Intrigen und Reformen
Die Wirtschaft als Motor der Politik Putins
Nach anfänglicher Euphorie über Putin als Reformer der Wirtschaft zweifelt der Westen immer
mehr, ob Putin seine Linie weiterverfolgen kann. Intrigen und Machtspiele prägen das Bild.
Wer denn Herr Putin sei fragte sich nach dessen Wahl zum Präsidenten Anfang 2000 eine überraschte internationale Elite auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. In den ersten drei Jahren seiner Amtszeit glaubte man ihn dann kennen zu lernen – als Reformator von Staat und Wirtschaft achten zu können und als Partner des Westens schätzen zu dürfen. Für zahlreiche Staats- und Regierungschefs westlicher Staaten gehörte es zum politischen Geschäft, sich der persönlichen Freundschaft mit Wladimir Putin rühmen zu können. Dabei stand Putin als Symbolfigur für das durch seine Politik geprägte Russland, welches damit einen zusätzlichen Sympathiebonus erhielt.
Mit Beginn des letzten Amtsjahrs des russischen Präsidenten begann man Dinge wahrzunehmen oder auszusprechen, die einige Fragezeichen hinter die positive Beurteilung Putins und seines Landes setzten. Nach der Euphorie der weltweiten Kampfgemeinschaft gegen den Terror nach dem 11. September 2001 mit einer klaren Einordnung Russlands durch persönliche Entscheidung Putins in die von den USA geführte Allianz zeigten sich allmählich außenpolitische Züge, die den Erwartungen an ein modernes weltoffenes Russland nicht entsprachen und eher zaristischen oder kommunistischen Traditionen zugeordnet wurden. Innenpolitisch stellte man eine zunehmende Rolle des Staates und abnehmende Freiheiten von Bürgern und Presse fest. Nachdem 2002 noch etliche wichtige Wirtschaftsreformen abgeschlossen worden waren, blieben weitere erwartete marktwirtschaftliche Maßnahmen im Jahr 2003 aus.
Die Politik- und Wirtschaftsauguren diskutierten, ob es sich nur um einen zeitweiligen Stillstand der positiven Entwicklungen der ersten drei Amtsjahre Putins handele, der mit den Dumawahlen vom Dezember 2003 sowie den Präsidentenwahlen im März 2004 zu erklären war, oder ob es sich bereits um den Beginn eines strategischen Rückzugs der liberalen Präsidialpolitik handele. Die Moskauer Politikbeobachter waren trotz der bereits praktizierten Gleichschaltung der Presse bis zum Sommer 2003 noch geneigt, von einem wahltaktischen Verhalten in der Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik auszugehen, welches, der antiliberalen Volksstimmung im Lande Rechnung tragend, die Erringung einer starken Mehrheit in Duma- und Präsidentschaftswahlen anstrebt, um danach die Machtbasis für die Fortführung der Reformpolitik zu haben. Der Verlauf der Jukos-Affäre und das Vorgehen gegen Michail Chodorkowskij, die Führung des Dumawahlkampfs und die Abkehr von internationalen hin zu nationalen staatlichen Präferenzen veranlasste liberale Politikbeobachter wie Politiker zunehmend zu drastischen negativen Bewertungen der Entwicklungen.
Die in Moskau häufig als „zu negativ“ getadelte deutsche Presse sah sich in ihren skeptischen Erwartungen nur bestätigt. In den USA wurden ab Herbst 2003 die öffentlichen Äußerungen über Russland innerhalb kurzer Zeit kritisch und immer negativer. Erstmals wurden die dem Westen unliebsamen innenpolitischen Entwicklungen in allen wichtigen Punkten öffentlich kritisiert – die russische Wirtschaftspolitik gehörte jedoch nicht dazu. Deutet sich hiermit deren Sonderrolle in der westlichen Wahrnehmung an und können zukünftig die russischen Außenwirtschaftsbeziehungen eine besondere politische Funktion haben?
Die Bedeutung der wirtschaftlichen Basis für jeden Überbau hat Putin im Marxismus-Leninismusunterricht zweifellos schon von Kindesbeinen an gelernt. Auch die Schwerpunktsetzung „it’s the economy, stupid“ für die Gewinnung von Wählerstimmen muss ihm nicht erst beigebracht werden. Ein Umfrageergebnis des soziologischen Dienstes ROMIR von Ende Januar 2004 über die vorrangigen Aufgaben des Staates in Russland nannte an erster Stelle mit 45% der Befragten „Entwicklung der Wirtschaft“, an zweiter Stelle mit 29% „Senkung der Inflation und Erhöhung des Wohlstands“ und an sechster Stelle mit 14% „Kampf gegen Korruption“. Genau diese Punkte machte Präsident Putin auch zum Schwerpunkt seiner einzigen Wahlkampfrede am 12. Februar 2004.
Dabei konnte er die Entwicklung des von ihm zunächst 1999 als Ministerpräsident und dann 2000 als Präsident in desolatem Zustand übernommenen Landes nicht nur mit eindrucksvollem eigenem statistischen Zahlenwerk, sondern auch mit ausländischer Anerkennung belegen: das Bruttosozialprodukt Russlands steigerte sich unter seiner Regierung um 30%, es wurde erstmals von den amerikanischen Ratingagenturen als positiv eingestuft; Russland wurde von der internationalen Antikorruptionsagentur FATFA wegen seiner Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung von der „schwarzen Liste“ gestrichen.
Dass die Anerkennung insbesondere für die von Wladimir Putin durchgeführten Wirtschaftsreformen im Ausland noch größer ist als beim russischen Volk selbst, liegt daran, dass bei diesem das Wort „Reform“ heute ein Schimpfwort ist. Das Volk hat die durchlittenen Fehlentwicklungen nicht vergessen und verlangt heute mehrheitlich deren Korrektur vornehmlich durch erneute Eigentumsumschichtung und durch Enteignung und Bestrafung der Profiteure – insbesondere der „Oligarchen“ wie Michail Chodorkowskij –, und sieht darin die Wiederherstellung von Gerechtigkeit, nicht aber Staatswillkür, auch wenn das vom Ausland so gesehen wird.
Die teilweise sehr unterschiedlichen Positionen und Erwartungen hinsichtlich des Stellenwerts der Jukos-Affäre in der zweiten Amtszeit von Putin führen zu folgenden Fragestellungen: Kann und wird Putin eine von seiner sonstigen Politik abgekoppelte Wirtschaftspolitik machen? Wenn ja – welche Folgen hätte das für seine Außen- und Außenwirtschaftspolitik? Und welche Perspektiven eröffnet das für die außenpolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen Russlands im Hinblick auf seine wichtigsten Partner USA und Deutschland?
Reformen
Plant Putin eine Reformwirtschaftspolitik als Motor seiner gesamten Politik? Es ist ein Hobby der russischen Politologen, die Veränderungen der Machtverhältnisse zwischen den nach allgemeiner Auffassung von Putin mehr austarierten als beherrschten drei clanähnlichen Machtgruppierungen – der „Familie“ Boris Jelzins, der Petersburger Reformer und der ebenfalls überwiegend aus Petersburg rekrutierten „Silowiki“ (Vertreter der Machtorganisationen) sowie die sich daraus ergebenden Personalkarrieren zu verfolgen. Bezeichnenderweise hat das dabei dominierende Schlüsselwort „Intrige“ im Russischen drei Bedeutungen: „Ränke“, „Spannung/Abenteuer“ und „Knoten der Handlung“. Die bei so vielen Arten von Intrigen unvermeidliche Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit der russischen Politik macht es deshalb auch schwierig, aussagekräftige Zielprojektionen der russischen Wirtschaftspolitik zu finden. Früher gab es Jahres- und Fünfjahrespläne, danach wurde die marktwirtschaftliche Revolution von Wissenschaftlern wie Stanislaw Schatalin und Grigorij Jawlinski im „500-Tage-Programm“ vorbereitet.
Den Einstieg in die erste Amtszeit Putins gaben die verschiedenen Gref-Pläne. Drei Wochen vor der am 14. März 2004 zu erwartenden Wiederwahl Putins kündigte Wirtschaftsminister German Gref schon für 2005 den Sturz Russlands in den Abgrund an, wenn wesentliche Elemente der Reform nicht bald realisiert würden, insbesondere etwa die Verwaltungsreform. Doch bei der einzigen Wahlveranstaltung Putins am 12. Februar 2004 notierten Journalisten, dass er das Wort „Reform“ vermied und statt dessen bei Wirtschafts- und Staatsteilbereichen von „Modernisierung“, damit also eigentlich schon von weitgehend getaner Arbeit sprach.
Müssen deshalb jetzt bei westlichen Anhängern der gerade im deutschen Wirtschaftsestablishment beliebten Hoffnungshaltung nach dem Motto „unser Reformator Putin wird es schon richten“ rote Warnsignale aufleuchten und bei den zum Investieren entschlossenen deutschen Firmen komplexere Überlegungen über den fundamental politischen und sozialen Hintergrund statistischer Volkswirtschaftshochrechnungen angestellt werden? In westlichen Geschäftskreisen gibt es die populäre These, dass alle nach westlichen Kategorien bedenklichen Entwicklungen des letzten Amtsjahrs der ersten Wahlperiode des Präsidenten nur unvermeidliche populistische Konzessionen zum Erreichen der massiven Duma- und Präsidialwahlmehrheit gewesen seien, die danach dem „echten“ Putin eine schnelle und umfassende Vollendung der westorientierten Reformpolitik ermöglichen sollen. Doch was wird sein, wenn Putin sich nicht so verhält?
Tatsächlich muss das Fehlen von Programmpapieren von der Art des „500-Tage-Programms“ Jawlinskis, das seinerzeit zumindest den Westen für die Reformperspektiven Russlands und damit zur großzügigen Gewährung von später verlorenen Krediten animierte, für die zweite Amtszeit Putins noch nicht von vornherein eine negative Beurteilung begründen. Putin wird von Sachkennern geachtet als Pragmatiker der realitätsnahen Einzelmaßnahmen, die ohne zeitliche Überstürzung schrittweise und möglichst sozialverträglich angegangen werden. Es ist im Westen zumeist nicht beachtet oder zumindest heute vergessen worden, dass neben dem schon zu Putins Ministerpräsidentenzeit von Gref geleisteten Vorarbeiten für ein Wirtschaftsreformprogramm nach Putins Amtsantritt innerhalb seiner Administration eine Reihe von „Strategien“ erstellt wurden. Diejenige für Außenpolitik legte nicht nur die Prioritäten für die wichtigsten Weltregionen fest, sondern auch Aufgabenschwerpunkte sowie Voraussetzungen russischer Diplomatie. Als für beides grundlegend wurden dabei die Entwicklung einer konkurrenzfähigen russischen Wirtschaft hervorgehoben und so Querverbindungen zu den Gref-Reformprogrammen geknüpft.
Querverbindungen wurden aber auch zu „Strategien“ gezogen, die vom Sicherheitsrat erstellt wurden und staatliche Sicherheit und Stärke sowie die weltweite nationale Größe Russlands in den Vordergrund stellten. Diese die Staatsmacht als oberste Priorität betonenden Sicherheitsstrategien sind dem modernen westlichen Denken so fremd, dass sie durchweg nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden. Sowohl diese Ideen als auch ihre Träger haben in den letzten Jahren den „Marsch durch die Institutionen“ gemacht und Machtpositionen besetzt sowie Umbesetzungen bewirkt – in der Wirtschaftspolitik, in der Wirtschaftsverwaltung sowie im Management. Der von Putin am 1. März 2004 der Duma als neuer Ministerpräsident vorgeschlagene Michail Fradkow ist ein typischer Exponent dieser Kaste. Die „Silowiki“ sind der Hauptgrund für den Reformstillstand in Putins viertem Amtsjahr, obwohl alle sehr wohl wissen, dass ein starkes Russland eine starke Wirtschaft braucht. Putin muss also mit Beginn seiner neuen Amtszeit eine starke Führungskraft zeigen, um Reformen zu vollenden.
Liberalisierung
Die von Gref verkörperte Richtung der liberalen Wirtschaftsreform wirkt heute in Funktionen des Staates, der Wirtschaft und der Politik/Publizistik. Während die letzte Dumawahl liberalen Politikern den Garaus machte, bereiten einzelne Präsidialamtsinstanzen und Ministerien konkrete weitere Schritte der Liberalisierung von Verwaltung und Wirtschaft vor. So wird vom Finanzministerium eine weitere Vereinfachung und Senkung der Steuern geplant; intensiv wird auch an der Privatisierung des Immobilienrechts und des Wohnungswesens gearbeitet; Pläne gibt es zur Reform des Gesundheits- sowie des Ausbildungswesens. Erste neue Maßnahmen nach langem Stillstand sind für das Bankensystem vorgesehen; das Eisenbahnministerium bereitet den kurzfristigen Abschluss eines Zweijahresprogramms mit einem unmittelbar darauf folgenden Zehnjahresprogramm vor. Diese Fristen werden damit begründet, dass zuerst ein von den internationalen Ratingagenturen prüfbares Detailprogramm vorgelegt werden muss, dessen Ausführung dann in einem Zehnjahresraum mit zeitkongruenter Finanzierung durch international zu handelnde Bonds erfolgen soll.
Hier wird also die strategische Planung der staatlichen Transportinfrastruktur von vornherein in der Erkenntnis vorgenommen, dass sie nur mit massiver ausländischer Kapitalbeteiligung realisiert werden kann. Dies gilt ebenso für die Pläne von Mautautobahnen. Auch für die Luftfahrt sind Kooperationen geplant. Die Teilnahme des Auslands an diesen geopolitischen Grundstrukturen setzt die Zustimmung der „Silowiki“ voraus, und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass es ohne das Ausland nicht geht. Insofern haben hier wirtschaftliche und finanzielle Zwänge der Wirtschaftsreformer ganz pragmatisch die Oberhand über den Sicherheitsclan.
Auffällig ist, dass all diese Teilpläne zum April/Mai 2004 vorliegen sollen – ein Zeitpunkt, an dem der wiedergewählte Putin dann eine neue Regierung ernannt haben wird, die ihrerseits durch Konzentration von Lenkungsmaßnahmen auf weniger Ministerien, durch Auslagerung von Aufsichtsmaßnahmen auf Institutionen und durch Privatisierung wesentlicher Wirtschaftsbereiche und -funktionen völlig restrukturiert sein soll. Es ist damit zu rechnen, dass die Duma dann unverzüglich mit einer Reihe wichtiger Reformgesetze überschwemmt wird, deren zügige Abarbeitung von der augenblicklichen Konstellation im Parlament gesichert ist. Zudem arbeitet seit Sommer 2003 in aller Stille die „Gruppe Verdoppelung des Bruttosozialprodukts“ unter dem stellvertretenden Vorsitzenden der Verwaltung des Präsidenten, Igor Schuwalow. Ihr Name entstammt einem Vortrag des Präsidenten vor der Föderalversammlung, in der Putin die erforderliche Reform nicht von ihren Mitteln und Einzelinhalten, sondern von dem angestrebten Endergebnis her bestimmte. Nur bei einer Verdoppelung des Bruttosozialprodukts innerhalb von zehn Jahren könne dem Volk zur notwendigen Erhöhung seines Wohlstands verholfen werden und zugleich der Anschluss an den internationalen Lebensstandard gefunden werden.
Damit wird die Wirtschaft zum Instrument des inneren und äußeren Erfolges des Landes, seiner Bevölkerung, der Regierenden und Wirtschaftskräfte, wobei die persönliche Konkurrenzfähigkeit Bedingung und Maßstab des Erfolgs aller sein muss. Auf diese Weise wird die Wirtschaftsreform zum zentralen Thema, dem sich alle staatlichen sowie zivilen Aufgaben des Landes unterzuordnen haben. Sollte Putin tatsächlich die Zusammenführung der vorbereiteten Bereichsentwicklungspläne mit dem „Programm Bruttosozialprodukt“ mit Antritt seiner zweiten Amtszeit in und durch die Duma bringen, würde damit nicht nur eine neue Phase der Reformpolitik eingeleitet, sondern auch andere Politikbereiche des Staates diesen Prioritäten unterworfen. In diesem Fall wäre es für den Westen von besonderer Wichtigkeit, die Außenwirtschaft als Brücke zu diesem politischen Machtkern zu pflegen.
Der Marsch der russischen „Silowiki“ und ihrer Ideen durch die Institutionen hatte Auswirkungen auf die russische Staatsführung, die dem Westen schon seit langem unangenehm sind, aber erst seit kurzem offen ausgesprochen werden. Plötzlich ist die Rede von einer bevorstehenden schweren Krise im Verhältnis zu Russland und von einem kalten Winter. Der Westen hat im Anschluss an viele fehlgelaufene Erwartungen an die Perestroijka nach deren wirtschaftlichen und politischen Bruchlandung bei dem Desaster von 1998 keine notwendige, eigene Fehleranalyse vorgenommen, sondern zur schließlichen Realisierung der bisher nicht erfüllten Reformerwartungen kontinuierlich auf Putin gesetzt. Nachdem erneut unliebsame Erscheinungen in Russland auftreten, werden die seit dessen Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie kumulierten Fehlentwicklungen plötzlich offen angesprochen.
Amerika
Die Vereinigten Staaten haben traditionell die Außenwirtschaftsbeziehungen als aktiv einzusetzenden Teil ihrer Außenpolitik gesehen. Sie nehmen in ihren offiziellen politischen Erklärungen auch häufig Bezug auf Vorkommnisse, die früher laut den dann jeweils fälligen Protesten der Sowjetunion als deren „innere Angelegenheit“ deklariert wurden. Auch das neue Russland Putins wehrte sich intensiv gegen das als „Messen mit zwei Maßstäben“ erklärte verzerrende Darstellen seiner Positionen durch die amerikanische Regierung – bis hin zu dem jüngsten vergeblichen Versuch von Außenminister Igor Iwanow, eine Gegendarstellung durch einen Leserbrief in der amerikanischen Presse zu erreichen.
In den USA ist bis heute auch das Jackson-Vanik-Amendment aus dem Jahr 1975 nicht aufgehoben – nach russischem Verständnis ein längst überholter Vorwand, um von außen auf innere Angelegenheiten des neuen Russlands Druck auszuüben. In Moskau interpretierte man die Beschneidung russischer Stahlexportquoten durch die Regierung von George W. Bush als Handelskrieg im wahrsten Sinne des Wortes. Man hat sich dafür sofort und bis heute wiederholt durch Beschränkung der amerikanischen Geflügelexporte revanchiert. Die von den Vereinigten Staaten gegen die damalige Sowjetunion verhängten Embargos (Getreide, Fleisch, Maschinen, Röhren) sind bei den Russen bis heute nicht vergessen. Sie rechnen im Falle einer nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen des neuen Russlands zu den USA mit deren Wiederauflagen.
Aber von allen mit westlichen Ländern betriebenen Institutionen der Wirtschaftskooperation ist für die russische Regierung die im Rahmen der so genannten „Gore-Tschernomyrdin-Kommission“ die Wichtigste. Zurzeit wird bereits der dritte russisch-amerikanische Energiegipfel in Moskau mit der Planung konkreter Aufgabenstellungen vorbereitet – hier stehen nicht nur Großprojekte mit riesigem Investitionsvolumen auf dem Spiel, sondern damit sind auch grundlegende Sicherheitsorientierungen beider Länder verbunden.
In diesem Bereich ist also für beide Seiten ein beträchtliches Potenzial für „sticks and carrots“ vorhanden, zu dessen Einsatz beide bereit sind. Das zeigt auch deren dauerndes Agieren im „big game“ um die Erdöl- und Erdgasressourcen im Großraum um das Kaspische Meer, was mit militärischen Einsätzen flankiert wird. Solche Einsätze sind allerdings mehr als problematisch, denn deren Auswirkungen können leicht außer Kontrolle geraten. Eine mögliche sich jetzt anbahnende Krise der westlichen Beziehungen zu Russland müsste daher mit sehr kontrollierten Außenwirtschaftsreaktionen im vollen Bewusstsein von Einsätzen, Gewinnen und Verlusten – nicht aber schnellen, populistischen Entscheidungen im Blick auf eine der beiden Präsidentenwahlen – instrumentalisiert werden.
Deutschland
Die traditionelle deutsche Außenwirtschaftsdevise lautet: „Die Flagge folgt dem Kaufmann“, das heißt, der Geschäftsmann errichtet unpolitische Fundamente, auf denen danach der Politiker aufbauen kann und bekommt so nachträglich doch noch ein eigenes politisches Gewicht. So wurden in den zwanziger Jahren zunächst Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu der damals noch international verfemten Sowjetunion geknüpft, die außenpolitisch den Vertrag von Rapallo vorbereiteten und erst in dem Augenblick unterbrochen worden, als im Juni 1941 in die Sowjetunion einrückende deutsche Panzerspitzen auf die gen Westen rollenden Getreidezüge stießen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich die deutschen Osthändler als Vorreiter einer Kooperation zwischen dem Westen und dem Sowjetblock, die durch persönliche Beziehungen und wirtschaftliches Gewicht das Interesse beider Seiten an Kriegsvermeidung und an Vermehrung des gemeinsamen Wohlstands fördern sollte.
Die damals wichtige langjährige „Deutsch-Sowjetische Wirtschaftskommission“ hat noch heute einen nostalgischen Nachfolger in dem unter Jelzin gegründeten „Kooperationsrat“. Von den aktivsten der 2700 deutschen Firmen in Moskau wurde ein „Verein der deutschen Wirtschaft in Russland“ gegründet, der nicht nur kommerzielle, sondern auch kulturelle, wissenschaftlich-technische und soziale Beziehungen zum Gastland pflegt und mit der American Chamber of Commerce in der Stimulanz von Marktwirtschaft und Demokratie in Russland durch ständige Präsentation jeweils eigener nationaler Modelle und Werte wetteifert.
Unter der persönlichen Patronage von Putin und Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde 2000 eine „Strategische Arbeitsgruppe“ mit Beteiligung der einschlägigen Ministerien und potenter Firmen geschaffen. Sie hat seitdem unter großem Zeit- und Arbeitsaufwand fünfzehn Mal getagt und erwartet jetzt zunehmend konkrete Ergebnisse. Sie wird akzentuiert durch Einbeziehung in die weniger oft stattfindenden „Gipfeltreffen“ von Schröder und Putin mit vielen Ministern und noch mehr Presse. Dabei hat der letzte Gipfel im Herbst 2003 in Jekaterinenburg gezeigt, dass auch ein noch so hoher gemeinsamer Einsatz zum Misserfolg führen kann: die als Attraktion angekündigte Unterzeichnung eines Milliardengeschäfts zwischen Ruhrgas und Gasprom entfiel.
Durch ihre Teilnahme am „Petersburger Dialog“ mit dem Ziel der Förderung der Zivilgesellschaft demonstriert die deutsche Wirtschaft, dass sie mit Russland nicht nur Geschäfte machen, sondern auch die Beziehungen zwischen den Völkern verbessern will. Auch hier zeigt sich angesichts zunehmender Negativeinwirkungen der „Silowiki“ auf die russische Zivilgesellschaft ein Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit des deutschen Einflusses in Russland. Die aktive Beteiligung deutscher Firmen am „Jahr der russischen Kultur in Deutschland“ 2003 sowie am „Jahr der deutschen Kultur in Russland“ 2004 bestätigen eine schon zu Zeiten der Sowjetunion begründete deutsche Firmentradition, dass zu einer intensiveren Wirtschaftskooperation auch die Kenntnis und Würdigung der Kultur und Geschichte des anderen Partners gehört.
Im Falle einer außenpolitischen Krise im Verhältnis des Westens zu Russland würden sich diese deutschen Initiativen verselbstständigen und einen eigenen Beitrag zur Krisenüberwindung erbringen wollen. Sie würden dies sowohl als Modell für andere westliche Länder als auch als Chance ansehen, über den russischen Wirtschaftsmotor konstruktiven sozialen Einfluss in Russland auszuüben. Die jedem deutschen Russland-Fachmann bewussten, jahrhundertelangen gemeinsamen Außenwirtschaftsbeziehungen beinhalten die Erfahrung von Gut und Böse in Russland und die Gewissheit, dem Land Zeit geben zu müssen. In einer neuen Russland-Krise würde man eine Herausforderung zu weiteren Aktivitäten sehen. Deutsche Wirtschaftspraktiker orientieren ihre Einschätzung der Entwicklungsperspektiven Russlands an der seit Beginn der Perestroika bei den Russen verbreiteten Selbsteinschätzung: „Bei uns ist alles möglich.“
Internationale Politik 3, März 2004, S. 43-50
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