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31. Dez. 2010

Risse im Dschihad

Warum wir eine neue Strategie im Kampf gegen den globalen Terror brauchen

Lokal agierende Aufständische, radikalisierte Muslime in der Diaspora, Terroristen, die mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten: Der globale Dschihad zerfasert und verliert massiv an Rückhalt in der islamischen Welt. Entwarnung? Im Gegenteil. Die neue Unübersichtlichkeit des Heiligen Krieges wird seine Eindämmung nicht leichter machen.

Neun Jahre nach dem Einmarsch der amerikanisch geführten Koalition in Afghanistan werden die Stimmen lauter, die das Engagement für gescheitert erklären und einen raschen Abzug fordern. Doch unabhängig vom Ausgang des Einsatzes schwindet die Popularität Al-Kaidas in der islamischen Welt – mit erheblichen Auswirkungen auf die innere Struktur der Organisation. Derzeit spaltet sich der globale Dschihad in drei Strömungen.

Da sind zum einen lokal agierende islamische Aufständische, die sich aus dem Unmut über den autoritären Führungsstil, die Korruption oder die Zusammenarbeit angeblich „abtrünniger“ arabischer Regime mit „ungläubigen“ äußeren Mächten rekrutieren. Die zweite Strömung formiert sich aus einem mit organisiertem Verbrechen kombinierten Terrorismus, der vor allem in Afghanistan und Indonesien, aber auch in Europa zu beobachten ist und der sich unter anderem durch Rauschgifthandel und Erpressung finanziert. Die Mitglieder der dritten Strömung lassen sich schwerer als einheitliche Gruppe definieren. Es handelt sich dabei vornehmlich um junge Muslime, die in der zweiten oder dritten Generation in der Diaspora leben und sich in einem anhaltenden Zustand des Heiligen Krieges wähnen. Deren Motivation zum Kampf speist sich aus ihrer eigenen Unzufriedenheit, die sich auf eine Vielzahl von Gründen zurückführen lässt. Für die Al-Kaida-Führung heißt das zweierlei: Die Legitimität eines radikalen Islamismus nimmt in den Augen des „Mainstream“ der Muslime ab, und die Ränder der militanten Bewegung fransen aus.

Bin Laden als Branding

Im Vergleich lokaler und globaler Dschihad-Bewegungen fällt auf, dass die meisten der islamistischen militanten Gruppen sich in Reaktion auf lokale Gegebenheiten formieren und einen über das Lokale hinausgehenden Anspruch – wenn überhaupt – erst später entwickelt haben. Alle Gruppierungen, die mit Al-Kaida in Verbindung gebracht werden, entstanden entweder schon vor der Proklamation des globalen Dschihads in den frühen neunziger Jahren oder aber später als Reaktion auf lokal bedingte Umstände. Das „Logo“ Bin Ladens drückten diese Gruppierungen ihrer Bewegung erst im Nachhinein auf. Das gilt für die 1998 im Maghreb gegründete „Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat“, die Anfang der neunziger Jahre als Ableger anderer militanter Bewegungen aus dem algerischen Bürgerkrieg hervorging. Auch die pakistanische Lashkar-e-Taiba, die für die Anschläge in Mumbai von 2008 verantwortlich ist, gründete sich in den Neunzigern mit dem Ziel, für ein vereintes Kaschmir unter pakistanischer Kontrolle zu kämpfen. In Somalia, Ägypten, Saudi-Arabien und anderen Ländern machten sich ursprünglich lokal motivierte Gruppierungen nachträglich Al-Kaidas Doktrin des globalen Dschihads zu eigen.

Identifizieren sich diese Gruppen mit Al-Kaida, müssen lokale Aufständische damit rechnen, auf internationalen Fahndungslisten zu landen. Wesentlich existenzieller ist aber das Risiko, sich von der muslimischen Mehrheitsmeinung zu lösen und den Zuspruch der breiten Bevölkerung einzubüßen. Diese Erfahrung machte die irakische Al-Kaida im Jahre 2005 in der Al-Anbar-Provinz und ihrer Hauptstadt Ramadi. Damals verkündete die irakische Al-Kaida, Ramadi zur Hauptstadt eines irakischen „Kalifats“ machen zu wollen; gegen Ende 2005 hatte man auch weitgehend die Kontrolle über die Stadt erlangt. Durch ihr rücksichtsloses Vorgehen verspielte Al-Kaida jedoch den Rückhalt bei der konservativen sunnitischen Elite. So verlor Scheich Sattar Abdul Abu Risha, eine maßgebliche Persönlichkeit der sunnitischen Führung, durch Anschläge mehrere Familienmitglieder. Andere lokale Größen fürchteten um den Verlust von Macht und Ansehen in ihren angestammten Gebieten. So entschieden sich Sattar und andere Scheichs Anfang 2006 dazu, mit den US-Truppen zu kooperieren und rekrutierten in der Folge binnen eines Jahres fast 4000 Männer für die lokale Polizei. „Sie brachten uns nichts als Zerstörung und irgendwann sagten wir uns: Genug ist genug“, so Sattar.

Ein anderes Beispiel für den Kurswechsel lokaler Eliten war im September 2007 in Saudi-Arabien zu beobachten. Salman al-Awda, einflussreiches Mitglied des saudischen Klerus und zuvor vehementer Verfechter des Kampfes gegen westliche Truppen im Irak, beschuldigte Bin Laden in einem offenen Brief, den Terror zu „einem Synonym für den Islam“ zu machen. Am sechsten Jahrestag des 11. Septembers stellte er in einer populären Sendung des saudischen Fernsehens die Frage: „Mein Bruder Osama, wie viel Blut wurde schon vergossen? Wie viele unschuldige Menschen, Frauen, Kinder und Greise wurden im Namen Al-Kaidas schon getötet?“ Andere folgten seinem Beispiel, darunter Sajid Imam as-Sharif, ein Gründungsmitglied von Al-Kaida. „Für jeden Tropfen Blut, der in Afghanistan und im Irak vergossen wurde oder noch vergossen wird, sind Bin Laden, Zawahiri und ihre Anhänger verantwortlich“, schrieb as-Sharif 2009 in der in London erscheinenden arabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat.

Es ist die Spannung zwischen lokalem und globalem Kampf, aus der diese Auseinandersetzung ihre Brisanz bezieht. Während einige Ideologen der Taliban einer global ausgerichteten und religiös sowie politisch motivierten Agenda folgen, kämpfen „opportunistisch“ ausgerichtete Aufständische vorrangig um Macht und Geld oder schlicht ums Überleben. So kann es durchaus vorkommen, dass in derselben Familie ein Sohn in den Reihen der Taliban kämpft, während ein anderer bei der afghanischen Armee ist. Auf diese Weise kann die Familie, so könnte man sarkastisch formulieren, unabhängig vom Ausgang der Auseinandersetzung sicher sein, dass zumindest einer ihrer Söhne dem siegreichen Lager angehören wird. Nach Schätzungen der US-Marineinfanterie in Helmand lassen sich 80 bis 85 Prozent aller Aufständischen solchen „Opportunisten“ zurechnen. Daher zielt die amerikanische Aufstandsbekämpfung inzwischen vornehmlich darauf ab, diesen Teil der Rebellen auf die Seite der Koalition zu ziehen und die Hardliner auszuschalten. Die Taliban verfolgen jedoch bereits seit längerem ein eigenes Rekrutierungssystem mit einer ähnlichen Logik. Mit Anwerbungsaktionen im ganzen Land wollen sie nicht nur überzeugte Ideologen für ihren Kampf gewinnen, sondern, in der Bezeichnung des australischen Terrorexperten David Kilcullen, mehr „Zufallsguerillas“: Männer, die sich den Taliban aus Verärgerung über die Zentralregierung anschließen, aus Gründen der „Familienehre“, aus Rache für eine Militäraktion der alliierten Truppen, oder einfach, weil sie nicht als Schwächlinge gelten wollen, die sich nicht gegen westliche Eindringlinge zur Wehr setzen.

Doch selbst die Ideologen unter den Taliban lassen sich nicht mit Al-Kaida gleichsetzen. Im Herbst 2009 verhöhnte der ehemalige Al-Kaida-Sympathisant Abu Walid, nun ein Sprecher der Taliban, Osama Bin Laden in der offiziellen Taliban-Publikation Al-Sumud unter anderem dafür, dass er einen Do-it-yourself-Ansatz in Sachen islamische Rechtsprechung verfolge. Bereits in der Vergangenheit wurde Bin Laden dafür von ehemaligen Mitstreitern kritisiert. Die Kritik Abu Walids ging jedoch weiter. Bin Ladens Organisation lasse eine klare strategische Vision vermissen und erschöpfe sich weitgehend in „blumigen Aussagen“, wie Walid es im Gespräch mit der australischen Antiterrorspezialistin Leah Farrall nannte. Darüber hinaus seien die Taliban der Terrororganisation in Afghanistan nicht mehr besonders wohl gesonnen, da die „Mehrheit der Bevölkerung gegen Al-Kaida“ sei.

Kennt der Dschihad Grenzen?

Ist die Basis der Bewegung lokaler oder sogar nationaler Natur? Dies ist die grundlegende Streitfrage zwischen den beiden Fraktionen. Im September 2009 veröffentlichte Mullah Omar, eines der Gründungsmitglieder der afghanischen Taliban und eine wichtige geistliche Autorität, eine Botschaft in mehreren Sprachen. Darin bezeichnete er die Taliban als eine „starke islamisch-nationalistische Bewegung“, welche die „Gestalt einer Volksbewegung“ angenommen habe. Omar hatte offenbar erkannt, dass Pragmatismus und eine gewisse Bereitschaft zur Mäßigung die besten Aussichten auf eine Rückkehr zur Macht bieten, und erklärte daher, „gute und freundschaftliche Beziehungen auf der Basis von gegenseitigem Respekt“ anzustreben. Al-Kaidas Reaktion auf diesen Vorstoß war schnell und deutlich. Aus dem Dschihad ein „nationales Anliegen“ zu machen, komme, so die Ansicht der Puristen, einem Ausverkauf seiner eigentlichen Werte gleich. So wurde die Wende in der offiziellen Position der Taliban mit der Hisbollah im Libanon und der Hamas im Gaza-Streifen verglichen, die sich bereits früher von Al-Kaida distanziert hatten.

Gerade mit der ebenfalls sunnitischen Hamas geriet Al-Kaida in jüngster Vergangenheit in offenen Konflikt. Als in Gaza eine selbsternannte Fraktion Al-Kaidas auftauchte, ließ die Hamas einen der führenden Imame und einen seiner Leibwächter töten, was unter den Ideologen des globalen Dschihads Entsetzen hervorrief. Die „Globalisten“ fürchteten die Vorstellung, lokale Interessen könnten ihre panislamischen Bestrebungen gefährden. „Nationalismus“, erklärte Ayman al-Zawahiri, der zweite Mann bei Al-Kaida, müsse von der muslimischen Gemeinschaft, der Umma, abgelehnt werden, „da es sich dabei um eine Idee handelt, die den Dschihad zum bloßen Subjekt auf dem Markt der politischen Kompromisse verkommen lässt und die Umma davon abhält, für die Befreiung islamischer Gebiete und die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen“.

Die vielleicht schärfste Trennlinie zwischen lokal und global ausgerichteten Dschihadisten verläuft jedoch entlang der Frage, welche Mittel zum Erreichen der vorgegebenen Ziele zulässig und wie genau diese Ziele zu definieren sind. Die klassische islamistische Doktrin betrachtet den Dschihad als Verteidigungskampf gegen Verfolgung, Unterdrückung und Verletzung der territorialen Integrität von Muslimen. Um Glaubensbrüder in aller Welt gegen die sowjetische Invasion Afghanistans zu mobilisieren, erweiterte Abdallah Azzam, ein einflussreicher palästinensischer Geistlicher, der 1989 ermordet wurde, die ursprüngliche Doktrin des Heiligen Krieges zu einem transnationalen Kampf, indem er die Teilnahme am afghanischen Dschihad zur Pflicht für alle Muslime erklärte. In Al-Kaidas Ideologie wurde der bis dahin defensive Charakter des Dschihads in einen globalen Kampf umgewidmet, der die Unterscheidung zwischen „unmittelbaren“ Feinden, also den als „abtrünnig“ betrachteten Regimen der muslimischen Welt, und den „entfernten“ Feinden, also den westlichen Unterstützern dieser Regime, weitgehend aufhob.

In den ländlichen und häufig unzugänglichen Gebieten Pakistans und Afghanistans, aus denen sich inzwischen ein großer Teil der gewaltbereiten Radikalen rekrutiert, sind lokale Verwurzelung und Stammeszugehörigkeit nach wie vor feste Größen der gesellschaftlichen Ordnung. Ein US-Politikberater, der lange in der als Zentrum des Widerstands geltenden afghanischen Provinz Zabul gearbeitet hat, beschrieb die dort vorherrschende Gefühlslage eher als „Talismus“ (valleyism) denn als Nationalismus. Dies erklärt sich aus dem Bestreben der lokalen Bevölkerung, gegen jeden vorzugehen (ob Ausländer oder nicht), der die bestehende traditionelle Ordnung in Frage stellt. Somit ist der dortige Widerstand nicht nur ein Problem für die Taliban oder für Al-Kaida, sondern für schlechterdings jede afghanische Regierung. Al-Kaidas Vize Zawahiri beklagte dies kurz nach der NATO-Invasion in einem Brief: „Sogar die Religionsschüler haben eine stärkere Bindung an ihre Stämme und Dörfer als an das islamische Emirat.“ Zum Missfallen der kosmopolitisch denkenden Agitatoren Al-Kaidas verfolgen die provinziellen „Talisten“ an erster Stelle lokale Interessen und zeigen wenig Enthusiasmus für einen weltumspannenden Terrorismus.

Virtuelle Bürger und gewöhnliche Verbrecher

Der Unterschied zum Dschihad in der Diaspora könnte größer nicht sein. Für radikale Muslime in Europa existiert per Definition keine lokale Variante des Dschihads, und es dürfte ihnen wohl bewusst sein, dass ein Systemwechsel in London, Amsterdam oder Berlin reine Fantasterei ist. Diese Radikalen treibt eher die Frage nach der eigenen Identität um als ein übergeordnetes Interesse ihrer Gemeinschaft. Viele junge Muslime haben jede tiefere Bindung zu den Ländern ihrer Vorfahren verloren, fühlen sich jedoch in Frankreich, Schweden oder Dänemark ebenso wenig zu Hause. Für manche führt eine solche Identitätskrise zur Sehnsucht nach Leitbildern. Durch die Ideologie des Dschihads erhalte dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit eine Bedeutung, so Europol. Die Vorstellung, „Bürger“ einer weltweiten virtuellen muslimischen Gemeinschaft sein zu können, ist für viele entwurzelte junge Muslime wesentlich attraktiver als für Immigranten der ersten Generation, die meist noch eine starke Bindung zu ihrem Herkunftsland haben. Die Identitätskrise dieser jungen Menschen scheint dabei sogar einen spürbaren Effekt auf den Charakter des Dschihads selbst zu haben. Denn wie viele desorientierte Jugendliche der muslimischen Diaspora besitzt auch der globale Dschihad keine wirklichen Wurzeln und betrachtet politische Teilnahme nicht als adäquates Mittel zur Vertretung der eigenen Interessen.

Ein Anzeichen für die fehlende Anbindung Al-Kaidas an ihr direktes Umfeld ist die Tatsache, dass sich vergleichsweise wenige Menschen in der Basis der Organisation finden, die je an einem Dschihad in ihren jeweiligen „Heimatländern“ teilnehmen könnten. Es scheint unter den global agierenden Dschihadisten verhältnismäßig wenige Palästinenser, Tschetschenen, Iraker oder Afghanen zu geben, sondern eher Menschen aus Ländern, in denen der Dschihad nicht als offener Krieg ausgetragen wird, etwa Ägypten, Saudi-Arabien, Libyen oder Syrien. Al-Kaidas Identitätskrise spiegelt sich auch in der Behandlung radikaler Konvertiten wider, die häufig kaum religiöse Bildung und eine ungefestigte Persönlichkeitsstruktur aufweisen. Der französische Islamismusexperte Olivier Roy schätzt, dass der Anteil der Konvertiten bei Al-Kaida inzwischen bei 10 bis 25 Prozent liegt, ein Hinweis darauf, dass die Bewegung dabei ist, sich zu „entkulturalisieren“. Ein ähnlicher Trend kennzeichnet den Salafismus in Deutschland.

Das führt jedoch zu Schwachstellen in Al-Kaidas Rekrutierungssystem. Sei es in Holland oder Helmand: Unter den extremsten Salafisten, unter jenen, denen eine gefestigte Identität und kulturelle Orientierung weitgehend fehlen, zeigt sich die größte Anfälligkeit für Utopien und radikale Ansichten, die auf den Rand einer Gesellschaft abzielen. Die Rekrutierungsmuster in der Diaspora sind weniger strategisch oder politisch als willkürlich. Die Entscheidung junger europäischer, in selteneren Fällen auch amerikanischer Muslime, sich am globalen Dschihad zu beteiligen, fußt meist auf sehr individuellen Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung. Viele entschließen sich auf eigene Initiative zur Teilnahme an einer terroristischen Bewegung, was jedoch dazu führt, dass sie sich bestehenden Strukturen weniger verpflichtet fühlen. Allein im Jahr 2008 wurden in Europa rund 190 Menschen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gerichtlich verurteilt, die meisten in Großbritannien, Frankreich und Spanien. Laut Europol gehört ein großer Teil dieser Verurteilten kleinen autonomen Zellen an und kann keiner bereits bekannten terroristischen Vereinigung zugerechnet werden.

Facebook für Dschihadisten

Die Entstehung zahlreicher autonomer Zellen innerhalb des Dschihadismus führt zu starken Fliehkräften: Basis und Führungsebene verlieren den Kontakt zueinander. Abu Musab as-Suri, ein gebürtiger Syrer mit spanischem Pass und einer der geistigen Väter des globalen Dschihads, prägte die Vision einer Vereinigung, die eine Bewegung der breiten Masse mit dem individuellen und netzwerkbasierten Handeln Einzelner verbindet. As-Suris Absicht war, die „herausragenden individuellen Taten aus den letzten Jahrzehnten, die häufig ungesteuert und impulsiv waren, in ein gelenktes Phänomen zu verwandeln, das den Dschihad vom Aufbegehren einer kleinen Elite zum Anliegen der gesamten islamischen Nation werden lässt“. In seiner Vorstellung sollte der globale Dschihad einem „Arbeitsteilungssystem“ gleichen, das weitgehend ohne hierarchische Strukturen auskommt. Dieser Ansatz spricht vor allem die gut vernetzten jungen Sympathisanten der Facebook-Generation an, enthält jedoch einen inhärenten Widerspruch. Sich selbst rekrutierende und „homegrown“ Terroristen sind ein echtes Problem für Al-Kaida, weil sie als eine Art selbsternannte Elite Al-Kaidas Anspruch unterhöhlen, als Sprachrohr der muslimischen Massen zu fungieren.

Dieses Problem wird vor allem im „Online-Dschihad“ sichtbar. Obwohl die Webforen unabhängiger Islamisten für Al-Kaida eine wichtige Quelle für die Verbreitung dschihadistischen Gedankenguts sind, bergen sie auch Gefahren für die Organisation. Nachdem vor zwei Jahren in London einer der Top-Aktivisten der Bewegung von der Polizei gefasst wurde, begann sich die Kooperation zwischen Al-Kaidas offizieller Kommunikationsplattform „As-Sahab“ und anderen autonomen Foren zu lockern. In der Folge entglitt Al-Kaida mehr und mehr die inhaltliche Kontrolle über den Online-Dschihad. Wie überall im Internet sehen sich Forenbetreiber wachsender Konkurrenz um Aufmerksamkeit ausgesetzt, was zu einer deutlichen Verrohung des Tons in den Foren führte. Brynjar Lia, Islamismus-Experte am Norwegian Defense Research Establishment, kommentiert das so: „Interdschihadistische Streitigkeiten scheinen stark zuzunehmen, was zu weniger ‚brüderlichen‘ Umgangsformen führt.“ Die verstreuten Dschihadisten-Gruppen erfreuen sich einer neu gewonnen Autonomie, die sich daraus ergibt, dass sie ihre Aktionen selbst, nämlich durch kriminelle Machenschaften, finanzieren. Das verstärkt die Fliehkräfte innerhalb der globalen Bewegung zusätzlich, denn einige dieser Vereinigungen arbeiten mit der organisierten Kriminalität zusammen.

Nun muss das organisierte Verbrechen nicht zwangsläufig mit dem Dschihad unvereinbar sein. Es ließe sich sogar durch religiöse Anliegen rechtfertigen: Baz Mohammed, ehemals eine zentrale Figur des afghanischen Heroinhandels, verkündete schon vor Jahren, dass der Verkauf von Heroin in die USA im Sinne des Heiligen Krieges sei, da man auf diese Weise Amerikaner umbringen und sich gleichzeitig noch an ihnen bereichern könne. Doch auch darin steckt ein Problem für Al-Kaida. Der irreguläre Kämpfer bedarf politischer Anerkennung, wie Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen schrieb, „um nicht, wie der Räuber und der Pirat, ins Unpolitische, das bedeutet hier: ins Kriminelle abzusinken“. Wenn sich ein beginnender Aufstand zu einem ernst zu nehmenden politischen Widerstand entwickeln soll, dann steht nur ein begrenzter Zeitrahmen zur Verfügung. Sobald die eigentliche politische Ursache an Bedeutung und Strahlkraft verliert, besteht die Gefahr, dass sich der Aufstand in eine gewöhnliche kriminelle Vereinigung wandelt, die neue Mitglieder eher durch ihre kriminelle als durch politische Anreize wirbt. Mit der Folge, dass der Dschihad in der öffentlichen Meinung weiter an Zustimmung verliert. Für einige dem globalen Dschihad zugerechnete Gruppierungen scheint das bereits heute der Fall zu sein. Al-Kaida im islamischen Maghreb finanziert sich vornehmlich durch Drogenhandel, Schmuggel, Erpressungen und Entführungen, wie zuletzt in Südalgerien oder Nordmali. Die indonesische islamistische Vereinigung Abu Sayyaf und die philippinische Jamiyah Islamiyah sind in eine ganze Reihe illegaler Aktivitäten verwickelt. Die für die Anschläge auf die Madrider Metro im Jahre 2004 verantwortliche Terroristenzelle beschaffte sich den Großteil ihrer Mittel durch kriminelle Machenschaften. So wurden während einer Razzia im Haus eines der Attentäter Drogen und Bargeld im Wert von rund zwei Millionen Dollar durch die spanische Polizei sichergestellt, darunter mehr als 125 000 Ecstasytabletten, wie U.S. News und World Report berichteten. Der Bombenanschlag selbst kostete die Terroristen lediglich 50 000 Dollar.

Neue Strukturen, alte Gefahren

Das erklärte Ziel führender islamischer Terroristen war es von jeher, ihren eigenen Kampf zu einem „Kampf der islamischen Nation“ zu machen. Während dieses Ziel in weitere Ferne zu rücken scheint, bewegt sich der globale Dschihad allmählich in eine andere Richtung. Neun Jahre nach dem 11. September befindet sich die Unterstützung für den religiösen Extremismus in der islamischen Welt auf einem Tiefpunkt. Besonders stark verlor Al-Kaida in Indonesien, Pakistan und Jordanien an Zustimmung. Während in diesen Ländern im Jahre 2003 im Rahmen einer Studie des Pew Global Attitudes Project noch rund 50 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten, dass Bin Laden in Sachen Weltpolitik „auf dem richtigen Weg“ sei, lag die Zustimmung 2009 bei nur noch 25 Prozent. In Pakistan, traditionell ein Hort des religiösen Extremismus, äußerten 2009 nur noch neun Prozent eine positive Meinung gegenüber Al-Kaida, während der Zuspruch ein Jahr zuvor noch bei rund 25 Prozent gelegen hatte. Sogar das voraussichtliche Scheitern der NATO, Afghanistan und seine terrorgeplagten Anrainer dauerhaft zu stabilisieren, scheint für Al-Kaida in ihrer Legitimitätskrise wenig hilfreich zu sein.

Es wäre jedoch naiv, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Risse in Al-Kaidas ideologischer „Hülle“ das nahe Ende der Organisation bedeuten. Davon sind sie weit entfernt. Obwohl die islamistische Ideologie an Zustimmung der breiten Masse zu verlieren und gleichzeitig die weltweit entstandenen extremistischen Bewegungen auseinanderzudriften scheinen, hat aus Sicht der Fanatiker die Ideologie nach wie vor eine hohe Bindungskraft. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Ideologie ist offenbar die Fähigkeit, Widersprüche im Dschihad des 21. Jahrhunderts aufzulösen: ein frommer Moslem zu sein und dennoch Frauen und Kinder angreifen zu können; die Autorität des Korans zu beschwören, jedoch gleichzeitig vom Verbrechen zu profitieren; den westlichen Sozialstaat zu nutzen, ihn aber um jeden Preis vernichten zu wollen; keinerlei persönliche Bindung zu einer bestehenden islamischen Vereinigung zu haben, sich aber selbst als Teil einer solchen zu begreifen.

Die veränderte innere Struktur Al-Kaidas hat eine Vielzahl unmittelbarer Konsequenzen. Der globale Dschihad entfernt sich immer weiter von jener „politischen Anerkennung“, von der Carl Schmitt sprach. Das macht es schwieriger, den Dschihad vom organisierten Verbrechen auf der einen und vom führungslosen Fanatismus auf der anderen Seite zu unterscheiden. Nimmt man Clausewitz’ Diktum, der Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so bleibt zu bezweifeln, ob dies auch auf den globalen Dschihad zutrifft und inwieweit ihm dementsprechend mit politischen Mitteln begegnet werden kann. Überdies hat der globale Dschihad, besonders durch die neuen Möglichkeiten des Internets und die damit einhergehende Konkurrenzsituation, weitgehend damit aufgehört, als kohärente Kraft zu agieren. Es fehlt eine eindeutige Führungsfigur, die die Absichten der Bewegung klar zu artikulieren und durchzusetzen vermag. Um es erneut mit Clausewitz zu sagen: Es ist unklar, ob der Krieg immer noch ein Akt der Gewalt ist, um dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Unabhängig davon, was der Ausgang der amerikanisch geführten Operation in Afghanistan sein wird – ein generelles Anschlagsrisiko wird mittelfristig bestehen bleiben.

In der Terrorismusbekämpfung wird Quantität daher ebenso wichtig wie Qualität. Einige Zahlen sind in diesem Zusammenhang jedoch relevanter als andere. Die Anzahl zusätzlicher Truppen, die noch nach Afghanistan geschickt werden, ist weniger wichtig als die Anzahl der terroristischen Anschläge, die vereitelt werden oder nicht stattfinden. Ein Erfolg wird sich subtil in Statistiken widerspiegeln, in sinkenden oder stagnierenden Kurvenverläufen, und nicht in einzelnen hervorstechenden Ereignissen, Kapitulationen oder dem Tod einzelner Führungsgestalten. Er wird weniger an militärischen Kampagnen oder Ähnlichem messbar sein, sondern am Entscheidungsverhalten der Extremisten. Da die Teilnahme am Heiligen Krieg sowohl in seiner lokalen als auch in seiner globalen Variante eine primär individuelle Entscheidung ist, müssen diese Entscheidungen zur Maßeinheit werden. Sie zu beeinflussen muss zum Ziel der zugrunde liegenden Strategie werden. Ähnlich wie bei der Verbrechensprävention wird eine akkurate Erfolgsmessung – also die Anzahl der potenziellen Terroristen, die sich keiner Vereinigung anschließen und die keine terroristischen Akte verüben – nicht möglich sein. Dennoch ist das die entscheidende Größe. Erfolge gegen den Terrorismus müssen wohl hinter einem Schleier verborgen bleiben.

Dr. THOMAS RID, derzeit Universität Konstanz, ab kommenden Sommer Reader in War 
Studies am King’s College London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 10-19

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