Tauende Schneeflocke
Bringt die Präsidentschaft Medwedews neue Optionen für den Westen?
Die machtpolitischen Details des neuen regierenden Tandems Putin-Medwedew in Russland sind noch unklar. Doch aus den jüngsten Reden des neuen Präsidenten lässt sich durchaus ein Staatskonzept ableiten, das sich von dem Putins unterscheidet. Auf diese neuen Signale sollte der Westen genau hören – und seine eigene Politik darauf abstellen.
Wenn man Russen fragt, welche Idee sie von ihrem Land haben, kommt als Antwort meist: „Russland muss groß und stark sein!“ Gemeint ist dann immer geografisch groß, aber auch politökonomisch und militärisch stark. Träger, Garant und Symbol dieser Stärke muss nach Ansicht vieler Russen der Staat sein, und diese Stärke muss die Großmacht sowohl den eigenen Bürgern als auch den geografischen Nachbarn fühlbar machen – notfalls gewaltsam.
Staatspräsident Wladimir Putin hat seine primäre Aufgabe in den Augen der meisten Russen gut erfüllt: Die neue Stärke Russlands wird von ihm personifiziert. Es gehört daher zu den großen Rätseln, wieso für den Machterhalt Putins so komplizierte und nach westlichen Gesichtspunkten undemokratische Methoden gewählt wurden, wenn seine Wiederwahl eigentlich alternativlos war.
Im Westen wird die immer undurchsichtigere Bildung und Ausübung politischer Macht in Russland zunehmend kritisiert. Die nun gewählte Funktion des Ministerpräsidenten für Putin unter einem Präsidenten Dmitrij Medwedew ist offensichtlich nicht das unmittelbare juristische Optimum, um ihn als stärksten Mann zu konsolidieren. Es müssen also viele verborgene politische Machtbildungsvorgänge in Russland stattgefunden haben, welche die reale Perspektive der Machtausübung bestimmen.
So werden mit dem Erscheinen der Streitkräfte als wieder voll verwendungsfähigem Machtfaktor die internationalen Großmachtansprüche Russlands sichtbar als durchsetzbar deklariert – am sichtbarsten in der Siegesparade mit schwerem Gerät am 9. Mai 2008, also am dritten Tag nach Medwedews Amtsantritt. Putin kündete bei Bundeskanzlerin Merkels Besuch am 9. März 2008 denn auch an: Mit Medwedew werde der Westen es nicht einfacher haben.
Wieso Putin keinen legalen Weg gefunden hat für eine dritte Amtszeit, die ihm die Rolle des starken Mannes der geltenden russischen Präsidialdemokratie gesichert hätte, bleibt weiterhin den Spekulationen über die „Couloirs der Macht im Kreml“ überlassen. Die bis heute nicht abgeebbten Theorien sind Legion, und der Vorgang der unmittelbaren Auswahl von Medwedew als „Nachfolger“ Putins hat sie nicht beendet, weil er selbst anscheinend nur eine Sofortentscheidung in einer abgeschlossenen Kammer war.
Rätsel über Rätsel
Seit der Neubesetzung der beiden Spitzenstaatsämter am 7. und 8. Mai ist bereits eine neue wilde Spekulationswelle entbrannt, welche die klassische Kremlastrologie weit in den Schatten stellt: Wer von den beiden stand länger auf der Paradebühne, wer kam als erster durch die Tür, wer ergriff als erster das Wort, wer setzte sich auf welchen Sessel, bei wem wurde am längsten geklatscht? Und bei der Auswahl der Kreml-Verwaltung, des Weißen Hauses und sonstiger Behörden wird es noch schlimmer. Jede neue Personalie wird publizistisch intensiv durchleuchtet: Welche der „Neuen“ sind aus dem Stall Putins, welche aus Medwedews Dunstkreis, welche überhaupt neu, welche Positionen bekommen die bisherigen Teammitglieder und was tun sie dort? Der westliche Analytiker kann nur resümieren: Nach eigener Aussage haben Putin und Medwedew die letzten zwei Monate lang ausgiebig gemeinsame Kaderpolitik gemacht – in der Öffentlichkeit herrscht dabei der Eindruck vor, dass es eher um Absicherung persönlicher und Clan-Interessen gegangen sei.
Die aktuellen Analysen haben gemeinsam, dass sie sich stark an personen- und apparatgebundenen Informationen orientieren, die vielfach in einen nicht überschaubaren Hintergrund eingebettet sind. Ergänzt man diese Spekulationen jedoch durch öffentliche Äußerungen der Akteure, kann man zu einer abweichenden Wertung kommen. Dazu bieten sich insbesondere die zahlreichen programmatischen Äußerungen an, die Putin und Medwedew seit der -Bekanntgabe des „Nachfolgers“ am 10. Dezember 2007 gemacht haben. Obwohl beide ständig eine Einheit in den Auffassungen und Zielsetzungen proklamierten, ließ sich doch zunehmend eine unterschiedliche Denkstruktur verfolgen.
Putin hat die von ihm in zwei Präsidentschaften entwickelten Ideen und geschaffenen Tatsachen in die Zukunft projiziert – detailliert in seiner Bewerbungsrede1 am 8. Mai zur Wahl als Ministerpräsident durch die Duma. Die dabei vorgetragenen Daten bilden eine kontinuierliche Brücke von seinem Amtsantritt als Präsident 2000 bis ins Jahr 2020. Diese konstruierte Kontinuität wurde erstmals sichtbar beim Gerede über einen (angeblich geheimen) „Plan Putin“, bei dem es sich im Wesentlichen um eine Zusammenfassung seiner jährlichen programmatischen Botschaften an die Nation handelte. Diese zeichneten sich einerseits dadurch aus, dass sie bei ihrer Ist-Soll-Projektion nicht nur Putins Erfolge, sondern auch Missstände offenlegten – besonders eklatant immer wieder bei der Warnung vor der Korruption. Die jedoch hat während der gesamten Präsidialzeit Putins auch nach offiziellen Angaben ständig zugenommen – sodass der Schluss naheliegt, dass sie offensichtlich system-immanent ist.
Obwohl das Fehlen von Alternativen zur bisherigen Politik Russlands im Dumawahlkampf sowie bei der Präsidentenwahl von oben instrumentalisiert wurde, hat allein der Fakt von zwei Wahlen zu dem öffentlichen Bewusstsein in Russland geführt, dass eine Wahl ja offenbar auch mit Alternativen verbunden sei.
So verbreitete sich das Wort „Peremeny“ (Veränderungen) – ein Begriff der russischen und sowjetischen Sozialgeschichte, der naturhaft von außen kommende Umwälzungen sich entwickelnder Gesellschaften – unabhängig von der Politik der jeweils Herrschenden – postuliert. Diese latente Erwartungshaltung in Russland könnte Medwedew auffangen, kanalisieren und umsetzen, indem er von dem absoluten Vorrang der Gesetze ausgeht und daraus Schritt für Schritt ein gesellschaftliches Regelwerk entwickelt. In seinen bisherigen Programmreden hat er bereits eine eigenständige Handlungsstruktur entworfen, sodass man durchaus von einem „Plan Medwedew“ sprechen kann.
Der „Plan Medwedew“
Dieser Plan bietet Ansatzpunkte zur konkreten Kooperation – wenn er denn wirklich umgesetzt werden sollte. Präzise und kurz hat Medwedew ihn in seiner Antrittsrede2 am 7. Mai 2008 im Kreml vorgetragen. Er nennt dort als die Quelle der Stärke des Staates die Möglichkeit zur freien Selbstverwirklichung seiner Menschen. Die Rechte und Freiheiten des Menschen seien die höchsten Werte der Gemeinschaft, sagte er; und Russland müsse zu einem der besten Länder der Welt werden, indem es seinen Bürgern ein angenehmes Leben ermögliche. Dazu seien eine innovative Einstellung in allen Bereichen des Lebens und die tatsächliche Modernisierung ganz Russlands notwendig.
Dieser „Plan Medwedew“ unterscheidet sich vom „Plan Putin“ ganz grundsätzlich. Medwedew legt die Funktion des Staates als Erfüllung menschlicher Bedürfnisse zugrunde und sieht darin seine Größe – Putin dagegen bemisst die Größe des Staates an dessen Macht, sich die Gesellschaft unterzuordnen. Dabei vertritt Putin die traditionell gängige Meinung der Russen, Medwedew verkündet Zukunft. Ja, indem er sich gegen die absolute gesellschaftliche Majorität und die unter Putin entstandene Machtelite stellt, tritt er geradezu revolutionär auf.
Es ist klar, dass sich Medwedew nicht radikal gegen eine Gesellschaft stellen kann, die politik- und revolutionsmüde ist. Auch kann sich der junge, noch ohne große auf ihn orientierte Mitstreitertruppe antretende Präsident nicht gegen den Machtpolitiker Putin und seine „Personalressource“ durchsetzen. Sollten aber beide insoweit ein Tandem schaffen, dass der eine die gesellschaftlich-innovativen Komponenten in Russland vorantreibt, während der andere die staatstragende Verwaltung regiert, wäre eine sich ergänzende duale Führungsstruktur Russlands denkbar.
Medwedew und Putin würden sicherlich nicht idealiter kooperieren, sondern müssten sich notwendigerweise aneinander reiben.
Das würde auch zu den wiederholten Äußerungen Putins passen, Russland brauche einen geregelten Übergang in die Demokratie. Dafür nannte er den Zeitraum von drei Generationen, was man als zynisch ansehen kann – oder eben auch als durchaus realistisch.
Dass Medwedew um die Schwierigkeiten dieses Unternehmens weiß, ist aus seinem wiederholten Gebrauch des Wortes „ottepel“ – Tauwetter – in Bezug auf die gegenwärtige Situation abzulesen. Der Begriff hat eine historische Konnotation: Durch die Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit und die Einführung eines reformierten Kommunismus in Russland auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 brachte Nikita Chruschtschow der UdSSR eine Periode von kulturellem und wirtschaftlichem Fortschritt – eben die Tauwetterperiode. Sie endete 1964 mit der Absetzung Chruschtschows durch die Partei unter Führung seines Nachfolgers Breschnew. Aber sie dauerte immerhin so lange, wie die Parteifunktionäre ihre eigenen Interessen durch sie gefördert sahen. Auch heute müsste die neue Machtelite ihre Interessen gewahrt sehen, wenn sie den „Plan Medwedew“ dulden oder stützen soll. So war die Parallele von damals zu heute auch dem russischen Publikum vollkommen klar, als Medwedew am Abend nach seiner Wahl zum Präsidenten mit Putin zu einem Jugendkonzert am Kremlabhang ging und im Scheinwerferlicht verkündete: „Das Wetter ändert sich“. Dabei fielen auf ihn dicke tauende Schneeflocken – eine für russische Augen äußerst symbolträchtige Szene.
Neue Optionen für den Westen
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie Medwedew eine Konfrontation mit der Putinschen Machtelite vermeiden will, die er jetzt noch gar nicht riskieren könnte. Die Antwort ist, wie bei Chruschtschows Tauwetterperiode: Er muss ersichtlich besser als die herrschende Silowiki-Kaste von außen kommende, unvermeidliche „peremeny“ umsetzen, die nicht nur den Interessen des Volkes dienen, sondern auch den Besitzstand der neuen Führungselite absichern. Und, als weitere Parallele zu dem „ottepel“ der fünfziger Jahre: Dies muss ihm auch im Verhältnis zum Ausland gelingen. Durch gute Wirtschaftsbeziehungen muss er kontinuierlich die Fortentwicklung der mangelhaften Infrastruktur Russlands vorantreiben. Damit bekommen nun die Beziehungen des Westens zum Kreml unter Medwedew sowie zum funktionserweiterten Durchführungsapparat Weißes Haus unter Putin eine neue Dimension. Wenn es gelingt, durch Kontakt zu beiden Zentren Kooperationsbereiche zu finden, wird sich das sowohl konstruktiv im Inneren auswirken als auch positiv im Verhältnis zu Russlands ausländischen Partner-Konkurrenten. Um hier gegenseitig kompatibel zu werden, müssten allerdings noch viele Abgleichungen über das, was man miteinander kann, darf, soll, muss, geführt werden. Dabei sind insbesondere die Erfahrungen der Wirtschaftskooperation aus den Zeiten des Kalten Krieges zu berücksichtigen: Betrieben wurden sie nicht als reines Geschäft, sondern beidseitig durchaus auch als Kriegsverhinderungsinstrument.
Unter den augenblicklichen Umständen sind die Wirtschaftsbeziehungen zu einer sich geopolitisch wieder etablierenden Weltmacht Russland auch von westlichen Partnern nicht als rein privatwirtschaftlich, sondern vorrangig politisch zu definieren. Man darf etwa die Wirtschaftskriege Putins gegen Russlands kleine Nachbarstaaten nicht mehr unwidersprochen als „marktwirtschaftliche Adaptionen“ hinnehmen. Man muss an die Zeit der Erdgaspipelinekooperation der achtziger Jahre erinnern, bei denen die beteiligten Firmenvertreter sowohl bei den Vertragsverhandlungen als auch in der Öffentlichkeit immer wieder klarstellten, dass ein Absperren der Pipelines ein Akt des Wirtschaftskriegs wäre – weshalb dieser Schritt damals nicht getan wurde. Man muss auch deutlich machen, dass der Kreml nicht einfach durch den Stempel „strategisch“ ganze Wirtschaftsbereiche für westliche Investoren sperren oder sie gar enteignen darf, während er gleichzeitig lautstark den Zugang für Gazprom zu den westeuropäischen Endkunden verlangt.
Damit bekommt Deutschland im Rahmen seiner historischen Tradition enger Beziehungen zu Russland die Chance, neue Kooperationsbeziehungen zu einem sich gemäß dem „Plan Medwedew“ entwickelnden neuen Russland zu gestalten. Partner sein dürfen dabei keineswegs nur die unter Putin großgezogenen Staatsbetriebe, sondern auch Mittelstandsfirmen, um deren Interessen sich Medwedew bereits konkret kümmert.
Jetzt sollten neue Kontakte mit neuen Leuten und neuen Themen geknüpft werden – sobald wie möglich, denn hier liegt eine große Chance. Bundesaußenminister Frank--Walter Steinmeier hat auf dem Weg zum ersten Treffen mit dem neuen Präsidenten Dmitrij Medwedew am 13. Mai 2008 einen Umweg nach Jekaterinburg im Ural gemacht und dort geredet, wo auch Medwedew als Präsidentschaftskandidat eine Programmrede gehalten hatte. Es zeigt sich, dass beide Reden kompatibel sind und neue Optionen eröffnen. Wie schnell Russland bereit ist, das Angebot Steinmeiers zu einer „Modernisierungspartnerschaft“ anzunehmen, wird der erste Besuch von Präsident Medwedew im westlichen Ausland am 5. Juni in Berlin zeigen.
Die vorgeschlagene „Modernisierungspartnerschaft“ zeigt detailliert beidseitige Chancen auf, setzt sie aber in Bezug zu inneren Veränderungen in Russland. Insbesondere macht sie deutlich, dass sich Russlands geopolitische Position unter neuen Bedingungen nicht nur auf -geografische Größe und militärische Stärke stützen darf. Wenn dieser neue Dialog nicht gelingt, droht, wie beim Präzedenzfall Tauwetterperiode, neue Repression in und neuer Kalter Krieg mit Russland. Das muss nicht sein.
AXEL LEBAHN, geb. 1943, war von 1983 bis 1991 in der Deutschen Bank zuständig für das UdSSR-Geschäft, von 1992 bis 2002 von Düsseldorf aus und seit 2003 von Göttingen aus selbständig aktiv mit strategischem Russland-Consulting.
Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 111 - 115