Geopolitische Verschiebungen
Russlands Krieg gegen die Ukraine verweist auf die immense Bedeutung der Schwarzmeer- Region. Es ist höchste Zeit für die EU, eine Gesamtstrategie zu entwickeln.
Die Großregion um das Schwarze und das Kaspische Meer hat bisher als Korridor für Handels-, Transport- und Energierouten zwischen Asien und Europa eine begrenzte Rolle gespielt. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Blockade ukrainischer Häfen im Schwarzen Meer gewinnt diese Region indes geopolitisch und geoökonomisch an Bedeutung. Bereits mit der Annexion der Krim 2014 und der Übernahme der Kontrolle im Asowschen Meer hatte Russland die sicherheitspolitische Balance im Schwarzen Meer zu seinen Gunsten verschoben. Die russische Invasion der Ukraine seit Februar 2022 macht das Schwarze Meer zu einem Krisenherd, der die europäische Politik über die nächsten Jahre hinaus beschäftigen wird.
Die Entkopplung Deutschlands und anderer EU-Mitgliedstaaten von russischem Erdgas und -öl sowie westliche Sanktionen gegen Russland rücken den südlichen Transit- und Energiekorridor stärker in die politische Debatte. Auch für Russland gewinnt die Südroute an Bedeutung, um westliche Sanktionen zu umgehen. Gleichzeitig wird Russland durch den Krieg geschwächt und ist immer weniger in der Lage, Konflikte im Südkaukasus wie den zwischen Armenien und Aserbaidschan unter Kontrolle zu bringen.
Geostrategische Relevanz
Die Verengung der geopolitischen Debatte „nur“ auf das Schwarze Meer blendet die Relevanz dieser Region für einen viel breiteren strategischen Ansatz aus. Russland und die Türkei spielen eine zentrale Rolle bei der Verschiebung der geopolitischen Koordinaten. So ist aus russischer Sicht das Schwarze Meer ein Sprungbrett für Machtprojektion und Einfluss im Mittelmeer, im Nahen Osten, in Nordafrika und in Südeuropa. Das Schwarze Meer ist Zugang zu Schlüsselregionen, in denen wichtige sicherheitspolitische Herausforderungen (Syrien, Iran, Irak, Libyen) sowie bedeutende Energieressourcen (Naher Osten, Kaspisches Meer und Nordafrika) bestehen. Die Türkei ist zudem der wichtigste NATO-Partner am Schwarzen Meer. Ankara sieht sich als Brücke für den Handel zwischen Asien und Europa. Ein Hauptziel der Türkei ist es, Energiedrehscheibe aus dem Kaspischen Raum sowie dem Nahen Osten nach Europa zu werden.
Aus Sicht der EU war das Schwarze Meer bisher vor allem ein Raum für Handel, wirtschaftliche Entwicklung und den Rohstofftransit. Schwerpunkt der EU-Politik war die mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 ins Leben gerufene Black Sea Synergy als regionale Kooperationsplattform. Dieser Bottom-up-Ansatz reicht jedoch nicht aus, um tatsächlich ein relevanter Akteur in der geopolitischen Großregion zu werden. Die zentralen Herausforderungen in der Schwarzmeer-Region sind mit dem russischen Angriffskrieg umso mehr sicherheitspolitischer Natur.
Die Sicherung von Transitrouten sowie die Erschließung alternativer Quellen für Erdgas aufgrund der energiepolitischen Einflechtung von Russland machen Aserbaidschan und das Kaspische Meer erneut zu einem Fokuspunkt für die europäische Politik. Nach dem Scheitern der Nabucco-Pipeline 2013 und des Tiefseehafens im georgischen Anaklia müssen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten fragen, warum sie zwar weiterhin Infrastruktur und Reformen in der Region unterstützen, aber keinen strategischen Ansatz entwickelt haben, um diese stärker an die EU zu binden.
Strategische Herausforderungen
Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Versuch, das Land vollständig von seinen Häfen und den Transitmöglichkeiten im Schwarzen Meer abzuschneiden, erhöhen die Notwendigkeit für die EU und die NATO (für Europa der entscheidende sicherheitspolitische Partner), eine größere Rolle im Schwarzen Meer zu spielen. Die Türkei ist dabei der Schlüsselstaat, wie zuletzt das von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ausgehandelte Abkommen über Getreideexporte gezeigt hat. Gleichzeitig umwirbt Moskau Ankara mit Energieprojekten und Angeboten der Wirtschaftskooperation. Die Türkei soll aus Sicht Moskaus ein Schlüsselland werden, um westliche Sanktionen zu umgehen.
Russland verfolgt zwei zentrale Ansätze, die für den postsowjetischen Raum und damit auch für die Schwarzmeer-Region gelten: Verweigerung und Zwang. Als erstes wird postsowjetischen Staaten ein Zugang zu westlichen Institutionen verweigert. Vor allem die USA, die NATO und die EU sollen nicht die Agenda in den von Russland beanspruchten Einflusszonen bestimmen können. Als zweites sollen die Staaten der Region dazu gezwungen werden, die Dominanz Russlands zu akzeptieren. Durch Russlands Interventionen in Georgien (2008) und der Ukraine (2014) kann dieser Ansatz Erfolge aufweisen, gerät aber mit Moskaus aktuellem Krieg gegen die Ukraine an seine Grenzen. Die Ukraine akzeptiert nicht mehr, Teil einer russischen Einflusszone zu sein, und der Westen unterstützt sie mit Waffen und Sanktionen, um zu verhindern, dass Russland die Unterwerfung und Eingliederung der Ukraine mit Gewalt durchsetzt. Mit Blick auf das Ziel, den Energietransit aus dieser Region zu kontrollieren, war diese russische Politik weniger erfolgreich: Aserbaidschan exportiert über Georgien und die Türkei Erdöl und -gas in die EU.
Während für Georgien eine begrenzte Souveränität gilt, ist Moskau flexibler mit Blick auf strategische Partnerschaften sowie regionale Kooperation in der Kaspischen Region geworden. In den 1990er Jahren setzte Aserbaidschan noch auf eine Integration in die transatlantischen Strukturen. Nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 hat es aber zurückgesteckt und die von Moskau geforderte Neutralität verfolgt. Das bedeutet, dass Baku gute Beziehungen sowohl zu Russland als auch zum Westen anstrebt, ohne sich zwischen beiden entscheiden zu müssen. Die Tatenlosigkeit von NATO und EU im russisch-georgischen Krieg hat der aserbaidschanischen Führung verdeutlicht, dass der Westen den Ländern der Region keine Sicherheitsgarantien geben wird. Als Ergebnis strebt Aserbaidschan keine Mitgliedschaft in der NATO (oder EU) an, und Moskau erlaubt im Gegenzug, dass Baku wirtschaftliche und begrenzte sicherheitspolitische Kooperationen mit Drittstaaten wie der Türkei oder Israel eingehen kann. Bei letzterem ist Ankara Bakus wichtigster Partner geworden und war mitentscheidend für den aserbaidschanischen Erfolg im zweiten Bergkarabach-Krieg 2020.
Gleichzeitig hat Russland das wachsende sicherheitspolitische Gewicht Aserbaidschans anerkannt und das Land in trilaterale Formate mit dem Iran und der Türkei eingebunden. Ferner ist Aserbaidschan zu einem wichtigen Verbindungsstück im Nord-Süd-Korridor geworden, der Russland und Iran verbindet und damit in einem größeren Rahmen die Arktis mit dem Persischen Golf beziehungsweise dem Indischen Ozean. Mitte September 2022 haben Aserbaidschan, Iran und Russland ein Memorandum für einen Nord-Süd-Transitkorridor abgeschlossen, um die Infrastruktur und Transportkapazitäten auf dieser Route auszubauen.
Energie als verbindendes Element
In Sachen Energie hat sich die russische Politik von einer Blockadehaltung bei der Aufteilung des Kaspischen Meeres hin zu pragmatischen Kompromissen entwickelt. Hier waren es in erster Linie die USA, die durch die Unterstützung des Baus der Transkaukasischen Ölpipeline und der Südkaukasus-Gaspipeline sowie der Absicherung von Energieinfrastruktur aus dieser Region nach Europa in den 1990er Jahren eine zentrale Rolle gespielt haben. Als Gegenleistung dafür, dass Drittstaaten keinen Zugang zum Gewässer erhalten beziehungsweise keine militärische Infrastruktur stationieren können, hat Moskau der Aufteilung des Kaspischen Meeres in nationale Sektoren zugestimmt. Im Gegenzug dafür, dass die Anrainer Moskaus militärische Dominanz akzeptieren, hat Russland sogar seinen Widerstand gegen den Bau einer transkaspischen Infrastruktur weitestgehend aufgegeben.
Wegen Russlands Invasion der Ukraine und des wachsenden Drucks auf andere postsowjetische Staaten haben Länder wie Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan ein Interesse, unter Umgehung Russlands mehr Rohstoffe nach Europa zu exportieren, um Moskau stärker auszubalancieren. Deshalb könnte der Transit von Erdöl und -gas über das Kaspische Meer, den Südkaukasus und das Schwarze Meer an Bedeutung gewinnen. Inwieweit Russland hier die Länder Zentralasiens unter Druck setzen wird, um diese Diversifizierung zu verhindern, wird sich zeigen. Auf jeden Fall hat man es Kasachstan so schwer wie möglich gemacht, weitere Rohstoffe nach Europa zu transportieren: Pipelines und andere Liefermöglichkeiten wurden immer wieder unterbrochen.
Das Prinzip, dass militärische Infrastruktur von Drittstaaten in der Kaspischen Region nicht erlaubt ist, will die russische Führung auch für das Schwarze Meer durchsetzen. Hierbei ist für Moskau eine enge Koordination mit der Türkei in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen zentral, um den Einfluss von USA und NATO zu begrenzen. Moskau hat kein Problem damit, dass die Türkei NATO-Mitglied ist, solange sie sich mit Blick auf russische Interessen, wie bei der Annexion der Krim, neutral zeigt beziehungsweise mit Blick auf Bergkarabach die russische Dominanz akzeptiert.
Allerdings hat der Krieg gegen die Ukraine Russland geschwächt. Moskau hat seine fähigsten Truppen aus Abchasien, Südossetien und seine „Friedenstruppen“ in Bergkarabach abgezogen und durch Wehrpflichtige ersetzt. Die schwache Reaktion Russlands auf die Eskalation zwischen Aserbaidschan und Armenien im September zeigt, dass selbst ein eher kleines Land wie Aserbaidschan die Lage für geeignet hält, um auszutesten, wie weit es gegenüber Moskau gehen kann. Das kann nur in Abstimmung mit Ankara passieren, und die türkische Führung wird versuchen, durch die weitere Unterstützung Bakus mehr Einfluss im Südkaukasus und damit auch auf die Transitwege nach Zentralasien zu gewinnen.
Die Türkei unterstützt bisher die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht. Allerdings ist Erdoğan darauf bedacht, dass sein Land nicht selbst unter westliche Finanz- und Bankensanktionen gerät. Gleichzeitig hat sich die Verhandlungsposition der Türkei gegenüber Russland mit Blick auf Preisnachlässe für russisches Erdöl und -gas verbessert, und Erdoğan spielt eine Schlüsselrolle bei Verhandlungen zwischen Russland sowie dem Westen und der Ukraine im Schwarzen Meer. Am Rande des Gipfels der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan hat Erdoğan deutlich gemacht, dass er die Möglichkeit für Verhandlungen mit Moskau zur Beendigung des Krieges sieht, aber erst, wenn Russland alle besetzten Gebiete zurückgibt.
Europäische Sicherheit und Geopolitik
Die EU ist zwar ein wichtiger Markt für Energieressourcen aus der Region und ein bedeutender Akteur für wirtschaftliche Entwicklung sowie zivile Konfliktbearbeitung, als Sicherheitsakteur jedoch zu vernachlässigen. Bisher hat die EU weder den Anspruch noch die institutionellen oder materiellen Voraussetzungen geschaffen, um in der Großregion Schwarzes und Kaspisches Meer wirklich eine Rolle zu spielen. Umso wichtiger ist es, einer Strategiedebatte über die Bedeutung der Region für die europäische Sicherheit nicht länger aus dem Weg zu gehen.
Brüssel hat mit großen Infrastrukturprojekten seit den 1990er Jahren im Rahmen des Schwerpunktprogramms Transeuropäische Netze versucht, die Konnektivität der Region mit der EU zu verbessern. Gleichzeitig sind große Infrastrukturprojekte wie die Gaspipeline Nabucco gescheitert, und geoökonomisch wichtige Projekte wie der Tiefseehafen Anaklia an der georgischen Schwarzmeer-Küste haben nicht die notwendige Unterstützung bekommen.
Dabei bedarf es ambitionierter Projekte für den Bau von Infrastruktur und Transitkapazitäten zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer nach Europa. Dazu zählt perspektivisch auch der Ausbau einer Infrastruktur für alternative Energieträger wie Wind, Solar und Wasserstoff, die ein enormes Potenzial sowohl in der Türkei als auch im Südkaukasus haben. Diese würde Länder wie die Türkei und Armenien unabhängiger von Gaslieferungen auch aus Russland machen und Aserbaidschan ermöglichen, seine Wirtschaft weg von Erdöl- und -gasexporten zu diversifizieren. Aserbaidschan selbst kann kurzfristig nur geringe Mengen zusätzliches Gas für den europäischen Markt liefern. Aber Baku ist bereit, mehr Gas aus Zentralasien durch die Südkaukasus-Gaspipeline in Richtung Europa zu lenken.
Es fließen relevante Mittel aus der EU und europäischen Finanzinstitutionen in einzelne Länder der Region, ohne dass diese Investitionen vor Ort in einem Gesamtkontext als strategisches Instrument zusammengefasst werden. Zwar hat China mit seiner Belt and Road Initiative diese Region bisher nicht prioritär behandelt, aber die EU wird mittelfristig Antworten auf den wachsenden ökonomischen Einfluss Chinas dort finden müssen. Einzelinitiativen wie die Östliche Partnerschaft, die Black Sea Synergy, die Zentralasien-Strategie, die Konnektivitätsstrategie und Transeuropäische Netze sollten deshalb in einer Gesamtstrategie für die Großregion Schwarzes und Kaspisches Meer zusammengefasst werden. Dabei ist die Integration von Staaten wie der Ukraine und Georgien in die EU ebenso wichtig wie eine Verbesserung der Beziehungen zur Türkei als Schlüsselland in der Region.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 74-78