IP

01. Mai 2022

Wladimir Putins Zeitenwende

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident zugleich die globale Ordnung attackiert. Doch auch Russland selbst wird nach dem Krieg ein anderes Land sein – nach innen wie nach außen.

Bild
Bild: Close-up Wladimir Putin
Im Angesicht des Aggressors: Russlands Präsident Putin lässt sich am Jahrestag der Krim-Annexion, dem 18. März, als Kriegsherr feiern.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Russlands Invasion in der Ukraine markiert eine globale Zeitenwende, in der die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgehandelte europäische Sicherheitsordnung endgültig zu den Akten gelegt wird. Putins Ziele, diese Ordnung neu zu verhandeln, Amerika aus Europa zu verdrängen, Einflusszonen abzusichern sowie Pufferzonen um Russland zu schaffen, kulminieren in seinem Versuch, die Ukraine als Staat zu zerschlagen. Das hat Auswirkungen auf Russlands Rolle in der Welt, auf die europäische Sicherheit, die transatlantischen Beziehungen und auf das globale Mächtegleichgewicht.

Nach dem Ende der amerikanisch dominierten unipolaren Ordnung und dem Rückzug Washingtons aus seiner Rolle als Weltpolizist hatte Russlands Führung versucht, ihren Einflussraum auszudehnen. Dabei hatte sie durchaus einige Erfolge zu verzeichnen, etwa in Nahost oder in Afrika. Ziel war es, eine führende Rolle in der neuen multipolaren Welt zu spielen; einer Welt, in der große Staaten mittels zeitweiliger Allianzen Konflikte lösen oder mit anderen großen Staaten um Interessen konkurrieren. Diese Phase russischer Politik endete mit dem Überfall auf die Ukraine.



Zurück in die Stalin-Zeit

Russland selbst verändert sich mit diesem Krieg fundamental, innen- wie außenpolitisch. Nach innen wird das Land isolierter, totalitärer und in seiner Modernisierung weiter zurückgeworfen. Es nähert sich der Sowjetunion an – allerdings nicht der Sowjetunion der 1980er, sondern eher jener der 1930er Jahre. Nach außen tritt Moskau aggressiver und revisionistischer auf; es setzt seine Interessen rücksichtslos durch. Der Krieg in der Ukraine wird Russland dauerhaft militärisch wie ökonomisch schwächen und international isolieren. Damit wird Moskau stärker auf sich selbst und den postsowjetischen Raum zurückgeworfen, ohne dass es attraktive wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Angebote machen könnte.

Die Isolation vom globalen Wirtschafts- und Finanzsystem stellt Moskaus Wirtschaftsmodell infrage; das wird die Lebensweise der Russen grundlegend verändern. Die Folge wird ein Russland sein, das mit militärischen Mitteln versucht, seine Nachbarschaft zu kontrollieren, ein Mobilisierungsregime nach innen und außen. Ein Regime, das für dauerhafte Instabilität in der südlichen und östlichen Nachbarschaft der EU sorgen wird, die eingedämmt und gemanagt werden muss, ohne dass eine kurzfristige Lösung des Konflikts mit Moskau in Sicht ist.

Ausgangspunkt dieser Einwicklung war der tiefsitzende Wunsch der russischen Führung, die europäische Sicherheitsordnung neu zu verhandeln. Diesen Anspruch hatte Präsident Putin schon 2007 bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz erhoben. Adressat dieser Politik sind die USA als Führungsmacht der NATO und Garant der bisherigen Friedensordnung in Europa. Für Moskau geht es um die Begrenzung der Rolle Amerikas für Europas Sicherheit sowie das Ende jeglicher NATO-Erweiterungen in Europa. Dies gilt sowohl für postsowjetische Staaten wie die Ukraine und Georgien als auch für nordische Länder wie Finnland und Schweden.

Die russische Führung hat in zwei Vertragsvorschlägen Sicherheitsgaran­tien für Russland durch die NATO und die USA gefordert und damit die Akzeptanz von russischen Einflusszonen in Osteuropa. Gleichzeitig soll sich die NATO auf das Territorium zurückziehen, auf dem sie sich 1997, dem Jahr der Verabschiedung der NATO-Russland-Akte, befunden hat. Damit würde die Sicherheit der östlichen NATO-Staaten infrage gestellt. Wenn Amerika tatsächlich, wie gefordert, seine Nuklearwaffen aus Europa abzöge, erhielte Russland eine Art Vetorecht bei allen sicherheitspolitischen Entscheidungen in Europa. Vor dem Hintergrund, dass die NATO-Russland-Akte mit dem russischen Krieg in der Ukraine obsolet geworden ist, ist das alles hochproblematisch. Die NATO und Russland sind Gegner. Das Ziel eines „dauerhaften und umfassenden Friedens“ mit Russland in Europa ist gescheitert.

Die Entscheidung Putins für eine Invasion in der Ukraine ist eng mit seinem Verständnis der historischen und strategischen Bedeutung des Nachbarlands für Russland verbunden. Für den russischen Präsidenten sind Ukrainer und Russen ein Volk, sie entstammen demselben historischen und geistigen Raum. Die Ukraine hat demnach kein Recht auf staatliche Existenz. Damit stellt sich Putin nicht nur gegen rechtlich bindende Dokumente, die die russische Führung in den 1990er Jahren unterschrieben hat (Buda­pester Memorandum, Charta von Paris), sondern auch gegen das Völkerrecht.

Putin sieht die Ukraine als einen Ort der Auseinandersetzung mit den USA, als Sprungbrett des Westens gegen Russland. Ereignisse wie die Orangene Revolution 2004/05 oder der Euromaidan 2013/14 dienten aus seiner Sicht einem von den USA initiierten Regimewechsel in der Ukra­ine. Für Putin haben die USA in Kiew eine Regierung installiert, die Russland schwächen soll und aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ gemacht hat.



Autoritäres Modell in Gefahr

Damit einher geht die Angst vor einem Regimewechsel in Russland selbst. Wären die Demokratisierung und Modernisierung der Ukraine erfolgreich, würde das Land in NATO und EU integriert, könnte das ein Vorbild für andere postsowjetische Staaten inklusive Russland sein. Das würde Putins autoritäres Regierungsmodell und seinen Machtanspruch in Russland und den postsowjetischen Staaten infrage stellen. Somit kämpft er aus seiner Sicht in der Ukraine um das eigene Überleben.

Immer wieder hat der russische Präsident deutlich gemacht, dass er Angst vor einem Regimewechsel durch die USA hat. Als historische Vorbilder gelten ihm der Sturz von Slobodan Milošević Ende der 1990er Jahre, der von Saddam Hussein im Irak 2003 und der des libyschen Präsidenten Muammar al-Gaddafi 2011.

In diesem Kontext muss auch die Unterstützung von Baschar al-Assad seit 2015 gesehen werden. Der russischen Führung ging es nicht nur darum, ihre Position im Nahen Osten durch die Intervention in Syrien zu stärken, sondern auch darum, den Sturz eines weiteren autoritären Herrschers in der Region zu verhindern. Aus Sicht Putins bringen solche Machtwechsel nicht nur Instabilität für die gesamte Region, sie könnten auch weitere Regierungsstürze durch die „Straße“ mit ausländischer (US-) Unterstützung inspirieren.

Zwar hat Putin insoweit recht, als die Destabilisierung des Nahen Ostens und Nordafrikas tatsächlich eine Folge der US-Interventionen war. Jedoch lässt sich gewiss nicht behaupten, dass Russland durch seine Militärpolitik für Stabilität sorgen würde, im Gegenteil. Russland ist weder konzeptionell noch von den Ressourcen her dazu in der Lage, eine verantwortungsvolle regionale oder gar globale Ordnungsmacht zu sein. Es begeht Kriegsverbrechen wie in Syrien und der Ukraine, um seine Interessen durchzusetzen; es höhlt multilaterale Institutionen systematisch aus oder nutzt sie, wenn das seinen Interessen dient.

Internationale Legitimation versucht Putin sich zu verschaffen, indem er seinen Handlungen einen legalistischen Anstrich verpasst. Das gipfelt in absurden Behauptungen wie der, wonach Russland in der Ukraine einen Genozid verhindere und das Land von Nazis säubere. Damit zieht Putin eine direkte Linie zwischen dem Eingreifen der NATO 1999 im damaligen Jugoslawien und dem Krieg Russlands in der Ukraine. Doch jenseits aller offiziellen Rechtfertigungen geht es dem Präsidenten um Vergeltung: für das Ende der Sowjetunion, für das Ignorieren russischer Interessen durch die USA und den Westen.



Das System Putin legitimieren

Mit dem Beginn der dritten Präsidentschaft Putins 2012 beobachten wir grundlegende Veränderungen in der russischen Politik. Konzepten einer Modernisierung oder Öffnung wurde endgültig eine Absage erteilt, da das einen Kontrollverlust des Regimes bedeutet und den Machtanspruch des Systems Putin infrage gestellt hätte. Gleichzeitig begann die russische Propaganda nach den Massendemonstrationen 2011/12 damit, die USA als Gegner aufzubauen; ein Feindbild, das zu einer zentralen Legitimationsressource des Systems Putin wurde. Es folgte ein systematisches Vorgehen gegen Oppositionelle, unabhängige Stimmen und Medien sowie die ausländische Finanzierung der russischen Zivilgesellschaft. Kritiker wurden als „Fünfte Kolonne“ des Westens diffamiert und zeitweise zu Freiwild erklärt.

Internet und soziale Medien wurden aus Instrumenten der Zivilgesellschaft in Werkzeuge der staatlichen Kontrolle der Gesellschaft verwandelt. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass dienten dazu, eine Integration der Ukraine in trans­atlantische Strukturen zu verhindern. Sie brachten Putin für eine gewisse Zeit hohe Zustimmungsraten – und das in einer Phase der wirtschaftlichen Stagnation.

Einher mit einer wachsenden Kontrolle der Gesellschaft ging ein immer stärkeres Sicherheitsdenken, verbunden mit Versuchen, das Land autark zu machen. Westliche Sanktionen hatten zwar nur begrenzte Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, sie befeuerten aber die Sicherheitslogik des Kremls. Moskau kümmerte sich verstärkt darum, Gelder russischer Beamter nach Russland zurückzuholen, deren Reiseaktivitäten einzuschränken und die Wirtschaft unabhängig von außen zu machen. Die Begrenzung der russischen Auslandsschulden auf unter 20 Prozent des BIP, das Anwachsen der Währungsreserven auf 550 Milliarden Euro und eine konservative Ausgabenpolitik während der Corona-Pandemie waren auch verbunden mit dem Ziel, Russland weniger verletzlich für ausländische Einflussnahme zu machen. Die liberalen Wirtschaftseliten wurden von eigenständig Handelnden oder gar Korrektiven des Präsidenten immer mehr zu Erfüllungs­gehilfen des Regimes bei der Absicherung der wirtschaftlichen Resilienz des Staates in der Vorbereitung eines größeren Konflikts mit dem Westen.

 

Moskaus globale Agenda

Auf die Sanktionspolitik des Westens seit 2014 reagierte Russland de facto mit einem nichterklärten Krieg gegen die USA, die EU und Europas NATO-Staaten. Mit Desinformationskampagnen und der Unterstützung antidemokratischer Kräfte machte sich der Kreml ans Werk, westliche Demokratien nach innen und global zu schwächen. Gleichzeitig ging es Moskau darum, durch eine Allianz mit China Autokratien weltweit zu stärken und Regimewechsel wie in Libyen oder im Irak künftig zu verhindern. Immer öfter stimmte man sich dafür mit Peking im UN-Sicherheitsrat ab.

Mit dem (Teil-)Rückzug der USA aus dem Nahen Osten, aus Nordafrika und Afghanistan eröffneten sich Räume, die Russland mit seinen begrenzten Möglichkeiten zu füllen versuchte. Angesichts eines BIP von der Größe Italiens setzte man dafür nicht auf wirtschaftliche Macht oder Soft Power, sondern auf militärische und hy­bride Mittel. Militär und Sicherheitsstrukturen wurden zum zen­tralen Instrument der russischen Außenpolitik.

Die erfolgreiche militärische Interven­tion in Syrien und der Aufbau von paramilitärischen Gruppen, die auch in Nahost und Afrika aktiv wurden, ließen Russland einflussreicher erscheinen, als es tatsächlich war. Russlands Machtprojektion beruhte auf der Schwäche des Westens und auf seiner Fähigkeit, rücksichtslos Konflikte zu nutzen oder zu schaffen, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Eines der Ziele des Kremls war es dabei, bestehende multilaterale Institutionen zu schwächen und parallele Formate zu schaffen, die von Moskau dominiert wurden – etwa das Astana-Format mit der Türkei und dem Iran im Syrien-Krieg oder das trilaterale Verhandlungsformat mit Armenien und Aserbaidschan im zweiten Berg­karabach-Krieg. Gleichzeitig wollte die russische Führung als verantwortungsvoller Akteur erscheinen und mit den großen Staaten mitreden, wie ihre konstruktive Rolle in den Verhandlungen des iranischen Atomprogramms gezeigt hat.

Russlands Angriff auf die Ukraine ist auch die Folge westlicher Appeasement-­Politik. Da sich die USA seit Barack Obama stärker aus der europäischen Sicherheitspolitik herausziehen wollten, nahm man in Moskau an, dass Washington bereit wäre, Kompromisse mit Blick auf die europäische Sicherheitsordnung einzugehen.

Dass es ein grundlegender analytischer Fehler des Westens war, Russland und China voneinander getrennt zu betrachten, zeigt die wachsende sicherheitspolitische, militärische und technologische Kooperation beider Länder in den vergangenen Jahren. Peking und Moskau teilen das Ziel, die von den USA geprägte globale Ordnung durch eigene Normen und Prinzipien abzulösen und multilaterale Institutionen in ihrem Sinne zu verändern oder auszuhöhlen. Die Präsidentschaft von Donald Trump hat Amerika weltweit geschwächt und die Dysfunktionalität seiner Demokratie gezeigt. Das wiederum versuchte Putin zu nutzen, um westliche Demokratien insgesamt zu diskreditieren.

Europas NATO- und EU-Staaten zogen daraus allerdings nicht die Konsequenz, mehr in ihre eigene Sicherheit zu investieren. Im Gegenteil, Deutschland als wirtschaftliche Führungsmacht in Europa machte sich fortwährend abhängiger von russischem Gas. Damit erweckte die Bundesregierung bei der russischen Führung den Eindruck, bestechlich und opportunistisch zu sein, was der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder durch sein Engagement bei Gazprom, Nord Stream und Rosneft nur bestätigte. Die Ignoranz von sicherheitspolitischen Realitäten in Europa und der Opportunismus der deutschen Politik gegenüber Russland haben Putin in seiner Haltung bestärkt, dass er mit seiner aggressiven Politik gegenüber der Ukraine straflos davonkommen werde. Das Scheitern der russischen Politik im Donbass und gegenüber der Ukraine ließen ihm aus seiner Sicht dann kein anderes Mittel, als die Ukraine anzugreifen.

Heute geht es nicht nur darum, die Ukraine als Staat zu erhalten, sondern auch darum, zu verhindern, dass die russische Aggression auf NATO-Gebiet übergreift. Die baltischen Staaten sind gefährdet, da sie eine russischsprachige Minderheit haben und Teile des postsowjetischen Raumes sind. Dem kann nur durch glaubwürdige militärische Abschreckung begegnet werden; eine Abschreckung, die Europa ohne die USA in den kommenden Jahren nicht wird leisten können, und das, obgleich man mittlerweile damit begonnen hat, seine Streitkräfte zu modernisieren. Deutschlands Sonderfonds von 100 Milliarden Euro und das erhöhte Militärbudget von 2 Prozent des BIP können nur der Anfang sein, die militärischen Fähigkeiten des wirtschaftlich stärksten europäischen Landes auf das Niveau des 21. Jahrhunderts zu bringen. Aufgrund der Krise der Demokratie in den USA wird es für Europa nötig sein, so bald wie möglich selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Hier werden Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine Führungsrolle übernehmen müssen.

Wladimir Putin ist zu einem Problem für Frieden und Stabilität in Europa geworden. Russland unter Putin muss eingehegt, seine Einflussmöglichkeiten auf die deutsche und europäische Politik müssen minimiert werden. Mit seiner aggressiven Politik wird Moskau auch in den kommenden Jahren die europäische und globale Sicherheit beeinflussen. China wird sich gegenüber diesem Russland positionieren müssen, da Putin den Konflikt mit dem „Westen“ weiter eskalieren lassen wird. Putins Entweder-oder-Politik, sein Nullsummendenken und die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, machen ihn dauerhaft zu einem unberechenbaren und gefährlichen Gegner. Ein schwächer werdendes Russland wird noch aggressiver agieren. Gleichzeitig braucht es eine Russland-Politik für die Zeit nach Putin. Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben. Ebenso gilt, Frieden in Europa wird es mit Wladimir Putin nicht geben.    



Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 18-23

Teilen

Mehr von den Autoren