IP

01. Juli 2011

Palästina, und was dann?

Folgen und Risiken einer Anerkennung durch die Vereinten Nationen

Machmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, drängt auf die Anerkennung eines Staates Palästina durch die Vereinten Nationen im September. Doch weder würde damit der Kernkonflikt gelöst noch könnten die Palästinenser einen Vorteil für sich verbuchen. Ganz im Gegenteil.

Die Palästinensische Autonomiebehörde verstärkt ihre Bemühungen um eine Anerkennung eines unabhängigen Staates Palästina durch die Vereinten Nationen im September – sollte es bis dahin nicht zu einer Verhandlungslösung gekommen sein. Mehr als hundert Länder haben angeblich ihre Bereitschaft für eine Anerkennung signalisiert. Frankreich spricht sich dafür aus, Deutschland dagegen, Großbritannien ist unentschlossen, mit Tendenz zur Anerkennung.

Noch ist unklar, wie eine solche Resolution überhaupt formuliert werden könnte. Dessen ungeachtet aber macht Präsident Machmud Abbas Druck: Sollten die UN die palästinensische Forderung nach der Anerkennung eines unabhängigen Staates Palästina zurückweisen, so drohte der palästinensische Spitzenpolitiker recht unverhohlen, „weiß ich nicht, welches der nächste Schritt sein wird, aber er könnte schwierig oder gefährlich werden … eine dritte Intifada ist nicht meine Präferenz“. Lassen wir dieses Gedankenspiel beiseite und stellen stattdessen die wirklich wichtige Frage: Was würde denn passieren, wenn die Vereinten Nationen tatsächlich einen Staat Palästina anerkennen?

Beginnen wir mit zwei Annahmen und betrachten danach drei mögliche Folgen. Erstens: Der Konflikt wird seine existenzielle Dimension behalten. Hardliner auf beiden Seiten, vor allem auf palästinensischer Seite, werden sich mit einem Staat in den Grenzen von 1967 nicht zufriedengeben, ob nun ein Gebietsaustausch stattfindet oder nicht. Siehe Hamas’ erneute Weigerung, Israel überhaupt anzuerkennen, trotz der jüngsten „Einigung“ mit der Fatah. Auch moderate Palästinenser bezweifeln immer stärker die Vorteile einer Zweistaatenlösung. Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Ost-Jerusalem, stellt offen die Frage nach dem Sinn eines palästinensischen Staates.

Kurz: Was auch immer im Herbst geschehen wird, der Konflikt wird nicht enden. Diese Annahme ist eigentlich keine Annahme, sondern eine unumstößliche Tatsache. Aber eine Tatsache, die zu viele Menschen intellektuell und psychologisch offensichtlich nicht hinnehmen können. Warum? Weil ansonsten die Rede von baldigem „Frieden“, von einer „Zweistaatenlösung“ und vom „Endstatus“ allzu schwammig wird. Denn in die aufgeklärte westliche Seele, in Amerika wie in Europa, wurde eines fest eingebrannt: Fortschritt ist möglich, Angefangenes wird gefälligst zu Ende gebracht, Probleme werden angepackt und gelöst.

Treffen wir eine weitere unangenehme Annahme, dieses Mal kontrafaktisch. Gehen wir davon aus, dass es keine Siedlungen mehr gäbe, die über die Westbank verstreut sind. All diese lästigen Siedler würden ihre Sachen packen und aus Ariel, Givat Ze’ev, Gilo und sogar Ma’ale Adumim verschwinden. Natürlich ist das vollkommen unrealistisch, aber eine solche Annahme hilft, zu einer sehr viel nüchterneren Betrachtung zu kommen. Zu viele Beobachter in den USA und Europa sind überzeugt, dass Siedlungen – und allein die Siedlungen – das Haupthindernis für den Frieden und die Errichtung eines palästinensischen Staates sind, nach dem Motto: Sind erst die Siedler verschwunden, dann gibt’s Frieden. Wer die Grundannahme dieses Arguments teilt, der steht moralisch sofort auf der sicheren Seite. Fortschritt bleibt möglich, Frieden ist greifbar, das verflixte Problem ist doch lösbar – wenn nur die Siedler nicht wären. Das Problem dabei ist: Mit der Realität hat all das wenig zu tun. Denn die Grundkonstanten des Konflikts werden von der israelischen Siedlungspolitik nicht entscheidend verändert, nur verdeckt.

Anerkannt, bejubelt – enttäuscht

Es ist also September, es gibt Palästina, der Konflikt geht weiter und wir ignorieren die Siedler. Was dann? Die erste Folge wäre ein erhöhter internationaler Druck auf Israel. Wie stark dieser Druck sein würde, ist schwer zu sagen. In Israel hat die Debatte derzeit leicht paranoide Züge angenommen. Besonders die Rechte verfällt geradezu in Panik, weil die Legitimität des jüdischen Staates aus ihrer Sicht immer weiter untergraben werde. Die jüngsten Wegmarken dieses Legitimitätsschwunds sind der Gaza-Krieg vom Winter 2008/09, der Goldstone-Bericht (bevor Richter Goldstone ihn in einem Meinungsartikel in der Washington Post in Teilen revidierte), die Affäre um die Gaza-Flottille und die Erstürmung des Schiffes Mavi Marmara Ende Mai letzten Jahres. Allerorten wittert die Rechte eine antiisraelische Absicht. Dazu kommt Netanyahus unbeholfene und aggressive Diplomatie. Breite internationale Unterstützung für Palästina im September könnte die offensichtliche Erosion der israelischen Legitimität beschleunigen: Dann nämlich, so würden wohl viele argumentieren, würden die israelischen Streitkräfte illegal einen ganzen souveränen Staat besetzen – nicht nur einen Teil eines Staates, wie im Fall der Golan-Höhen. Das könnte für Israel zum echten Problem werden. Boykotte, diplomatische Isolation, die Möglichkeit, dass im Ausland noch mehr Anklagen gegen israelische Politiker und Offiziere erhoben würden – all dies gibt und gab es zwar schon, könnte aber noch schlimmer und unerfreulicher für Jerusalem werden. Aber eine Sache ist genauso klar: Es würde Israel nicht zu Fall bringen. Was uns zu Punkt zwei führt:

Die zweite wahrscheinliche Folge wäre, nun ja, nicht sehr viel: Der Status quo bliebe mehr oder weniger erhalten. Israels Wirtschaft wird sehr wahrscheinlich weiterhin deutlich stärker sein als die all seiner Nachbarn. Die strittigen Fragen des Konflikts blieben nach wie vor ungelöst: Israel würde wahrscheinlich auf einer militärischen Präsenz im Jordantal bestehen. Es bliebe unklar, wie mit Jerusalem und den heiligen Stätten verfahren würde. Das Rückkehrrecht wird ein kontroverses Thema bleiben. Israels Sicherheitskräfte würden eine gewisse Form von Kontrolle über Palästina behalten, auch um eine ausreichende Sicherheit für den Ben-Gurion-Flughafen herzustellen, der unweit der jetzigen Grenzen von 1967 liegt. Vor allem würde die Hamas weiterhin Gaza beherrschen. Dschihadisten im Gaza-Streifen würden vermutlich weiterhin kleinere Angriffe auf israelische Ortschaften im Süden durchführen. Aber früher oder später würden der israelische Mainstream und sogar die Rechte feststellen, dass ihre schlimmsten Ängste nicht wahr geworden sind.

Das Gegenteil geschähe auf palästinensischer Seite: Der Status quo bliebe mehr oder weniger erhalten, aber die Enttäuschung darüber würde wachsen, angetrieben durch anfängliche laute Jubelfeiern über die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit in den Straßen von Ramallah, Bethlehem und Nablus und womöglich Gaza. Palästina würde vermutlich als ein gescheiterter Staat geboren werden, tief gespalten, weiter besetzt, nicht souverän (wir ignorieren immer noch die Siedler). Palästinensische Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Frieden würden nicht erfüllt – aber jetzt, da der lang ersehnte Staat bereits ausgerufen wurde, hat man sein Pulver in der heißen Luft des Nahen Ostens verschossen. Palästinenser wären nun Bürger mit Erwartungen. Auch die internationale Gemeinschaft würde Fortschritt erwarten. Und die palästinensische Führung in Ramallah müsste sehr schnell begreifen, dass auch ein schwacher Staat an Legitimität verlieren kann. Wie gewöhnlich wird dieser Prozess an den radikalen Flügeln der palästinensischen Gesellschaft beginnen – selbst wenn man vermutlich Israel dafür verantwortlich macht, den Fortschritt zu behindern. Gleichzeitig wird die mittlerweile wohlbekannte Logik ihre Wirkung entfalten: Die palästinensischen Führer müssen die Verantwortung für eine „Aufstandsbekämpfung“ übernehmen, wenn dieser Ausdruck hier gestattet ist, während die radikaleren „Aufständischen“ weiterhin die Legitimität der Regierung im Inneren zu untergraben versuchen. Womit wir schon beim nächsten Punkt wären:

Wir können sicher davon ausgehen, dass die Situation an einer oder mehreren Nahtstellen eskalieren wird, in Gaza, im Norden, in der Westbank, in Israel selbst oder überall gleichzeitig, unabhängig davon, ob es einen palästinensischen Staat gibt oder nicht. Wenn das passiert und wenn der palästinensische Staat mit einbezogen wird, steht wesentlich mehr auf dem Spiel als in der Auseinandersetzung mit der Hisbollah im Sommer 2006 oder während des Gaza-Feldzugs von 2008/09. Wenn in Jerusalem wieder Bomben in Restaurants und Bussen explodieren, wenn Raketen über Tel Aviv niedergehen, wenn ein Passagierflugzeug beim Anflug auf den Ben-Gurion-Flughafen abgeschossen wird, werden selbst skeptische Europäer verstehen, dass Israel keine Alternative hat als entschlossen zu handeln. Aber dann muss es gegen einen Staat vorgehen. Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, kann ein solches Szenario wollen.

Betrachten wir noch einige veränderte Bedingungen. Der israelisch-palästinensische Konflikt war nie so zentral für die Zukunft der Region (und genauso wenig für die Zukunft des Dschihadismus) wie viele westliche Experten der Region lange behauptet haben – in fast unheimlicher Übereinstimmung mit vielen der nun stürzenden Despoten der Region. Der arabische Frühling hatte innenpolitische Gründe in den jeweiligen Ländern. In keiner Weise wurden die arabischen Aufstände vom israelisch-palästinensischen Konflikt angefacht – vermutlich aber trifft der Umkehrschluss zu. Denn die Hamas ist innenpolitisch unter Druck. Die Machthaber in Gaza fürchten auf der einen Seite dschihadistische Extremisten und auf der anderen Seite die moderate Mitte. Beide Seiten fragen: Was haben uns vier Jahre Hamas-Regierung eigentlich gebracht? Die jüngste Angriffswelle auf Israel hatte wohl ein klares Ziel für deren Premier Ismail Hanijeh, nämlich klarzustellen, wer der echte Feind ist. Halten wir fest: Die Hamas handelt aus Schwäche und kann offensichtlich doch eine ihrerseits geschwächte und demokratisch kaum legitimierte Fatah über den Tisch ziehen, ohne wichtige und notwendige Kompromisse einzugehen. Mehr noch: Hamas erlaubt es sich sogar, Osama Bin Ladens Tod zu beklagen und gleichzeitig offen den Sinn einer UNAnerkennung Palästinas zu bezweifeln.

Diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, Palästina im September anzuerkennen, sollten die Risiken bedenken: Der Konflikt rückt wieder ins Rampenlicht, eine Eskalation wird wahrscheinlicher, der Einsatz ist dabei drastisch erhöht. Auf sehr schmerzliche Weise könnte uns dann die existenzielle Dimension dieses Konflikts wieder vor Augen geführt werden. Wer davon profitieren würde, ist schwer zu sagen. Höchstwahrscheinlich aber wären es nicht die Palästinenser. Und zu viele Menschen auf beiden Seiten würden einen schrecklichen Preis bezahlen. Abbas spielt mit dem Feuer und er weiß es („die zweite Intifada war desaströs für uns“, deutete er kürzlich eher dunkel an). Aber der palästinensische Präsident wird vermutlich nicht in der Lage sein, die Geister, die er selbst gerufen hat, im kommenden September zu bannen. Was auch immer US-Präsident Barack Obama tun wird: Die Europäer sollten den palästinensischen Bluff aufdecken. Sarkozys und Camerons Berater sollten noch einmal in sich gehen und sich womöglich an Kanzlerin Merkels skeptischer Haltung ein Beispiel nehmen.

Dr. THOMAS RID, derzeit Universität Konstanz, ab kommenden Sommer Reader in War Studies am King’s College London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 104-107

Teilen

Mehr von den Autoren