Gesunde Heuchelei
Was Warschau jetzt von Berlin erwartet
Was erhofft sich Deutschlands Nachbar Polen von der neuen deutschen Regierung? Auf dem Wunschzettel von der Weichsel steht ein energisches Engagement für eine gemeinsame europäische Strategie in Sachen Energie-, Verteidigungs- und Ostpolitik. Und nicht zuletzt die Heranführung einer neuen Politikergeneration an eine schwierige Nachbarschaft.
Nach der Bundestagswahl beteuerten die meisten Kommentatoren, Deutschlands Außenpolitik werde sich nicht sonderlich ändern. Angela Merkel sei eine Garantin für Kontinuität, und obendrein werde der außenpolitisch unbeleckte Vizekanzler ja immer noch Nachhilfe vom Übervater der FDP, Hans-Dietrich Genscher, erhalten können. Doch auch wenn dieser Befund weitgehend zutreffen sollte, reichte das für manchen Kommentator nicht ganz aus, um ruhig schlafen zu können.
Denn die Wahlen 2009 haben nicht nur den Koalitionspartner an der Seite von CDU und CSU verändert, sondern hatten auch eine tektonische Verschiebung in der deutschen Parteienlandschaft und einen Generationswechsel in der politischen Klasse zur Folge. Einige Abgeordnete, die jahrelang außenpolitisch aktiv waren, sind nicht mehr dabei – entweder, weil sie den pensionsreifen „68ern“ angehören, oder weil ihre Parteien zusammengeschrumpft sind. Und von ihren jüngeren Nachfolgern hat bisher noch kaum jemand außenpolitisch auf sich aufmerksam gemacht.
Zwischen Erasmus und Autismus
Für eine Parteikarriere muss man vor allem innen- und nicht außenpolitisch Profil zeigen. Doch auch die Neulinge im Bundestag werden bald Entscheidungen mittragen müssen, die nicht allein die Berliner Republik betreffen, sondern auch die Nachbarn. Bis jetzt aber erscheint die Erasmus- und Billigflug-Generation merklich provinzieller, wenn nicht gar autistischer, als die ihrer Vorgänger zu sein. Auch wenn einige Leuchttürme der enormen deutschen Wandlung nach 1945 noch intakt sind, weisen sie einer Generation, die das Jahr 1989 nur noch als Geschichtsdatum wahrnimmt, nicht mehr unbedingt den Weg. Für die nach 1969 Geborenen gilt nicht einmal die Gnade der späten Geburt. Sie wuchsen in eine Normalität hinein, die in der deutschen Einheit 1989/90 ihre Grundierung fand. Sie konnten es sich bequem machen in einer Welt, die ihre Konvulsionen nicht mehr um Deutschland oder Europa herum austrug, sondern um die USA, China, den Nahen und Mittleren Osten. Politische Karriere machte man lokal, als jungliberaler Wirtschaftsjurist oder als linker Sozialegoist. Diese Generation hat keine außenpolitische Leidenschaft, keine Affinität zu ihren globalen Problemen oder für einen Aufbruch zu ihren neuen Horizonten.
Die Vorgänger hatten ihre Themen: die Versöhnung mit Frankreich, die Ostpolitik, die Friedensbewegung, die Vereinigung Europas nach 1989. Und die jetzigen Neulinge? Sie wurden von einer betonten Nichtbeteiligung geprägt. Dazu gehörten das triumphale Nein zum Irak-Krieg 2003 und das klammheimliche Ja zum sibirischen Gas, die distanzierte Beteiligung am Afghanistan-Krieg oder die trickreiche Abwehr vermeintlichen Sozialdumpings durch „polnische Fliesenleger“. Jetzt werden sie aus dem Windschatten der Geschichte treten und eine aktivere deutsche Außenpolitik flankieren müssen.
Ob Angela Merkel dieser Generation zu einem eigenen Profil verhelfen kann? Sie hat vier Jahre lang eine passable Außenpolitik gemacht. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft war ein Erfolg. Sie hat den Stil im Umgang Berlins mit Washington und Moskau korrigiert, ohne an der emanzipatorischen Substanz des Schröder-Nachlasses viel zu ändern. Sie schmeichelte dem „lupenreinen Demokraten“ nicht über Gebühr, baute aber die bilaterale wirtschaftliche Verflechtung mit Russland aus und blockte trotz der Entrüstung der Ostmitteleuropäer in Bukarest die NATO-Perspektive für Georgien und die Ukraine ab. Gegenüber Polen überbrückte sie die lästigen Kaczyński-Jahre (2006/07), entwickelte dann einen guten Draht zu Donald Tusk und entschärfte mit geringen Eigenverlusten den unsäglichen Streit um die Musealisierung der Vertreibungen. Hinter vorgehaltener Hand konnte man zwar nach der Bundestagswahl in Warschau sarkastische Bemerkungen hören, nun sei zwischen den Nachbarn eine „gesunde Heuchelei“ eingekehrt, doch diesmal ist es wenig wahrscheinlich, dass die Kaczyński-Partei den Kampf um die Wiederwahl ihres Staatspräsidenten auf dem Schlachtfeld von Grunwald/Tannenberg eröffnen wird, wo vor genau 600 Jahren Polen und Litauer den deutschen Orden schlugen. Die antideutsche Karte zieht in Polen nicht. Beide Seiten haben gelernt, um Schlaglöcher herum zu manövrieren.
Routine statt Ringelreihen
Doch die Romantik des historischen Neuanfangs ist verwittert. Vorbei sind die Zeiten, als man die Ringelreihen der Antrittsbesuche in Warschau bzw. Berlin begann, deutsche und polnische Soldaten gemeinsam auf der Oderbrücke vereidigen ließ und im Namen einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft in Europa über eine ostpolitische Zwischenlandungsdiplomatie nachgrübelte. Das alles ist zwar noch kein Schnee von gestern, aber vielleicht doch Herbstlaub von heute?
Selbst das deutsche Gedenken an den Mauerfall, zu dem ja – wie die Bundeskanzlerin unlängst betonte – die Polen mit der Solidarnoć nicht unwesentlich beigetragen hatten, führte zeitweilig zu Verstimmungen zwischen Berlin und Warschau, als Super-Illu durchsickern ließ, dass die Deutschen den 20. Jahrestag des Mauerfalls nur mit den Siegermächten feiern wollten. Da habt ihr es, schimpften die polnischen Medien, die Deutschen respektieren nur die Großen, auch wenn der Beitrag Frankreichs oder Großbritanniens zur Maueröffnung gleich Null war. Es dauerte Wochen, bis die Nachricht, dass jetzt auch Lech Wałesa und EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek zu den Feierlichkeiten am 9. November eingeladen sind, die Gemüter beruhigte.
Es ist leicht, das klassische Mantra zu wiederholen, für die Bundesrepublik hätten die Beziehungen zu Polen dieselbe Bedeutung wie die deutsch-französischen. Auch Guido Westerwelle wiederholte es gegenüber der Gazeta Wyborcza. Doch in Phasen verschärfter Konfrontation, wenn die Boulevardblätter zu Dreckschleudern werden, zieht mancher Politiker eifrig nach, spricht verächtlich vom „Osten“, in dem das Nachbarland verbleiben werde, und mancher Abgeordnete möchte es aus der EU ausschließen.
Das kleinliche Gezänk unter den Nachbarn bleibt nur dann eine Lappalie, wenn Berlin und Warschau sich der Bedeutung der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft bewusst sind. Für beide muss die Funktionsfähigkeit der EU und der NATO Vorrang vor ihren nationalen Egoismen haben. Allerdings ist wegen der wirtschaft-lichen Asymmetrie und historischen Belastungen gerade diese Nachbarschaft besonders pflegebedürftig. Nicht wegen irgendwelcher Gutmenschallüren, sondern weil in den deutsch-polnischen Beziehungen die empfindlichsten Sensoren für die Europa-Idee eingebaut sind – etwa das Gebot einer gemeinsamen Ost- und Energiepolitik der EU gegenüber Russland oder die Zukunftsperspektive für die Ukraine.
Man braucht einander auch weiterhin: in EU und NATO, auf der Klimakonferenz 2009 oder in Afghanistan – überall, wo Deutsche und Polen mit unterschiedlichen Aufträgen, doch letztlich gemeinsam präsent sind und sich über die weitere Entwicklung mit den USA verständigen müssen. Der amerikanische Verzicht auf die Stationierung eines Raketenabwehrschilds in Polen und Tschechien ist für Warschau eine Lektion, dass man zwar gute Beziehungen zu Amerika pflegen, sich aber stärker in EU und NATO für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik einsetzen sollte. Schon in der Finanzkrise manövrierte Tusk eher gemeinsam mit Berlin als mit Washington – und das erfolgreich.
Doch dann kam gerade aus Deutschland der entscheidende Schuss vor den Bug derjenigen, die eine stärkere Europäisierung der polnischen Politik fordern. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EU war Wasser auf die Mühlen der polnischen Europa-skeptiker um Lech Kaczyński. Man müsse die EU wie die Iren bis zum letzten Tropfen ausmelken, so ihre Lektion, und, wie es die Deutschen in Karlsruhe ausgelegt hätten, das nationale Parlament und die eigenen Regionen über die EU-Instanzen stellen. Zum ersten Mal wurde die Bundesrepublik nicht als Motor, sondern als Bremse Europas wahrgenommen. Und diese Wahrnehmung ist ein historischer Einschnitt. Joschka Fischer hat Recht: Österreichische, auch italienische Extratouren kann die EU verkraften, französische wären ein Riesenproblem, aber deutsche bedeuteten definitiv das Ende Europas. Hat Karlsruhe das Tor für einen neuen deutschen Sonderweg geöffnet? Sollten tatsächlich diejenigen Recht behalten, die behaupten, die Deutschen verfolgten im Namen Europas nur ihre nationalen Ziele?
Michel mauert
Die Behäbigkeit der deutschen Außenpolitik machte Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung als wachsendes Problem aus. „Es fehlt häufig an außenpolitischem Gespür und an einer ausreichend starken Lobby.“ Währenddessen werde überall „Klage erhoben, dass Deutschland zu wenig leiste, zu defensiv agiere, zu ängstlich auf die schwankende Stimmung und die Koalitionskräfte im eigenen Haus achte. Kurzum: Größe und Bedeutung des Landes stehen in keinem Verhältnis zum Beitrag für die Völkerfamilie.“
Auf dem Wunschzettel, der der zweiten Merkel-Regierung von der Weichsel her zufliegen könnte, stünde demnach ein energisches Engagement für eine gemeinsame EU-Energiepolitik. Diese könnte die Montanunion des 21. Jahrhunderts werden, und eine solche hätte die EU bitter nötig. Auch die gemeinsame Verteidigungspolitik im Rahmen des europäischen NATO-Pfeilers müsste zügiger vorangebracht werden, dann würden sich Alleingänge wie ehedem von Warschau und Prag erübrigen. Ähnliches gilt für die gemeinsame Ostpolitik der EU gegenüber Russland, der Ukraine, aber auch Georgien. Eine funktionsfähige EU kann einiges zu Konfliktlösungen beitragen. Deutschland muss aber dieselben Bündnispflichten wie die anderen auf sich nehmen, wenn der europäische Pfeiler der NATO funktionieren soll.
Und was die deutsch-polnischen Beziehungen im Besonderen angeht, so muss man sich für diese Legislaturperiode vor allem eine Heranführung der neuen Politikergeneration an unsere nie ganz leichte Nachbarschaft und all die institutionellen Verbindungen vornehmen, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurden. Sie sind durch die Phase der deutsch-polnischen Entfremdung – mit dem „Brief der Acht“ 2003, dem Streit um das Vertriebenenzentrum, der Ostsee-Gaspipeline und nicht zuletzt dem Generationswechsel – ziemlich lädiert worden. Es wäre wünschenswert, wenn junge Politiker aus beiden Ländern eine Affinität zueinander fänden, einen unverkrampften, aber geschichtsbewussten Umgang mit der Vergangenheit des anderen und Lust an gemeinsamen Projekten. Dann wird die „gesunde Heuchelei“ keine Scheinheiligkeit bedeuten.
ADAM KRZEMINSKI ist Kommentator der Warschauer Wochenzeitung Polityka und Autor von „Testfall für Europa“ (Edition Körber Stiftung 2008).
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 104 - 107.