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01. Juli 2009

Twitter, Facebook, Politpiraten

Der Einfluss des Internets auf die Politik

Im Vorfeld der Europawahlen ist die Bedeutung digitaler Kommunikation als Mittel der Wählermobilisierung erneut deutlich geworden. Doch das Internet ist mehr als eine elektronische Plakatwand. Es kann Themen platzieren und beeinflusst so die Inhalte von Politik. Dies kann letztlich sogar auf die Struktur des politischen Systems rückwirken.

Im Superwahljahr 2009 steht die Mobilisierung von Unterstützern und Wählern wieder einmal weit oben auf der Agenda von Parteien und Politikern. Doch die traditionellen Methoden des Wahlkampfs werden zunehmend durch digitale interaktive Kommunikationsformen ergänzt. Dies war auch im Vorfeld der von den Wählern stark vernachlässigten Europawahl der Fall. Wer die unterschiedlichen Aspekte digitalisierter Politik genauer analysiert, wird jedoch feststellen, dass die Nutzung des Internets keineswegs ausschließlich Marketing- und Kommunikationszwecken dient. Denn das Internet beeinflusst Politik auf mehreren Ebenen. Die im angelsächsischen Raum übliche Unterteilung des Politikbegriffs in politics, policy und polity – also in die Prozess-, Inhalts- und Struktur-Dimension von Politik – bietet sich in diesem Zusammenhang als Ausgangspunkt der Betrachtung an.

Wahlkampf und Wahlberichterstattung: „e-politics“

Die klassische Form des digitalen politischen Handelns findet zunächst auf der Prozessebene statt, insbesondere im Umfeld von Wahlen. Dies ist nicht erst seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr der Fall. Neue Techniken und Plattformen bereichern bereits seit Mitte der neunziger Jahre die zunehmend mediengestützte Wahlkampfführung. Dennoch markiert der Wahlkampf um das Weiße Haus den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung. Das Team um den demokratischen Wahlkampfmanager David Axelrod setzte neue Maßstäbe im Online-Wahlkampf, indem es die Verzahnung unterschiedlicher Komponenten wie der digitalen Spendeneinwerbung, dem Versand von E-Mail-Nachrichten oder der breiten Präsenz auf Video-Plattformen wie YouTube vorantrieb. Insbesondere gelang den Demokraten über die Webseite My.Barack-Obama.com der Aufbau eines regional organisierten Unterstützernetzwerks.

Die Online-Kampagnen zur diesjährigen Europawahl waren zwar weniger umfangreich und ausgereift. Doch setzten auch zahlreiche europäische Parteien auf eine im Kern ähnliche Strategie. Dahinter stand, wie in den USA, die Idee einer Abkehr von altgedienten „Top-down-Strategien“. Der Wahlkampf sollte nicht mehr ausschließlich als zentral organisierte Marketingaktion geführt werden, sondern freiwillige Unterstützer als – nahezu – gleichberechtigte Mitstreiter integrieren. Insbesondere in Deutschland setzte sich die Auffassung durch, dass eine zeitgemäße Nutzung des Internets in der politischen Kommunikation nicht mehr allein auf Partei-Websites (spd.de), durch Kandidaten-Homepages (koch-mehrin.de) oder mit speziellen Kampagnen-Seiten (gruene.de/meine-kampagne.html; europeecologie.fr/contenu/le-kit-militant) gelingen kann.

Der Online-Wahlkampf 2009 verlagerte sich vielmehr auf Plattformen, die eine hohe Popularität und Reichweite bei den Internetnutzern aufweisen: allen voran das Videoportal YouTube, das Online-Netzwerk Facebook sowie der Kurznachrichtendienst Twitter. Die Bereitstellung und Verbreitung von Wahlwerbespots auf YouTube stellen zunächst einmal nur eine technologisch leicht verschobene Fortsetzung des Fernsehwahlkampfs dar. Durch die Einrichtung so genannter „Kanäle“ bündeln Parteien oder einzelne Politiker (youtube.com/cdutv?gl=DE&hl=de) ihre Werbefilme und steigern so die Sichtbarkeit ihrer Kampagnen unter jungen Wählern und jenseits der etablierten Medien.

Im US-Präsidentschaftswahlkampf kam insbesondere so genannten „Social Network Sites“ wie den Plattformen MySpace oder Facebook eine zentrale Rolle zu. Denn auch über diese Seiten wurde der Aufbau von Unterstützernetzwerken auf lokaler oder regionaler Ebene organisiert. Politiker richteten sich dort „Profile“ – also persönliche Informationsseiten – ein, auf denen sich in kurzer Zeit eine Vielzahl von Nutzern als „Freunde“ oder „Unterstützer“ registrierten. So entstanden neue Netzwerke zur politischen Kommunikation außerhalb der etablierten Parteistrukturen, die den Akteuren einerseits die Mobilisierung und Rekrutierung freiwilliger Wahlhelfer und andererseits den Vertrieb digitaler Informationsmaterialien ermöglichen. Auf Barack Obamas Profilseite haben sich inzwischen knapp 6,4 Millionen Befürworter aus aller Welt eingetragen.

In Europa betreiben Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi zwei der populärsten Facebook-Profile. Sie konnten bisher rund 120 000 bzw. 135 000 Unterstützer auf ihren Seiten versammeln. Im Unterschied zum amerikanischen Modell tritt hier allerdings der konkrete politische Anwendungsbezug in den Hintergrund. Es geht vielmehr darum, die Außenwirkung des jeweiligen Politikers zu vergrößern und das Bild eines „Polit-Stars“ zu vermitteln. Die Profile von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier sind dagegen sehr viel stärker auf eine Einbettung in politische Kampagnen ausgerichtet. Zugleich dokumentieren sie jedoch die Schwierigkeiten, auf die politische Akteure in der neuen Kommunikationsumgebung stoßen, wenn sie einen produktiven Dialog eröffnen wollen. Die Profile Merkels und Steinmeiers konnten bislang lediglich 10 000 bzw. 4000 Befürworter anziehen.

Der während des US-Wahlkampfs eingesetzte Kommunikationskanal Twitter gehört bisher jedoch nur für einen kleinen Teil der europäischen Politiker zum Medienalltag. Der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer zählt hier zu den Vorreitern: Er twittert unter dem Kürzel „@bueti“. Das Prinzip des Angebots wird bereits mit dem Namen – „twitter“ ist das englische Wort für Gezwitscher – recht gut charakterisiert. Zunächst erstellen Nutzer auch hier ein Profil und können daraufhin Nachrichten mit einer Länge von bis zu 140 Zeichen versenden. Andere Nutzer des Kommunikationsnetzwerks empfangen die Mitteilungen oder „Tweets“, wenn sie den Nachrichtenstrom einer Person abonnieren und damit zu deren „Follower“ werden.

Im Wahlkampf wird dieses Werkzeug beispielsweise als eine Art Nachrichtenticker mit Informationen zum Kampagnenverlauf eingesetzt. Aber auch Terminankündigungen können über das Programm kommuniziert werden. Teilweise werden gar Gegenargumente zur Position politischer Konkurrenten versandt. In diesem Fall wird entweder in wenigen Worten eine Gegenposition vertreten oder mittels eines Querverweises auf andere Online-Inhalte – wie etwa die eigene Website, ein Interview oder das Parteiprogramm – die eigene Aussage untermauert. Im Zuge von Wahlkampagnen können politische Twitter-Nutzer die Zahl ihrer Abonnenten oft deutlich steigern. Bisweilen werden über diesen Kanal allerdings auch exklusive Informationen verbreitet. So verkündete zum Beispiel der britische „Minister for Digital Engagement“, Tom Watson, seinen Rücktritt über Twitter (twitter.com/tom_watson).

All die genannten Online-Plattformen haben eines gemeinsam: Sie sind keine national begrenzten Kommunikationskanäle und eröffnen deshalb ernstzunehmende Möglichkeiten für einen grenzüberschreitenden Austausch. Dennoch entwickelte sich bei Facebook, YouTube oder Twitter keine grenzüberschreitende europäische politische Wahlkampfkommunikation. Dies ist in erster Linie eine Folge der bis auf wenige Ausnahmen auf nationale Themen ausgerichteten Wahlkämpfe. Immerhin: Es sind zumindest erste Projekte entstanden, die eine „europäische Öffentlichkeit“ über die nationalen Grenzen hinaus geschaffen haben. Das Projekt TweetElect09 beispielsweise führte europaweit Twitter-Nachrichten zur Europawahl zusammen. Es ermöglichte so einen Einstieg in politische Diskussionen. Die Mitteilungen konnten dann nach Herkunftsland, der inhaltlichen Ausrichtung auf eine bestimmte Partei oder den Erwähnungen einzelner Politiker gefiltert werden. Unterm Strich blieb die Nutzung neuer Medien, die im Vorfeld der Europawahl auf der Prozessebene des Wahlkampfs und der Wählerkommunikation stattfand, jedoch hinter ihrem Potenzial zurück.

Urheberrecht und Internetzensur als Politikthemen: „e-policy“

Andererseits kam in einigen Politikfeldern – also auf der Policy-Ebene – eine rege Diskussion über wünschenswerte Inhalte von Politik zustande. Gleich in mehreren Ländern wurden mittels Online-Foren Fragen aus dem Bereich der „digitalen Bürgerrechte“ diskutiert. In Schweden und Deutschland ging es insbesondere um die Reform des Urheberrechts. In Schweden und Frankreich entbrannte eine Diskussion um Sanktionen gegen Online-Tauschbörsen und die Nutzer illegal kopierter Musik- und Textdateien. In Deutschland riefen zudem die Pläne des Familienministeriums, Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten lediglich „sperren“ und nicht schließen zu lassen, Kontroversen hervor.1 Themen, die in unterschiedlichen Ländern zeitgleich Gegenstand der Debatten sind, gelten Vielen als Chance zur Entstehung einer empirisch erkennbaren „europäischen Öffentlichkeit“. Dazu müssen sich national geführte Diskussionen grenzüberschreitend miteinander verschränken. Im Falle „digitaler Bürgerrechte“ könnte dies durchaus der Fall sein, denn gerade die juristische Praxis zeigt deutlich, dass nationale Lösungen angesichts der transnationalen Gestalt der Online-Kommunikation nicht funktionieren können.

Doch bisher tragen nationale Gesetze zumeist die Handschrift von Politikern der alten Generation. Sie sind auf eine positive Resonanz in der heimischen Öffentlichkeit hin konstruiert und zielen meist auf die Stimmen solcher Wähler ab, die dem Internet kritisch gegenüberstehen. Die technischen Gegebenheiten des Internets werden daher oft ignoriert. Auch wird in vielen Fällen darauf verzichtet, die entsprechende Expertise einzuholen. So werteten die schwedischen Internetaktivisten der „Piratpartiet“ (Piratenpartei) ebenso wie die deutschen Kritiker von Ursula von der Leyens Vorstoß zur Errichtung von „Stoppschildern im Internet“ die gegenwärtigen Gesetzesinitiativen als Ausdruck einer „internetfeindlichen“ Politik. Zugleich betrachten die Aktivisten die gegenwärtige Situation als eine Art neuartigen Generationenkonflikt und werfen der politischen Elite vor, die Bedeutung der Online-Kommunikation für die Lebenswelt vieler Menschen zu vernachlässigen. Doch die „digital natives“, also jene in die digitalisierte Medienwelt hineingeborenen Teenager und jungen Erwachsenen, stellen nur einen Teil der neuen politischen Interessengemeinschaft dar. Längst ist die Nutzung interaktiver Medien auch für viele der 40- und 50-Jährigen selbstverständlich geworden. Die schwedischen, französischen und deutschen Versuche, der Bewegungsfreiheit im Internet Grenzen zu setzen, stehen exemplarisch für eine ganze Reihe von Maßnahmenpaketen zur Regulierung von Internetinhalten. Neue Kommunikationsformen werden künftig auch in anderen Politikfeldern eine größere Bedeutung erlangen. Gerade in der Diskussion über die unmittelbar verwandten Bereiche digitale Bürgerrechte, Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung spielen Online-Foren aber schon heute eine zentrale Rolle.

Neue Impulse für politische Organisationen aus dem Netz: „e-polity“

Auch auf institutioneller Ebene sind die Einflüsse digitaler interaktiver Medienkommunikation längst zu beobachten. Am anschaulichsten lässt sich dies anhand des Wahlerfolgs der schwedischen „Piratenpartei“ (piratpartiet.se) demonstrieren. Innerhalb weniger Wochen vor der Europawahl konnte die Gruppierung einen rapiden Mitgliederzuwachs verzeichnen und ist mittlerweile zur drittgrößten Parteiorganisation Schwedens aufgestiegen. Ausgelöst wurde die Eintrittswelle in die Partei durch Haftstrafen, die gegen vier Personen aus dem Umfeld des Online-Tauschnetzwerks „The Pirate Bay“ wegen „Beihilfe an schweren Urheberrechtsverletzungen“ ausgesprochen wurden. Bei der Europawahl erhielt die Piratpartiet insgesamt 7,1 Prozent der Stimmen und kann mit Christian Engström einen Abgeordneten ins Europaparlament entsenden. In der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen erreichte die Partei sogar 19 Prozent. Dies ist umso erstaunlicher, als die Piratenpartei eine so genannte „Single issue“-Partei ist: Ihr einziges programmatisches Ziel ist die Wahrung der digitalen Bürgerrechte. Einen ersten Verträglichkeitstest im Kontext „klassischer“ Politik wird die Partei in Kürze auf europäischer Ebene bestehen müssen, wenn es um die Frage des Anschlusses an eine Parlamentsfraktion geht. Für eine parlamentarische Kooperation kämen wohl nur die Liberalen oder die Grünen ernsthaft in Frage.

In Deutschland wird diese Entwicklung genau beobachtet – zunächst vor allem von der deutschen Piratenpartei. Die hierzulande bisher meist als „Spaßpartei“ gehandelte Liste konnte bei der Europawahl zwar lediglich 0,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Doch die geografische Verteilung ihrer Wählerschaft lässt durchaus erahnen, dass sich auch in Deutschland eine neue, internetaffine Klientel finden und formieren könnte: Die Hochburgen der Partei liegen in verschiedenen Studentenstädten.2 Nun bereitet die Piratenpartei die Teilnahme an der Bundestagswahl vor, indem sie die hierfür benötigten Unterschriften sammelt. Unterstützung erhalten könnte die Partei von den Unterzeichnern einer überaus erfolgreichen Online-Petition, die unter dem Titel „Internet – keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ auf der Seite des Deutschen Bundestags zu finden ist. Kurz vor Ende der Mitzeichnungsfrist am 16. Juni hatten bereits mehr als 117500 Menschen der knapp formulierten Kritik am Entwurf des „Sperrlisten-Gesetzes“ zugestimmt.3

Ob sich die Piratenpartei trotz ihrer engen inhaltlichen Ausrichtung und der noch überschaubaren Klientel aus überzeugten „Netzbürgern“ etablieren wird, hängt auch von den Reaktionen der etablierten Parteien ab. Im Zuge der Debatte um „Internet-Stoppschilder“ reagierten diese recht verhalten auf die Kritik der Internet-Community. Zwar entschieden sich verschiedene Fraktionen nachträglich zur Anhörung von Sachverständigen zu der Thematik. Doch eine klare Positionierung ist in der Frage der „digitalen Bürgerrechte“ bislang kaum zu beobachten. Die Regierungsparteien leiden noch unter dem Image des verunglückten Gesetzentwurfs und konnten sich bisher zu keiner Kurskorrektur durchringen. Zugleich scheint Die Linke ihre Hauptzielgruppe nicht unter den Internetnutzern zu vermuten. Ähnlich wie auf europäischer Ebene herrscht denn auch in Deutschland bei den Grünen und der FDP die größte Offenheit gegenüber der Rechts- und Freiheitsdebatte im Internet. Ob die Frage der „digitalen Bürgerrechte“ sich dauerhaft als relevante Konfliktlinie erweisen wird, bleibt abzuwarten. Auch die Frage, ob etablierte Parteien das neue Politikfeld aus nationaler Perspektive ins Visier nehmen werden oder ob sich international kooperierende „Ein-Themen-Parteien“ positionieren können, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschließend beantwortet werden.

Der Europawahlkampf hat gezeigt: Digitale Formen der Kommunikation haben in alle Bereiche des politischen Lebens Einzug gehalten. Auf der Prozessebene der politischen Kommunikation spielten Neue Medien eine wichtige Rolle – auch wenn ihr Potenzial nicht ausgeschöpft wurde. Doch das Internet ist über seine Funktion als Mittel zur politischen Mobilisierung hinausgewachsen. Mit der Debatte um die Internetzensur wurde es selbst zum Politikum und hat über den Einzug der schwedischen Piratenpartei ins EU-Parlament letztlich auch einen Effekt auf die institutionelle Organisation von Politik. Der Einfluss Neuer Medien auf alle drei Dimensionen des Politischen wird weiter steigen. Das wird auch der Bundestagswahlkampf unter Beweis stellen.

Dr. CHRISTOPH BIEBER forscht an der Universität Gießen zu Politischer Kommunikation und Neuen Medien sowie im Bereich Internet und Demokratie.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2009, S. 10 - 17.

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