist jedoch ebenso wichtig: Würde ein instabiles und gescheitertes Afghanistan islamistisch motivierter politischer Gewalt nützen? Zweifellos. Jedoch bliebe es sehr wahrscheinlich, dass die globalen Extremisten der Al-Kaida-Bewegung in keinem Staat politische Macht übernehmen würden. Anderes trifft auf erfolgreiche, regional verwurzelte islamistische Aufstandsbewegungen zu, die politisch Erfolg haben können. Hisbollah oder Hamas und auch die Taliban können hier als Beispiele genannt werden. Doch hier ist auf ein wenig beachtetes Paradox hinzuweisen: politischer Erfolg und Stärke bedeuten auch Schwäche und Verwundbarkeit. Wer Macht gewinnt, der kann Macht verlieren. Derzeit verwirkt die westliche Strategie dieses alte politische Druckmittel.
MARC HECKER ist Mitarbeiter am Ifri in Paris. Mit Thomas Rid schrieb er „War 2.0. Irregular Warfare in the Information Age“.
THOMAS RID ist Calouste Gulbenkian Fellow, School of Advanced International Studies, Washington DC.
- 1R. Smith: The Utility of Force. The Art of War in the Modern World, Allen Lane 2005.
- 2Hubert Lyautey: Du rôle colonial de l’armée, Paris 1900, S. 11.
- 3Für eine ausführliche Darstellung siehe Thomas Rid : The 19th Century Origins of Counter-insurgency Doctrine, Journal of Strategic Studies 2009 (im Erscheinen).
- 4David H. Petraeus, John A. Nagl, James F. Amos und Sarah Sewall: The U.S. Army/Marine Corps Counterinsurgency Field Manual FM 3-24, Chicago 2007, S.19.
- 5Als einer der informativsten Blogs sei hier Jihadica erwähnt, betrieben von einer Gruppe von Forschern unter der redaktionellen Leitung von Thomas Hegghammer, http://www.jihadica.com.
- 6Elaine Sciolino und Eric Schmitt: A Not Very Private Feud Over Terrorism, The New York Times, 8.6.2008, auch Bruce Hoffman: The Myth of Grass-Roots Terrorism. Why Osama bin Laden Still Matters, Foreign Affairs, Mai/Juni 2008.
- 7Olivier Roy: The Politics of Chaos in the Middle East, New York 2008, S. 147–149.
- 8Marc Sageman: Leaderless Jihad, Pennsylvania 2008, S. 111.
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2009, S. 46 - 55.