Tiefe Risse in der Demokratie
Der Populismus als Faktor der ostmitteleuropäischen Politik
Die populistischen Auswüchse der letzten Jahre in Polen, Litauen, Ungarn und der Slowakei kamen nicht von ungefähr erst nach dem vollzogenen EU-Beitritt zum Vorschein. Der Populismus ersetzt linke und rechte totalitäre Ideologien – und er artikuliert die Spannungen zwischen den Gewinnern und den sich ausgeschlossen Fühlenden der Gesellschaft.
Der Populismus ist die Kehrseite einer verfehlten Demokratie, wie sie seit längerem nicht nur in den postkommunistischen Ländern zum Vorschein kommt. Wenn in Deutschland Hunderttausende gegen notwendige Wirtschaftsreformen protestieren und der „polnische Fliesenleger“ zum Sinnbild der sozialen Bedrohung schlechthin wird, wenn in Frankreich und den Niederlanden, immerhin EU-Gründungsländern, der Verfassungsvertrag im Namen eines „Wirtschaftspatriotismus“ abgelehnt wird und in Italien ein korrupter Medienmogul unbehelligt regieren kann, dann stellen die populistischen Auswüchse der letzten Jahre in Polen, Litauen, Ungarn oder in der Slowakei keineswegs nur Friktionen der „Transformationsphase“ dar, sondern spiegeln tiefschichtige Risse in der Demokratie wider.
Diese Auswüchse kamen in Ostmitteleuropa nicht von ungefähr erst nach dem vollzogenen EU-Beitritt zum Vorschein. Davor stützte noch das Korsett der Beitrittsverhandlungen. Linke wie rechte Regierungen hielten sich am Brüsseler Geländer fest, was die Gesellschaften in den Beitrittsreferenden bestätigten. Danach ließ man die Katze unbekümmert aus dem Sack. Ausgerechnet in der Slowakei, die beachtliche Erfolge in der Sanierung der öffentlichen Finanzen aufzuweisen hatte und durch eine drastische Steuersenkung zu einem attraktiven Standort für ausländische Investoren geworden war, kamen bei den Präsidentschaftswahlen 2004 zwei postkommunistische Nationalisten in die Endrunde, von denen der eine derselbe Vladimír Me‹iar war, der in den neunziger Jahren das Land auf ein totes Gleis gefahren hatte.
Auch in Litauen wurde zu dieser Zeit ein Kandidat zum Staatspräsidenten gewählt, hinter dem ein dubioser russischer Neureicher und somit auch der russische Geheimdienst stand. Ronaldas Paksas trat dann zwar zurück, doch bei den litauischen Wahlen im Oktober 2004 konnte die aus dem Nichts entstandene „Arbeitspartei“ von Viktor Uspaskich, einem litauisch-russischen Geschäftsmann mit unklarem Hintergrund, die Parlamentswahlen mit 24 Prozent gewinnen. Die „Ungarische Partei der Wahrheit und des Lebens“ (MIÉP) von István Csurka, der vor offen antisemitischen Parolen nicht zurückschreckt, die tschechischen „Republikaner“ und die „Liga der polnischen Familien“, die gegen die „deutsche Gefahr“ wettern, befinden sich zwar am Rande des Parteienspektrums, doch der Populismus herrscht als Politikstil auch der stärksten Parteien vor.
Man konnte in Polen in den letzten drei Jahren genau beobachten, wie dieser Mechanismus eskalierte. Nach dem erdrückenden Sieg der postkommunistischen SLD (Demokratische Linksallianz) im Jahr 2001 begann in Folge zweier spektakulärer Korruptionsaffären eine moralische Demontage der alten „Machteliten“. Ihre Seilschaften in Politik, Wirtschaft und den Geheimdiensten wurden zuerst von den Medien aufgedeckt und anschließend vom Sejm durch die öffentliche Übertragung der Verhöre vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss publik gemacht, was zu ihrer Diskreditierung führte. Um der innenpolitisch gelähmten SLD-Regierung ihre einzigen, nämlich außenpolitischen Trümpfe aus der Hand zu schlagen, starteten die Oppositionsparteien eine populistische Kampagne in der polnischen Deutschland- und Europa-Politik.
Unter der irrwitzigen Parole „Nizza oder Tod“ machte die ansonsten proeuropäische „Bürgerplattform“ (PO) mobil gegen die EU-Verfassung, indem sie an das in Polen tief sitzende Misstrauen gegenüber den „Großen“ appellierte, die die Polen angeblich nur austricksen und bevormunden wollen. Zugleich profilierte sich die nationalkonservative „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) als jene Partei, die in der polnischen Deutschland- und Russland-Politik einen Kurswechsel und eine effektive Durchsetzung polnischer Nationalinteressen erzwingen wollte.
Einpeitscher und Strippenzieher
Die PiS gewann schließlich den populistischen Wettlauf. Seitdem steht Jaroslaw Kaczynski einem permanenten Aufruhr im Lande vor. Der PiS-Vorsitzende ist nicht der erste Populist in der polnischen Politik, doch sicherlich der effizienteste. Seine Partei gewann im September 2005 die Parlamentswahlen, sein Zwillingsbruder wurde einen Monat später zum Staatspräsidenten gewählt. Und er selbst beherrscht die polnische Politik als Einpeitscher und Strippenzieher, ohne unmittelbare Regierungsverantwortung zu übernehmen. Sein Ministerpräsident, Kazimierz Marcinkiewicz, führt zwar die Popularitätslisten an, doch nicht er ist der entscheidende Stratege, sondern der Parteivorsitzende, der die – 1989 am „Runden Tisch“ ausgehandelte und inzwischen an die NATO und die EU angedockte – III. Republik unablässig durchschüttelt, um sie als IV. Republik vollkommen neu zu strukturieren, die alten „Seilschaften“ zu zerschlagen, den Staat zu straffen und durch ein Zweiparteiensystem nicht nur die Postkommunisten, sondern auch die rechten Splitterparteien ein für alle Mal auszuschalten. Er gibt gerne zu, dass ihm das Regiment der CSU in Bayern als Modell vorschwebt, konservativ, wirtschaftlich erfolgreich und über Jahrzehnte gleichsam auf der Regierungsbank festzementiert.
Doch Jaroslaw Kaczynski ist kein polnischer Franz Josef Strauß. Er unterscheidet sich nicht nur körperlich von dem massigen Bayern. Er kann zwar genauso geifern und poltern, doch dem verbissenen Single aus der Warschauer „Intelligenzler-Siedlung“ in uoliborz fehlt nicht nur die derbe Lebensfreude des Metzgersohns aus München, sondern auch die jahrzehntelange Regierungsverantwortung. Er symbolisiert keine erfolgreiche Verwaltung, sondern den Zorn eines großen Teiles der polnischen Gesellschaft gegen den bisherigen Staat.
Der „Erste Zornige der IV. Republik“, wie ihn die Gazeta Wyborcza nannte, hat sich zum wichtigsten Sprecher und Hoffnungsträger der Ausgeschlossenen aufgebaut, derjenigen, die in der Volksrepublik Polen – aus welchen Gründen auch immer – keine Karriere gemacht haben und die auch nach 1989 auf der Strecke blieben. Er hatte namhafte und schillernde Vorgänger, angefangen mit Lech Walesa. Der legendäre Danziger Elektriker entfachte 1990 den „Krieg an der Spitze“ mit populistischen Parolen gegen die Warschauer Eliten. Diese sollte im undurchdringlichen Techtelmechtel der kommunistischen und der Solidarnosc-Intellektuellen angeblich einen undurchschaubaren Deal eingegangen sein, der die alten Parteikader zum Hauptnutznießer der Wende machte. Doch als Staatspräsident ließ Lech Walesa von seinem Populismus wieder ab.
Er fand allerdings einen Nachahmer in dem dubiosen Bauernrebellen Andrzej Lepper, den zwar nichts mit der alten Solidarnosc verband, der aber Anfang der neunziger Jahre deren Methode der „direkten Demokratie“ in Form von Straßenblockaden und gewalttätigen Polithappenings nachahmte und damit Protestwähler um sich scharte. Er wetterte gegen „die da oben“ in Warschau und gegen die EU und genoss seine Rolle als rüpelhafter Bürgerschreck. Heute sitzt er als Vizemarschall seiner Partei „Selbstverteidigung“ (Samoobrona) im Sejm vor, spricht leise und kultiviert und bemüht sich, als „Hiwi“ der Kaczynskis politisch zu überleben. Sein politisches Ziel ist ein Regierungsposten an der Seite der PiS, was für ihn einem Adelsbrief gleichkäme. Zu Ostern verkündete Kaczynski dann tatsächlich formell die Koalition seiner Partei mit Samoobrona.
Die bösartige Form des polnischen Katholizismus
Eine Chance auf ein Regierungsamt hat Tadeusz Rydzyk nicht. Der Erlösungsprediger hat mit dem katholisch-fundamentalistischen Rundfunksender „Radio Maryja“ und der Fernsehstation „Trwam“ (Ich verharre) ein Medium geschaffen, das direkt in die polnische Politik eingreift; der Freundeskreis von „Radio Maryja“ wurde zum Grundstock von Roman Giertychs „Liga polnischer Familien“ (LPR), die nun ebenfalls im Sejm als Mehrheitsbeschaffer der PiS ihr Leben fristet. Pater Rydzyk hat inzwischen seinen Günstling gewechselt; nachdem er die LPR fallen ließ, unterstützte er massiv die PiS, wofür sein Medienkonzern das Privileg erhielt, von der Regierung Marcinkiewicz bevorzugt behandelt zu werden. Vor Rydzyks Kameras erfolgen die exklusiven Verlautbarungen und Interviews der Regierungsmitglieder und der PiS-Führung. Trotzdem hat Tadeusz Rydzyk natürlich keinerlei Chance, ein polnischer Silvio Berlusconi zu werden, zumal sein massives Eingreifen in die polnische Politik auch zu heftigen Auseinandersetzungen in der polnischen Bischofskonferenz führte. Er schuf eine bösartige und karikaturhafte Form des polnischen Katholizismus „der armen Leute“, der durch seinen Fanatismus, Obskurantismus und seine Fremdenfeindlichkeit viele Menschen anwidert, obwohl sie von der Transformation enttäuscht und daher zornig sind.
Der konservative Populist Jaroslaw Kaczynski dagegen – mit seiner glänzenden Biographie in der Bürgerrechtsbewegung der siebziger und in der Solidarnosc der achtziger Jahre – hat sich zum ersten glaubwürdigen Anführer der enttäuschten Verlierer der Transformation entwickelt. Weil er nicht so primitiv und obskur wie die anderen auftritt und argumentiert, brauchen sie sich seiner nicht zu schämen. Und – was noch wichtiger ist – er änderte nach dem Sieg seine Phraseologie nicht. Seine Radikalität und Inbrunst bei der Entlarvung seiner politischen Feinde überzeugten seine Anhänger, dass er tatsächlich dazu steht, was er im Wahlkampf sagte, nämlich dass er die ominösen „uklady“ (Seilschaften) zerschlagen, die Korruption unterbinden und die Halunken am Kragen vor den Kadi zerren will. Er demonstriert auch, dass er selbst keine Macht und keinen Profit beansprucht. Und – vielleicht am wichtigsten –, dass ihn die rationalen und realpolitischen Anforderungen der Machtausübung nicht interessieren.
Die Crux dabei ist allerdings, wie Marek Beylin in der Gazeta Wyborcza feststellte, dass Jaroslaw Kaczynski ein Symbol des Volkszorns nur „jenseits der normalen, demokratischen Politik“ bleiben kann, indem er „gleichsam als ein gespenstischer Einheizer der Revolution kollektive Emotionen am Kochen hält und auf die ‚Bösen‘ hinweist, um die ‚Guten‘ zu befriedigen“. Er „zerstört den demokratischen Staat. Er schaut auf ihn wie ein Ausgeschlossener und ewig Erniedrigter auf seinen Unterdrücker“. Kaczynski spaltet und polarisiert die polnische Gesellschaft, indem er anhand immer neuer Feindbilder den Volkszorn schürt. Er weiß, dass seine rüden Angriffe auf Juristen, Finanzexperten, Medienleute oder Ärzte, gegen die „Lügeneliten“, die Liberalen, die 1937 von Stalin liquidierte KPP, den freien Markt und die Korruption bei vielen gut ankommen.
Irgendwann wird er seine Möglichkeiten, die Stimmung anzuheizen, wohl erschöpfen, doch die angefeindeten Berufsgruppen werden ihm seine Denunziationen nicht vergessen. Er wird schließlich scheitern und an seiner Legende laborieren. Somit „setzt Kaczynski den polnischen Kanon jener Helden fort, die für die gerechte Sache fielen. Das Problem ist nur, dass seine Handlungen nicht nur für die nationale Mythologie, sondern auch für unser Leben Folgen haben werden“, meint Beylin. Und die seien: eine gefährliche Aushöhlung des Pluralismus in den staatlichen Institutionen und vor allem eine Verdrängung der Verlierer der Transformation von der rationalen Politik. Er bevormunde sie und mache sie zu „Gefangenen ihres Zornes“, anstatt ihnen den Anschluss an die Modernisierung zu erleichten. „Das ist eine verkrüppelte Form der plebiszitären Demokratie, in der es ein ständiges Scheinreferendum – in Form von Meinungsumfragen – und eine ständige Verbindung mit der Gesellschaft durch die Medien gibt.“
Hanebüchene Analogien
Diese Art der Kommunikation ist bewusst antiaufklärerisch. Die populistische Pervertierung der Stimmungsdemokratie beruht auf einer starken Emotionalisierung der Sprache, klaren Schuldzuweisungen und einer vagen programmatischen Festlegung. Die Versuche allerdings, die Sprache der IV. Republik mit der LTI, der Lingua Tertii Imperii des Dritten Reiches, zu vergleichen, wie es Agnieszka Wolk-Laniewska in Jerzy Urbans skandalumwitterter Wochenzeitung Nie tat, sind irreführend. Sie stellte Kaczynskis Zitaten über den Feind, die Vergeltung, die legale Revolution, die Verfassung, die Juristen usw. entsprechenden Passagen aus „Mein Kampf“ gegenüber, und die Redaktion bebilderte das mit Fotomontagen aus Chaplins „Großem Diktator“. Diese Analogien sind hanebüchen, weil es in Kaczynskis Staatsauffassung zwar eine autoritäre Anwandlung, aber keine totalitär uniformierende Ideologie gibt. „In der Sprache der PiS ist alles in Angriff genommen und nichts abgeschlossen …“, pointierte die Polityka ihre Untersuchung der „gleichsam amtlichen“ Sprache der führenden PiS-Politiker.
Die oppositionellen PO-Politiker, wie der gescheiterte Präsidentschaftskandidat Donald Tusk, werfen dem PiS-Vorsitzenden eine antiquierte Demokratieauffassung vor, die weniger von der realen Erfahrung einer Zivilgesellschaft als von der Sehnsucht nach einem starken Staat geprägt ist, der die Gewaltenteilung nicht ernst nimmt und seine kontrollierende Hand über alle Lebensbereiche der Bürger halten möchte: „Jeder Politiker und jede Partei, die 16 Jahre nach Polens Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit erneut die Hand nach den Rechten, den Freiheiten und dem Geld der Polen ausstreckt, ist eine Obrigkeit, die mit dem Bazillus des Kommunismus infiziert ist.“ Die Folge davon werde die Flucht von einer Million junger Polen ins Ausland sein, schleuderte er dem PiS-Vorsitzenden während einer hitzigen Sejm-Debatte über die Unabhängigkeit der Nationalbank entgegen. Die brüske Retourkutsche ließ natürlich nicht auf sich waren. Tusk und die „Bürgerplattform“ verteidigten einen Status quo, in dem die Postkommunisten und ein Teil des Solidarnosc-Lagers sich auf der Basis „eines Lumpenliberalismus“ verständigten, der die Ungerechtigkeit zementiert, Sex-Shops zu Wahrzeichen der Freiheit erhoben und die Katholische Kirche zu einer Gefahr für die Freiheit erklärt hätte.
Dies ist nun die Frontlinie eines von Jaroslaw Kaczynski angestrebten Zweiparteiensystems – auf der einen Seite die Nationalkonservativen, auf der anderen die Liberaldemokraten. Den Rahmen soll aber ein starker Staat bilden, dessen Fundament eine Präsidialdemokratie wie in de Gaulle’s Frankreich wäre, in dem der Opposition keine großen Prärogativen und der Nationalbank keine übermäßige Selbstständigkeit eingeräumt werden dürfen. Dieser Nationalstaat dürfe eine äußere normgebende Instanz wie die EU nur bedingt akzeptieren. Er solle eine „formierte Gesellschaft“ schaffen und über die staatlich verordnete patriotische Bildung wachen.
Umrisse eines Zweiparteiensystems
Man muss dem PiS-Chef zugestehen, dass nach den ersten Monaten seiner Machtausübung tatsächlich Umrisse eines Zweiparteiensystems aus dem Chaos der polnischen Innenpolitik hervorlugen. Denn es gelang der PiS (den Meinungsumfragen zufolge), sowohl die LPR als auch die Bauernpartei (PSL) sichtlich unter die Fünf-Prozent-Grenze zu drücken und auch die „Selbstverteidigung“ Andrzej Leppers zu „verschlanken“. Der Preis ist paradoxerweise eine Aufwertung Leppers, der als Mehrheitsbeschaffer für die PiS letztendlich als Vizeministerpräsident in die Regierungskoalition aufgenommen werden könnte – eine unaufhaltsame Karriere des einstigen Rabauken, möglicherweise aber auch ihr Ende. Denn dass diese Koalition lange durchhalten könnte, ist wenig wahrscheinlich.
Am liebsten würde Jaroslaw Kaczynski schon im Mai das Handtuch werfen und Neuwahlen ausschreiben, in der Hoffnung, endlich eine satte Mehrheit zu bekommen; wenn nicht jetzt, dann eben erst in vier Jahren, wenn die Wiederwahl seines Bruders im Jahr 2010 ansteht. Die PO jedoch lehnt überstürzte Wahlen ab, sie will die Populisten noch etwas im eigenen Saft schmoren und sich blamieren lassen. Im Herbst passte es ihr schon besser, doch wer weiß, ob sich die PiS dann noch einer vorzeitigen Prüfung durch die Wähler unterziehen will?
Die ständigen Angriffe auf die liberalen Medien und auf die Intelligenz (jene „Lügeneliten“) bauen zugleich auf die in den meisten ostmitteleuropäischen Gesellschaften latent vorhandenen ständischen Ressentiments gegenüber der Oberschicht, die als „fremd“ oder „dem einfachen Volk entfremdet“ erscheint. In der populistischen mentalen Revolte rumort nicht nur die reale Angst der Verlierer vor dem sozialen Abstieg und der geschürte Hass auf „die da oben“, die es angeblich auf krummen Wegen geschafft, das Gemeineigentum an sich gerissen oder sich an das mit gezinkten Karten spielende Ausland verkauft haben, sondern auch – wie Marek Beylin andeutet – der dumpfe Geist der alten bäuerlichen Rebellionen gegen den Großgrundbesitzer einerseits und der nationalen Aufstände des Kleinadels gegen die Fremdbestimmung andererseits.
Der nationalkonservative Populismus lockt die Enttäuschten mit dem Mirakel revolutionärer Gerechtigkeit: Danach genügt es, die bösen Reichen „an den Bettelstab zu bringen“, um das gute Volk für seine Leiden zu belohnen und dem neuen Mittelstand den Weg zu ebnen. Das Problem ist nur, dass dieser soziale Revisionismus kein Modernisierungsprogramm zulässt. Er behandelt den Bürger wie einen Patienten, meint die Soziologin Hanna Skarýynska, den man fürsorglich festbindet, um ihm dann eine Arznei zu verpassen, anstatt ihn umgekehrt zur Aktivität zu bewegen, damit er das Krankenhaus verlassen und für sich selbst sorgen kann. Letztendlich belege die „Gesellschaftsprognose 2005“, dass die Polen trotz aller Rückschläge nach 17 Jahren der Transformation besser lebten als vor 1989. Das Hauptübel des Populismus sei, so Skarýynska, dass er das Vertrauen des Menschen in seine eigene Tatkraft und den „Alltagspositivismus“ lähme und ein egozentrisches Misstrauen wecke.
Populismus als Systemsicherung
Dennoch kann man dem Populismus durchaus eine positive Seite abgewinnen. Er erscheint als eine Art Systemsicherung, wenn die „zivilisierten“ Parteien degenerieren und dem Wähler keine wirkliche Wahl anbieten, meint Igor Zalewski in der Rzeczpospolita. Nach 1989 sah es in Ostmitteleuropa danach aus, dass die Rechte immer abwechselnd mit den Postkommunisten regieren würde. In Polen zumindest gab es zu einem solchen zyklischen Wechsel so gut wie keine Alternative. Die Solidarnosc-Gruppierungen regierten in den Jahren 1989 bis1993 und 1997 bis 2001, die SLD dazwischen und danach.
Es gab keine Alternative dazu, und der Regierungsstil verschlechterte sich zusehends; sowohl die rechten als auch die linken Eliten fühlten sich straffrei; sie wussten zwar, dass sie die Macht verlieren konnten, doch nur vorübergehend: Vier Jahre später würden sie ohnehin die Esels- mit der Regierungsbank wieder tauschen. Nun aber mache der Wähler reinen Tisch. 2001 fegte er bereits das Wahlbündnis „Solidarnosc“ (AWS) weg. Dieses Signal begriffen die Postkommunisten unter Leszek Miller nicht; sie glaubten, nach dem Desaster der AWS könne sie nichts mehr erschüttern, sie seien politisch „unsterblich“. Immer dreistere Korruptionsaffären waren die Folge. Nun zeigen solche Populisten wie Lepper, Giertych und die Kaczynskis, dass das politische Establishment eben nicht unsterblich ist: dass Wahlen kein ödes Ritual sind, sondern dass sie ein politisches Erdbeben verursachen können, welches das gesamte bisherige Parteiensystem zum Einsturz bringen kann. Die Populisten seien ein Damoklesschwert und ein Lackmus-Test der Demokratie. Dank der Populisten werde man auch wissen, wann das politische System saniert sei und es diesmal die Populisten selbst ins Abseits hinausschleudern werde, schlussfolgert Zalewski.
Das mag im Idealfall so sein. Die gefährliche populistische Falle der Demokratie besteht jedoch darin, dass der Populismus die Demokratie aushöhlt. Auch für die Demokratie scheint Kopernikus’ Gesetz zu gelten, wonach das schlechte Geld das gute verdirbt. Der Soziologe Jerzy Szacki, der wohl beste polnische Kenner der Materie, nennt den Populismus eine Kirche ohne Theologie, eine Kirche, der er ein zähes Leben bescheinigt, auch wenn eine populistische Gruppierung einmal eine Eintagsfliege sein sollte wie die „Republikaner“ oder die „Stattpartei“ in Deutschland. Der Populismus sei auf allen Kontinenten präsent, und es wäre naiv, sein Verschwinden anzukündigen. „Selbst wenn es in der Welt einen unaufhörlichen Fortschritt gibt, ist er nie so harmonisch und gleichmäßig, wie es die alten Träumer in ihrem Optimismus vorhersahen. Der eine verliert, der andere gewinnt, sowohl in einem Land als auch global. Leider wächst die Zahl der Menschen, die nicht nur von jeglichem Wohlstand ausgeschlossen sind, sondern die auch dessen Preis zahlen. Und es ist unmöglich, dass sie sich endlos mit ihrer Armut und mit ihrem Ausgeschlossensein zufrieden geben werden.“ Im 19. und 20. Jahrhundert kamen auf diesem Wege linke und rechte totalitäre Ideologien und extremistische Parteien zum Vorschein. Im 21. Jahrhundert haben sie ihre Kraft verloren, dafür aber artikuliert ein amorpher Populismus die wachsenden Spannungen zwischen Armen und Reichen, zwischen den Zentren und den Peripherien, den Regierenden und den Regierten. Zumindest in Ostmitteleuropa bleibt er ein Faktor der Politik, unabhängig davon, ob der eine oder andere populistische Anführer kurz- oder mittelfristig in Vergessenheit gerät.
ADAM KRZEMINSKI, geb. 1945, ist seit 1973 Redakteur des polnischen Nachrichtenmagazins Polityka. Der stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Gesellschaft gilt als einer der führenden Publizisten Polens.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 23 - 29