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01. Juni 2003

Zu Hause in Europa

Polens (Um-)Weg in den Schoß der Familie

Polen gehört zur europäischen Familie, auch wenn es dort – wie üblich in Familien – Probleme gibt. Denn der eher politische als militärische Erfolg des polnischen Irak-Einsatzes sei nur eine Episode, so der renommierte polnische Publizist. Für Polen gehe es darum, seinen Weg in die EU zu finden. Dabei können die seit Jahren im Rahmen des „Weimarer Dreiecks“ bestehenden Kooperationsstrukturen mit Frankreich und Deutschland nützlich sein und ausgebaut werden.

Gottfried Wilhelm Leibniz hatte doch Recht: Wir leben in der besten aller Welten. Es ist gut, dass die Amerikaner Saddam Hussein gestürzt haben. Es ist gut, dass Polen sich auf der „Siegerseite“ befindet. Es ist aber auch gut, dass es von Jacques Chirac für seinen Übereifer gerügt wurde und dass sich Gerhard Schröder dabei viel dezenter verhielt. Es ist gut, dass das französisch-deutsch-russische Dreieck ausprobiert und belächelt wurde. Es ist gut, dass Deutsche und Franzosen sich amerikanischer Willkür entgegenstellen und eine europäische Verteidigungsidentität zu schaffen versuchen, und es ist auch gut, dass das ohne Großbritannien (und Polen?) nicht so richtig geht.

Und schließlich ist es gut, dass beim Gipfeltreffen am 9. Mai 2003 in Breslau die Leiche des französisch-deutsch-polnischen „Weimarer Dreiecks“ galvanisiert wurde, denn dies zwingt alle Beteiligten nicht nur zu einer Bestandsaufnahme, sondern zu einer Neuaustarierung der Gewichte – nicht so sehr zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa, wie Donald Rumsfeld es haben wollte, sondern zwischen dem alten deutsch-französischen Kerneuropa und den neuen EU-Zugängen.

Diese Gegenüberstellung ist stichhaltig, wenn auch nicht in der egoistischen und löchrigen Form des amerikanischen Verteidigungsministers. Für ihn gehören die Briten, Spanier und Ostmitteleuropäer nur deshalb zur gemeinsamen Welt des neuen Europas, weil ihre Regierungen die amerikanische Irak-Politik unterstützen. Sie ist stichhaltig, auch wenn polnische Politiker die Scharte zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa mit einem Hinweis auf die alte, tausendjährige europäische Geschichte Polens nachträglich auszuwetzen versuchten. Der namhafte polnische Historiker Jerzy Koczowski übertitelte vor wenigen Jahren seine Entstehungsgeschichte Polens, Ungarns und Böhmens: „Das jüngere Europa“. Es ist also wohl kein Makel, auf die wirtschaftliche Rückständigkeit und historische Verspätung dieses Teiles des Kontinents hinzuweisen, der sich zwischen der Ostsee, der Adria und dem Schwarzen Meer erstreckt und der sich nach dem Zerfall des Kommunismus mit eindeutiger Mehrheit für den Beitritt zur EU entscheidet.

Man kann natürlich einwenden, dass „jünger“ nicht dasselbe wie „neu“ ist und dass es aktuell um zwei sich überlappende, nicht aber identische Probleme Europas geht. Auf der einen Seite um die Andockung des jüngeren Europas an die EU, auf der anderen um die Spaltung des alten Kontinents im Hinblick auf die Anerkennung der globalen Führungsrolle der USA. Das jüngere Ostmitteleuropa nimmt sie – teils automatisch, teils gottergeben, teils willig – ebenso hin, wie die südlichen und westlichen „Randstaaten“ der EU, von Italien über Spanien bis hin zu Großbritannien. Die karolingischen „Kernstaaten“ – Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien – versuchen, sich dagegen zu emanzipieren. Es ist nur eine Frage des Blickwinkels, auf welcher Seite nun der Spaltpilz ist: bei den „willigen Helfern“ Amerikas oder – umgekehrt – eben bei den abtrünnigen Deutschen, deren pazifistischer Antiamerikanismus (nach Dan Diner)inzwischen die irrationalen Züge eines anderen Antisemitismus angenommen hat, und vor allem bei den Franzosen, die (wie Jean-François Revel meint) der antiamerikanischen Obsession einer Möchtegern-Großmacht nachgibt, die selbst in Afrika ihre neokolonialen Muskeln spielen lässt und mit dem Fall Saddam Husseins möglicherweise auch glänzende Geschäfte in Irak verliert.

Der amerikanische Riss zwischen alt und neu klaffte sehr schnell wie eine offene Wunde zwischen den alten und den jüngeren Europäern. Peter Glotz sagte unverblümt, was andere sich nicht auszusprechen trauten: Das „alte Europa“ müsse sich zusammentun und ungeachtet der Proteste der „Neuen“ eine „Festigung des Kerns“ betreiben und Tony Blair mit den Osteuropäern „EFTA spielen lassen“. Schon seine verächtliche Sprache ist verräterisch: Die einen tun, die anderen spielen nur.

Und gerade gegen diesen preußisch-oberlehrerhaften Ton des alten Nachbarn mit seiner kolonialen Vergangenheit im „jüngeren Europa“ suchen die Ostmitteleuropäer eine Rückversicherung beim amerikanischen Hegemon, mit dem sie nie im Konflikt lagen und der sich wohltuend weit weg befindet. Doch die eigentliche Versicherung verbuchen sie für sich eben in einer EU, die sie keineswegs in eine amorphe EFTA entgleiten lassen möchten.

Das Weimarer Dreieck

Vor dem 11. September 2001 war allerdings für die Polen das strategische Gerüst aller Bemühungen übersichtlicher. Das Land war bereits Mitglied in der NATO, in der niemand die amerikanische militärische Dominanz in Frage stellte, und es war ganz mit dem Beitritt zur EU beschäftigt, deren Rückgrat – wie Ende der neunziger Jahre polnische Politiker sagten – eben das informelle Weimarer Dreieck sein sollte. Die ständigen Konsultationen und die Zusammenarbeit mit Deutschland und Frankreich sollten Polen nicht nur aufwerten, sondern auch an den harten Kern der EU heranführen. Die Skeptiker behaupteten jedoch, dass ein solches Dreieck nur eine Fata Morgana sein könne, denn wie vermöchten sich Frankreich, Deutschland und Polen zusammentun, wenn ihre wirtschaftlichen Potenziale im besten Fall einem Verhältnis von 7 : 8 : 1 entsprächen? Nur auf der Landkarte sähen sie wie ein tragender Balken der osterweiterten EU aus.

Die Erklärung, die die Außenminister der drei Länder am 29. August 1991 in Weimar unterzeichneten, war vor allem ein Zeichen der moralischen Unterstützung für Polen, das bereits aus den sowjetischen Angeln gehoben worden war, doch noch nirgendwo hingehörte. In Polen standen noch sowjetische Truppen, und in Moskau ebbte gerade der Staatsstreich von Gennadij Janajew vom 17. August 1991 ab. Niemand konnte vorhersehen, dass sich die gesamte Sowjetunion bald komplett auflösen würde, anstatt seine entlaufenen Halbkolonien zurückzugewinnen. Polen hatte wenige Wochen zuvor einen Freundschaftspakt mit Deutschland unterzeichnet, worin dieses sich dazu verpflichtete, die polnischen Bestrebungen, Teil der euroatlantischen Strukturen zu werden, zu unterstützen. Doch vorerst war dies – wie man auf Polnisch sagt – mit dem Finger auf Wasser geschrieben.

Das Weimarer Dreieck war in dieser Situation ein Placebo, eine Geste, die sich gut für gemeinsame Fototermine der drei Staatspräsidenten, Regierungschefs oder Außenminister eignete. Fortan verwiesen die Politiker dieser drei Länder immer wieder auf die Erfolge des „Weimarer“ Jugendaustauschs, der regionalen Zusammenarbeit und der zahlreichen trilateralen Seminare, doch es war auch kein Geheimnis, dass der polnischen Seite aus Prestigegründen am meisten an diesem Weimarer Dreieck lag, dass die Deutschen darin gewissenhaft die Rolle eines Koordinators übernahmen und dass die Franzosen immer wieder ungeniert ihr Desinteresse demonstrierten. Es fehlte nicht an Andeutungen französischer Diplomaten, dass mit dem Abschluss der EU-Verhandlungen mit Polen das leblose Dreieck stillschweigend bestattet werden müsse.

Der Grund für diese Distanz dürfte nicht nur die französische Abneigung sein, die privilegierte Rolle des deutsch-französischen „Direktoriums“ mit einem zusätzlichen Juniorpartner optisch teilen zu müssen, sondern vielmehr die in den neunziger Jahren in Frankreich geäußerte Furcht, dass die EU-Osterweiterung vor allem im Interesse Deutschlands liege und das „germanische“ Mitteleuropa stärke, und dass daher Frankreich eher das „romanische“ West- und Südeuropa stützen als eine Anstandsdame im deutsch-polnischen Techtelmechtel spielen solle. Die französische Obstruktion in Chiracs Zeiten war so offenkundig, dass am 8. Mai 2002 junge Deutsche, Franzosen und Polen in einer „Warschauer Erklärung“ ein stärkeres französisches Engagement im Rahmen des Dreiecks anmahnten.

Altes und neues Europa

Trotz aller „Weimarer“ Aktivitäten vieler Nichtregierungsorganisationen, Regionalpartnerschaften, Universitäten und Denkfabriken wie des von Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden geleiteten Instituts in Genshagen funktionierte das Weimarer Dreieck nicht, als sich die Großwetterlage in Europa verschlechterte. Bei der ersten stärkeren Windböe über dem Atlantik fiel es auseinander. Dabei ging es gar nicht darum, dass Polen eine andere Position in der Irak-Frage als Deutschland und Frankreich einnahm, sondern um den schäbigen Stil beim Auseinanderdriften der nationalen Interessen, um aufgeblasenes Prestigedenken und ganz einfach um schlechte Manieren am europäischen Tisch.

Erschütterungen

Und niemand ist daran schuldlos. Der Fehler der polnischen Seite war nicht, dass sie Amerika unterstützte – vor dem Hintergrund der polnischen Geschichte dürfte man das in Kerneuropa verstehen – sondern, dass sie es so rüpelhaft gegenüber ihren wichtigsten europäischen Partnern tat, die man noch wenige Wochen zuvor in Kopenhagen dringend gebraucht hatte.

Der Fehler der deutschen Seite war nicht die Zurückhaltung gegenüber dem Irak-Krieg, denn – vor dem Hintergrund ihrer Geschichte – musste sie wohl erst ihren Kriegseinsatz in Kosovo und Afghanistan verkraften, sondern die Tatsache, dass der avisierte „deutsche Weg“ eine irrationale Rechthaberei in der deutschen Gesellschaft aufdeckte. Und schließlich war der französische Fehler nicht nur das zynisch anmutende Kräftemessen mit Amerika vor allem des Prestiges wegen, sondern auch Chiracs polternde Schelte Polens, die weniger dem „Brief der Acht“ galt als der polnischen Entscheidung, den amerikanischen Abfangjäger F-16 und nicht die französische Mirage 2000-5 zu kaufen.

Dieser Familienstreit war geschmacklos. Der polnische Ministerpräsident bewies einige Dickhäutigkeit, als er seinen deutschen Amtskollegen telefonisch um Beihilfe beim Aushandeln besserer Milchquoten bat, ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass er soeben einen Brief unterzeichnet hatte, der de facto gegen Berlin und Paris gerichtet war. Und die Berater von Ministerpräsident Leszek Miller trieben ihren Chef mit geradezu sträflicher Sorglosigkeit in eine europäische Kollision, indem sie ihm keine Programme dafür vorlegten, wie man die Folgen der Entscheidung gegen die Mirage gegenüber den Franzosen abfedern könnte. Wenn man schon drei Jahre lang verhandelt, hätte man auch noch drei weitere Monate abwarten können, bis sich die europäisch-amerikanischen Beziehungen wieder verbessern.

Auch der polnische Staatspräsident, Aleksander Kwasniewski, der ja einen guten Draht nach Berlin hat, erwies sich in den Krisenwochen als zu wenig aktiv. Wie anfällig der Mechanismus vertraulicher Konsultationen ist, wie selten man unter den Ministerkollegen aus dem alten und dem neuen Europa zum Telefonhörer greift, davon konnte man sich überzeugen, als der polnische Verteidigungsminister über die Medien mit seinem deutschen Kollegen über ein noch nicht ausgehandeltes Projekt kommunizierte, nämlich das deutsch-dänisch-polnische Korps aus Stettin in den Irak zu schicken.

Doch auch die „alteuropäischen“ Partner Polens zeigten ihre Taktlosigkeit. Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags konnten als Demonstration des deutsch-französischen Direktorats in der EU aufgefasst werden. Und es gab Ideen, anlässlich dieses Jubiläums wenn schon nicht den Vertrag selbst – im Weimarer Geiste – um Polen zu erweitern, dann zumindest den polnischen Aspekt des „harten Kerns“ zu erwähnen. Anscheinend war Berlin sogar dazu bereit, stieß aber in Paris auf entschiedenes Unverständnis, vielleicht weil man dort ahnte, dass die F-16 in Polen die Mirage abschießen würde?

An sich wäre das Weimarer Dreieck dazu berufen, ein Korrektiv zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa zu sein. Allerdings hätte es die jüngsten Erschütterungen nur dann abfedern können, wenn es in den vergangenen zwölf Jahren gelungen wäre, im Dreieck starke wirtschaftliche Tragebalken zu errichten. Das Fundament der alten EWG war die Montanunion, die das Herzstück des alten Nationalstaats, die Schlüsselindustrien, unter gemeinsame Verwaltung stellte.

Projekte für die Zukunft

Polen und dem „harten Kern“ ist es nach 1989 leider nicht gelungen, ein ähnliches Fundament zu errichten. Nicht nur, weil die Schwerindustrie nicht mehr das Herz der Wirtschaft ist, und auch nicht allein wegen der so unterschiedlich großen Potenziale. In den neunziger Jahren mangelte es in Polen an mutigen strategischen Entwürfen – z.B. für ein gemeinsames französisch-deutsch-polnisches Konsortium zur Modernisierung der polnischen Eisenbahnen, zum Bau der Autobahnen oder zur Vorbereitung eines günstigen Standorts für einen Technologiepark im deutsch-polnischen Grenzraum.

Ungleichzeitig mit Westeuropa, immer noch teilweise in den Traumata des 19. und den Ängsten des 20. Jahrhunderts gefangen, gelähmt von der Furcht vor einer Bauernrevolte und einem Arbeiteraufruhr in der schrumpfenden Schwerindustrie, zögerte die polnische politische Klasse mit dem Entwurf mutiger „Weimarer“ Projekte, die Polen einen ähnlichen Modernisierungsschub hätten geben können wie in der Zwischenkriegszeit der Bau des Hochseehafens in Gdingen, der Kohlemagistrale Schlesien-Gdingen oder des Zentralen Industriereviers. Es geht nicht darum, dass Polen eine Hand voll Schrauben für den Airbus herstellt oder sich am Satellitensystem Galileo beteiligt. Die ganz großen europäischen Großprojekte sind für Polen zu groß, es hat seinerseits aber keine bescheideneren vorgeschlagen. Wie wäre es etwa mit Leitwerken für den Eurotransporter? Die Beteiligung der deutschen oder französischen Firmen an den Privatisierungen in Polen reicht nicht aus.

Es mangelt nicht an Experten, die der Ansicht sind, dass die Zusammenarbeit in der Bildungspolitik, eine gemeinsame Modernisierung der Hochschulen und das Erreichen einer kritischen Masse der Wissensgesellschaft ein Schwungrad der Weimarer Entwicklung im deutsch-polnischen Oderbund sein solle. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, meint, ein erster Schritt in diese Richtung sei die Umwandlung der Viadrina in eine französisch-deutsch-polnische Stiftungsuniversität, die eng mit der Wirtschaft aller drei Länder verbunden wäre und insofern eine Signalwirkung hätte, als sie zeigen könne, dass deutsch-polnische wissenschaftliche Zusammenarbeit auch Frankreich eine Chance in Ostmitteleuropa eröffnet.

Polen braucht nicht nur Agrarsubventionen, Strukturfonds und Ausgleichszahlungen, sondern einen europäischen Modernisierungsschub, den es auch selbst mitträgt. Die amerikanischen Investitionsverpflichtungen in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar für die polnische Rüstungsindustrie und Infrastruktur als Folge des F-16-Deals – dies ist Teil des Kaufvertrags – sind viel, aber doch kein Wundermittel. Bei aller Grobheit von Chirac nach dem „Brief der Acht“ war seine Kritik doch nicht ganz grundlos. Polen kann nicht von den „Alt-Europäern“ Unterstützung für sich beanspruchen, wenn es nicht zugleich die Union tatkräftig mitträgt und sich an wichtigen europäischen Wirtschaftsprojekten beteiligt.

Europa ist eine Familie

Europa gleicht ein wenig einer Familie. Man muss sich mäßigen und familiäre Chiffren, Gesten und Rituale kennen. Das müssen die „Neu-Europäer“ erst lernen. An Amerika zieht viele ostmitteleuropäische Politiker die vermeintliche Schlichtheit der Cowboys an, ihre Einfachheit und Effizienz, das schnelle Handeln und wenig Reden: Entweder ihr seid mit uns, oder ihr seid draußen. In Europa sieht man ständige Bedenken, Verzögerungen und viel Gerede, und schließlich bekommt man die Hälfte dessen, wovon die Rede war, muss aber auch dafür sichtbar dankbar sein. Amerika erfordert Tatkraft, Europa dagegen einen unaufhörlichen Contredance, der immer wieder zu einem reinen Eiertanz wird, und viel Empathie, die man nur sehr mühselig erlernt, wenn man als armer Verwandter endlos draußen vor den Türen des Salons gehalten wird.

Polen hatte gute Gründe, Amerika zu unterstützen, aber auch seine „Weimarer“ Verwandten hatten Grund dazu, ihr Votum separatum abzugeben und über eine europäische Verteidigungsgemeinschaft nachzudenken. Unverständlich ist nur, warum sie ihre Initiative nicht z.B. auf die WEU oder die NATO stützten, in deren militärische Strukturen Frankreich zurückkehren könnte, sondern versuchen, eine völlig neue Form zu finden. Dass es notwendig ist, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu schaffen, erkennen inzwischen auch die maßgeblichen polnischen Politiker an; und sie deklarieren dabei auch eine tatkräftige Unterstützung Polens.

Das war wohl das wichtigste Ergebnis des Breslauer Gipfels vom 9. Mai 2003. Das Weimarer Dreieck ist keineswegs tot. In ihrer gemeinsamen Erklärung skizzierten Chirac, Schröder und Kwasniewski eine Intensivierung der Konsultationen. Nicht nur die Staats- und Regierungschefs oder die Außenminister werden sich demnächst regelmäßig treffen, sondern auch die Finanz- und Arbeitsminister sowie gemeinsame Parlamentariergruppen, die über eine gemeinsame Agrar-, Struktur- und Verkehrspolitik im Rahmen der EU sprechen werden. Ohne viel Pathos wird in der Garage weiter am deutsch-französischen Zweitakter laboriert, möglicherweise bekommt er eine polnische Kupplung.

In den Salons werden wir Polen noch einige Zeit wie Homines novi behandelt werden, aber in der Küche, den Wohn- und den Arbeitsräumen werden wir uns bald zu Hause fühlen. Und für diese unsere Eingewöhnung in der EU wird das Dreieck weiterhin nützlich sein. Immer vorausgesetzt, dass wir nicht selbst Europa spalten, weil wir uns vor einer vertieften Integration, der Schaffung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und – in der Zukunft – Sozialpolitik fürchten. Aus diesem Blickwinkel ist Kwasniewskis Breslauer Verlautbarung, Polen unterstütze eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, von enormer Bedeutung. Polens Zukunft wird sich hier entscheiden, an Weichsel, Spree, Seine, Tiber und Themse, und weniger am Potomac. Irak ist nur eine Episode.

Nach unserem eher politischen als militärischen Erfolg an der Seite der Amerikaner wird es Zeit, eine Sympathieoffensive in Europa zu starten. Denn so dreht sich nun einmal das polnische Roulette: Vor den Unzulänglichkeiten der eigenen Regierung fliehen wir in die Europäische Union, wie die Umfragen belegen. Aus Misstrauen gegenüber der EU wiederum wenden wir uns Amerika zu, weil wir es dort wenigstens nicht mit den Deutschen, den Franzosen und dem ganzen historischen Ballast zu tun haben. Wenn dann jemand den angelsächsischen Kapitalismus und unseren Stolz über den Irak-Ausflug nicht mehr aushält, kann er noch zum Petersdom in Rom flüchten. Danach aber muss er wieder zurück an die Weichsel, mit vielen Erfahrungen im Gepäck und einer besseren Kenntnis seiner selbst und der Welt. Um sich in Bälde wieder nach Europa aufzumachen …

In Europa geht es ein bisschen zu wie bei einem Familienfest. Alle kennen sich gegenseitig in- und auswendig, wissen, welchen Spleen der Cousin hat, dass der Schwager schon einmal gesessen hat und sich der Onkel zu selten wäscht. Dennoch funktioniert das Unternehmen Familie, und in diesem „familiären Europa“ nehmen heute auch die größten Streitigkeiten zumeist ein gutes Ende. Europa entwickle sich „wider eigenen Willen“ zu einer eigenständigen Macht, schrieb 2000 die amerikanische Publizistin Elizabeth Pond. In ihrem Buch „Die Stunde Europas“ maß sie dem Weimarer Dreieck eine Schlüsselrolle bei. Nun könnte man sagen, das war vor dem 11. September 2001 und der Präsidentschaft von George W. Bush. Doch in absehbarer Zeit werden wir unsere Besatzungszone in Irak wieder „einrollen“ und nach Europa zurückkehren. Letztlich sind unsere Außenhandelsumsätze mit dem alten Europa 15-mal höher als mit den USA. Zu Hause sind wir in Europa, bei allen Sympathien für Amerika.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2003, S. 19 - 26

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