Buchkritik

25. Febr. 2022

Das weibliche Gesicht der Revolte

Bei den Protesten gegen das System Lukaschenko standen Frauen in der ersten Reihe. Doch noch ist es ein weiter Weg zum gesellschaftlichen Wandel in Belarus oder Russland. Zwei Analysen der Aufstände von 2020 und die Autobiografie einer Russland-Kennerin.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Russland und Belarus sind Länder, in denen Männer die Politik bestimmen. Allem gesellschaftlichen Wandel zum Trotz dominieren patriarchalische Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen.



Russlands Präsident Wladimir Putin und sein belarussischer Counterpart Alexander Lukaschenko leiten seit Jahrzehnten die Geschicke ihrer Länder; sie gelten als autoritäre und starke Führungspersönlichkeiten. Sie stehen für ein traditionelles Modell von Macht, bei dem Frauen keine Rolle spielen und Gewalt als normale Sache gilt. Das zeigt nicht nur die zentrale Bedeutung des Militär- und Sicherheitsapparats in beiden Ländern, sondern auch der Umgang mit häuslicher Gewalt.



Doch im Sommer 2020 tat sich  etwas in Belarus: Die gefälschten Präsidentschaftswahlen im August führten zu landesweiten Protesten, bei denen Frauen eine zentrale Rolle spielten. Dass mit Swetlana Tichanowskaja eine Frau bei der Wahl hatte kandidieren dürfen und dass der bela­russische Sicherheitsapparat anfangs zögerlich war, gewaltsam gegen die demonstrierenden Frauen vorzugehen, hat beides mit dem ultratraditionellen Geschlechter- und Gesellschaftsbild Lukaschenkos zu tun: Er traute den Frauen schlicht nichts zu. Das sollte ihn letztendlich den Sieg kosten und deutlich machen, dass er den Kontakt zur Bevölkerung verloren hatte.



Kollektiv solidarisch

Olga Shparaga, Philosophin, Autorin und Feministin, analysiert in ihrem Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“ (als Gegenstück zu Svetlana Alexewitschs „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“) die Emanzipation der belarussischen Frauen und Gesellschaft im Rahmen der Präsidentschaftswahl 2020. Be­larus galt bis dahin als erstarrte Gesellschaft, ohne jegliche Hoffnung auf Wandel.



Für Shparaga waren es die Frauen, die in den entscheidenden Momenten der Revolution die Führung übernahmen und den Anstoß für die Massendemonstrationen gaben. Das Empowerment der Frauen sei ­wesentlich für die Emanzipation der belarussischen Gesellschaft gewesen.



Der brutalen Gewalt des Regimes stellten die Frauen friedliche  Aktionen entgegen. Insbesondere drei von ihnen boten Lukaschenko als Team erfolgreich die Stirn: Swetlana Tichanowskaja, die inoffizielle, später ins litauische Exil vertriebene Wahlgewinnerin, und ihre Unterstützerinnen Maria Kolesnikowa, Künstlerin und Feministin, sowie die IT-Managerin Veronika Zepkalo. Alle drei Frauen traten aus dem Schatten der Männer heraus, die ursprünglich Lukaschenko herausgefordert hatten und deshalb verhaftet wurden.



Eine Feministin war Ticha­nowskaja nicht; als Hausfrau hatte sie sich bisher vor allem um ihre Familie gekümmert. Gerade diese Volksnähe, so Shparaga, habe sie für viele Belarussen erst wählbar gemacht. Sie ist ein Produkt der patriarchalischen Gesellschaft, die durch einen Zufallsmoment zur Führungsfigur wurde und sich emanzipierte. Ausschlaggebend dafür, dass Tichanowskaja dem Druck standhalten und zu einer öffentlichen Person werden konnte, war die solidarische Unterstützung durch Kolesnikowa und Zepkalo; gemeinsam etablierten sie eine neue Form von kollektiver Führung.



Neben historischen und soziologischen Studien bildet die feministische Theorie etwa Judith Butlers den Hintergrund für die Analyse Shparagas. Sie beschreibt die drei führenden Frauen als kollektives solidarisches und politisches Subjekt. Dabei wendet sie sich gegen das nationale Paradigma von Emanzipation: Herausforderungen wie Menschenrechtsverletzungen, soziale Ungleichheit oder Geschlechterungerechtigkeit ließen sich nur global lösen und bedürften der internationalen Solidarität. Hier sieht die Autorin externe Akteure wie die EU in der Verantwortung.



Vernetzte Gesellschaft

Am Anfang des Widerstands in Belarus stand das Versagen Lukaschenkos beim Corona-Management. Den Belarussinnen und Belarussen blieb nichts anderes übrig, als sich mit Selbsthilfe und Solidarität durch die Pandemie zu manövrieren. Der dysfunktionalen Machtvertikale setzte man horizontale gesellschaftliche Gruppen entgegen, die sich dann im Widerstand gegen die Wahlfälschungen erneut organisierten. Für Shparaga ist es die vernetzte Gesellschaft, die den Wandel in Belarus ­repräsentiert.



Und doch gelang es nicht, den Diktator zu stürzen. Die Angst  der Menschen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und um die eigene Zukunft, verbunden mit massiven Repressionen des Sicherheitsapparats, halten Lukaschenko vorerst an der Macht. So sehr die Autorin die horizontale und vernetzte Gesellschaft lobt: Letztlich fehlte es an Führung, um den Machtwechsel herbeizuführen.



Nah an den Protagonistinnen

Mit Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo stellt die ehemalige Moskau-Korrespondentin der Wochenzeitung Die ZEIT Alice Bota die drei entscheidenden politischen Akteurinnen des belarussischen Wandels noch deutlicher in den Fokus als Olga Shparaga. Anders als Shparagas Werk ist Botas Buch keine wissenschaftliche Darstellung; es lebt von den unzähligen Interviews und Recherchen, in denen die Autorin Hintergründe der Revolution und ihrer Protagonistinnen gesammelt hat. Durch die Interviews ist sie ganz nah bei den drei Frauen: Sie kann Gefühle und Stimmungen authentisch und nachvollziehbar wiedergeben.



Alice Bota zeigt anschaulich, wie das System Lukaschenko über fast drei Jahrzehnte alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche durchdrang und keinerlei Veränderungen erlaubte, da diese den Verlust der Macht bedeutet hätten. Angst und Erstarrung waren die wesentlichen Elemente dieses Systems.



Ironischerweise waren es Alice Bota zufolge vor allem die Frauen, die Lukaschenko über lange Zeit mehrheitlich gewählt und damit seine Macht gesichert hatten. Lukaschenkos Kümmerstaat und sein Sozialsystem seien gerade für Frauen attraktiv gewesen, denen die Aufgabe zukam, die belarussische Gesellschaft mit all ihren Mängeln am Leben zu halten. Sie hatten auch die Hauptlast der Corona-Pandemie zu tragen, in schlechtbezahlten Sozial- und Bildungsberufen sowie als Mütter, die sich zu Hause um ihre Kinder kümmerten.



Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die Frauen sich von dem Präsidenten abwandten, als der trotz wachsender Todeszahlen die Pandemie ignorierte und es an Respekt und Achtung für die Belarussinnen und Belarussen sichtlich mangeln ließ.



Gesellschaftsvertrag am Ende

Wie Olga Shparaga stellt auch Alice Bota fest, dass das Versagen des unterfinanzierten Versorgungsstaats in der Krise die ­Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft gestärkt habe. Das sei ein wesentlicher Baustein gewesen, um die Belarussen aus ihrer Apathie zu holen: Indem sie sich organisierten und vernetzten, konnten sie etwas verändern – ohne den   Staat und ihren scheinbar allmächtigen Präsidenten.



Gleichzeitig habe die Pandemie eindrücklich den Zynismus des Systems Lukaschenko dokumentiert, was zum endgültigen Bruch des Gesellschaftsvertrags geführt habe. Unpolitisch zu sein und darauf zu vertrauen, dass der Staat für alle sorgen werde, reichte nunmehr in Belarus nicht mehr aus. Alexander Lukaschenko war der Kontakt zur eigenen Bevölkerung entglitten – ein Schicksal, das er mit vielen Langzeitherrschern teilt. Während sich die belarussische Gesellschaft auch durch kleinere Freiräume langsam wandelte, blieb der Präsident derjenige, der er immer war.



 Ähnlich wie Olga Shparaga ist  auch Alice Bota der Meinung, dass Frauen in der zukünftigen bela­russischen Politik eine wichtigere Rolle spielen werden und dass dieser gesellschaftliche Wandel trotz des Sieges des brutalen Repressionsapparats mittel- bis langfristig nicht aufzuhalten sein wird. Auch Übermänner wie Putin und Lukaschenko können nicht ewig leben.



Mehr als ein Russland-Buch

Fiona Hill ist eine der bekanntesten amerikanisch-britischen Russland-Expertinnen und derzeit Robert Bosch Senior Fellow am Brookings Institute; von 2017 bis 2019 war sie Direktorin für Europa und Russland im Nationalen Sicherheitsrat unter Donald Trump. Mit „There is nothing for you here“ hat sie eine ehrliche, berührende und kämpferische Autobiografie vorgelegt.



Dies ist nicht nur ein Buch über Russland und die Erfahrungen der Autorin in der Russland-­Forschung und -Beratung.  Es geht auch um die Geschichte einer Frau, die in einer nordenglischen Arbeiterstadt aufgewachsen ist und es trotz aller Ungerechtigkeiten des britischen und amerikanischen Bildungssystems  an die Spitze der US-Russland-Beratung gebracht hat.  



Den ersten Teil des Buches widmet Fiona Hill ihrer Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie im englischen Bishop Auckland. Sie kritisiert die Verarmung ganzer Landstriche durch die neoliberale Politik von Margaret Thatcher in den 1980er Jahren und zieht Vergleiche mit dem postindustriellen Niedergang in den USA seit Ronald Reagan. Die Verwahrlosung ganzer Bevölkerungsgruppen in beiden Ländern habe den Aufstieg von Rechtspopulisten wie Donald Trump oder den Brexit erst ermöglicht, so Hill.



So richtig das sein mag, so sehr hinkt doch ihr Vergleich dieser Entwicklungen mit ihrem Forschungsschwerpunkt Russland. Natürlich, auch Wladimir Putin ist ein Populist, doch der ökonomische Niedergang der Sowjetunion und die neoliberale Politik unter Boris Jelzin lassen sich nicht mit der Deindustrialisierung in Großbritannien und den USA in den 1980er Jahren vergleichen. Auch wenn in Russland die gleichen neoliberalen Instrumente wie unter Thatcher und Reagan angewandt wurden, so ist doch der Grad der Verarmung im Russland der 1990er Jahre durch den Zusammenbruch des sowjetischen Staates und seiner Wirtschaft nicht vergleichbar. Jedoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass  die ökonomische Schocktherapie und der Kontrollverlust des Staates in der Tat den Aufstieg und die Popularität von Putin ermöglicht haben.



Es macht die Stärke dieses Buches aus, dass die Autorin ihre persönliche Geschichte in eine Analyse des historischen und politischen Kontexts einbettet. Das Buch gewinnt so an Authentizität und Argumentationskraft.

Wie es Fiona Hill, die als Frau aus einer Arbeiterfamilie unter doppelter Diskriminierung litt, in hochangesehene Positionen gebracht hat, ist unbedingt lesenswert. Dabei halfen ihr (begrenzte) staatliche Unterstützung, persönliche Netzwerke, aber auch Leistungswille, Durchhaltevermögen und Glück. Ihre Eltern standen stets zu ihr, auch wenn sie nicht immer über­blicken konnten, was ihre Tochter eigentlich tut.



Aufgrund ihrer Herkunft und Biografie ist Fiona Hill besonders sensibel für Diskriminierung. Für sie hat der Staat in Großbritannien und den USA seine Schutzfunktionen für die Schwachen der Gesellschaft aufgegeben. Zentral für sie ist Chancengleichheit durch Bildung und öffentliche Infrastruktur. Der Rückbau dieser beiden Elemente habe den Siegeszug des Rechtspopulismus ermöglicht. Für sie war es ein Stipendium der britischen Regierung, das ihr ein Studium in Moskau 1987/88 und einen Karriereschub ermöglichte. Daher plädiert sie für soziale Mobilität durch Bildung, wie es in der Sowjetunion Standard gewesen sei.



Für Hill haben das Ende des Kalten Krieges und der Sieg des Westens über den Kommunismus den Blick vom Niedergang ganzer Industrieregionen in den USA und anderen Teilen des Westens für eine kurze Zeit abgelenkt. Der Strukturwandel in kapitalistischen Ländern habe aber bereits eingesetzt, als mit dem „Ende der Geschichte“ der Sieg des Westens deklariert worden sei.



Ihrer  Zeit unter Donald Trump widmet Fiona Hill den zweiten Teil des Buches. Sie hatte den Ruf in die Regierung Trump angenommen, ohne sich Illusionen über den Präsidenten zu machen. Sie wollte etwas an das Land zurückzahlen, dem sie ihren Aufstieg verdankte.



Auch im Weißen Haus fühlte sich die hochanerkannte Expertin als Frau diskriminiert und von Trump nicht recht wahrgenommen. Dabei geht Fiona Hill davon aus, dass Trump im Wahlkampf nicht bewusst für Russland gearbeitet habe, sondern nur jegliche Unterstützung dankend angenommen habe, auch wenn sie aus Moskau kam.



Trump ist aus Hills Sicht ein Mensch mit zutiefst autoritären und patriarchalen Reflexen, für den Frauen nur ein Beiwerk von Männern sind. Putin habe er als reichen und starken Anführer bewundert. Beinahe resigniert stellt Fiona Hill fest, dass für Trump Figuren wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan oder der ungarische Premier Viktor Orbán mehr Autorität hatten als seine eigenen Mitarbeiter.



Hier unterscheidet sich die westliche populistische Politik gar nicht so sehr von den Führungen in Belarus und Russland. Das Ego, der Machterhalt erscheinen wichtiger als gute Regierungs­führung. In der aktuellen Krise um die Ukraine könnte mehr sachliche, mehr weibliche Expertise nicht schaden.

 

Olga Shparaga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Berlin: Suhrkamp 2021. 234 Seiten, 13,00 Euro

Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit. München: Piper 2021. 240 Seiten, 18,00 Euro

Fiona Hill: There Is Nothing for You Here: Finding Opportunity in the Twenty-First Century. Boston: Houghton Mifflin Harcourt 2021. 432 Seiten, 16,99 Dollar



Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 120-123

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