Modernisierer statt Marionette
Dmitri Medwedews sanfte Revolution
Seit gut zwei Jahren ist Dmitri Medwedew Präsident in Russland. Anfänglich im Westen als Hoffnungsträger gefeiert, fällt seine Halbzeitbilanz aus Sicht vieler Beobachter enttäuschend aus. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass das erstarrte Machtgefüge der Ära Putin durch die Reformen seines Nachfolgers schon jetzt massiv ins Wanken geraten ist.
Groß waren die Erwartungen im Westen, als Dmitri Medwedew im Mai 2008 das Präsidentenamt in Russland antrat. Medwedew werde sich, so hoffte man, rasch von seinem Vorgänger Wladimir Putin emanzipieren und die ambitionierten Ziele, die er vor seiner Wahl verkündet hatte, in die Tat umsetzen. In Russland, vor allem in der Opposition, sah man das skeptischer. Hier erwartete man von Medwedew, viele Jahre lang einer der Hauptakteure des Putin-Systems, kaum mehr als ein paar auf Außenwirkung zielende Reformen – schöner Schein für den Westen und im Osten nichts wesentlich Neues. Auch die Stimmen aus dem Westen sind seitdem kritischer geworden. In den Analysen zur „Halbzeit“ der Präsidentschaft im Mai 2010 konnte man die Kritik der russischen Oppositionellen zum Teil widergespiegelt finden.
Deren seit Jahren unveränderter Kampfruf „Russland ohne Putin“ lässt sich aus ihrer Frustration erklären, dass sie seit Putins Amtsantritt keine Rolle mehr im politischen Leben Russlands spielen. Er ist aber weit davon entfernt, den komplizierten Verhältnissen gerecht zu werden. Schaut man genauer hin, dann wird deutlich, dass es bisher zwar zu keiner nachhaltigen Konfrontation im Tandem Putin-Medwedew gekommen ist, dass sie aber in einer Reihe von Fragen ganz unterschiedliche Positionen vertreten.
Macht und Mentalität
So hatte Medwedew vor seiner Wahl stets erklärt, eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft in Russland müsse die Basis aller politischen Maßnahmen bilden. Er bescheinigte den Russen eine nur schwach ausgeprägte Rechtskultur. Nicht nur eine Neugestaltung des juristischen Systems, ein Bewusstseinswandel insgesamt sei vonnöten, um darauf aufbauend Reformen (die so genannten „Änderungen“ – „Peremeny“) in den übrigen Sektoren in Angriff nehmen zu können.
Der methodisch denkende und didaktisch auftretende Medwedew konzentrierte sich zunächst auf juristische Reformen, ging aber parallel dazu auch andere Neuerungen an. Dabei betonte er stets, dass diejenigen, die Verantwortung im Lande tragen, sich hinterfragen und gegebenenfalls ihr Verhalten ändern müssten. Gleichzeitig kündigte Medwedew an, Machtfunktionen an dafür geeignete, nicht mit den Mängeln der Vergangenheit belastete Kandidaten vergeben zu wollen. Damit signalisierte er den bisherigen Machtträgern, dass sie zwar nicht im Schnellverfahren verdrängt, aber doch allmählich ersetzt werden sollen. Dieser vergleichsweise behutsame Umgang mit dem vorhandenen Personal wird Medwedew von Kritikern, die von ihm rasche, entschiedene Reformen erwarten, als Schwäche und Unselbständigkeit gegenüber Putin und seiner Mannschaft angekreidet.
Diese Kritiker nehmen nicht zur Kenntnis, dass die Macht in Russland heute noch immer vornehmlich von den „Silowiki“, den Vertretern von Geheimdiensten und Militär, ausgeübt wird. Eine Macht, die die Silowiki weder teilen noch abgeben werden – zumindest nicht freiwillig und in der ganz nahen Zukunft. Hätte Medwedew nahtlos Putins autoritäre Position als „neuer Zar“ übernommen, wären die alten Seilschaften lediglich durch neue ergänzt worden.
Auch ist der Begriff „Tandem“ irreführend, da es sich bei Medwedew und Putin im Grunde um zwei Pole mit unterschiedlichen politischen Konzeptionen handelt, die – sich teils ergänzend, teils einander ausschließend – miteinander konkurrieren. Schon damit ist für neue Beweglichkeit in einer in den vergangenen Jahren zunehmend erstarrten Gesellschaft gesorgt. Zwar kann man nicht kurzfristig demokratischen Wandel durch Wahlen nach westlichem Muster erwarten, doch dürfte es zu Verlagerungen zwischen den Machtgruppen und zu politischen und ökonomischen Neuverteilungen kommen, die von außen nicht ohne Weiteres erkennbar sind.
Neue Menschen, neue Positionen
Ein Blick auf die bisherigen Neubesetzungen zeigt, dass es vergleichs-weise wenige treu ergebene Parteigänger sind, denen der Präsident wichtige Posten verschafft hat. Gemäß seinem Anspruch, „neue Menschen in reformierte Positionen zu bringen“, ernennt er vorwiegend jüngere Amtsträger und fördert so neue Mentalitäten und Qualifikationen. Ein Beispiel ist die Neuschaffung einer Regierungsstruktur für den Kaukasus. Nachdem der Ausnahmezustand in Tschetschenien offiziell noch von Putin für beendet erklärt wurde, verkündete Medwedew, die Region nicht mehr durch die Silowiki – und damit auch mit deren Methoden – beherrschen zu wollen, sondern mit zivilen und zukunftsweisenden Mitteln. Dafür setzte er einen Wirtschaftsfunktionär im Range eines Generalgouverneurs ein, der mithilfe von Fachleuten in erster Linie wirtschaftliche Infrastrukturen aufbauen und nachhaltige Arbeitsverhältnisse schaffen soll. Besonders in Fällen von Amtsmissbrauch, die öffentliches Aufsehen erregten, tat der Präsident sich durch schnelle Neubesetzungen sowie die Einleitung von Strafverfahren gegen die Abgesetzten hervor.
Medwedew sucht den Dialog – innerhalb der Gesellschaft und zwischen Herrschenden und Beherrschten. Mit Erfolg: Die Verantwortlichen in den Zeitungsredaktionen trauen sich wieder, Kritik zu üben, und im Internet findet die Meinung der russischen Bürger unmittelbaren Ausdruck. Medwedew, der auch sonst das Internet als modernes Kommunikationsmittel propagiert, fördert so neben der Kontrolle durch Parlament und Judikative – beides bislang völlig unzureichend in Russland – eine Bewegung „von unten“. Die russische Bevölkerung, die sich von „denen da oben“ traditionell nicht ausreichend beachtet fühlt, macht sich angesichts des nach wie vor rigide eingeschränkten Demonstrationsrechts durch direkte Aktionen wie Flash-Mobs bemerkbar.
Doch an einer Mobilisierung der Straße mit allen Konsequenzen ist auch Medwedew nicht gelegen. Indem die Regierung Missstände bekämpft und die Verantwortlichen absetzt, versucht sie, dieser Mobilisierung entgegenzuwirken. Da die Folgen der Weltwirtschaftskrise besonders in der Provinz zu spüren waren, wuchs dort die Unzufriedenheit bis hin zur offenen Empörung. Auch hier wurden Reak-tionen der Obrigkeit durch Aktionen „von unten“ provoziert. Besonders Putin gefällt sich dabei in der Rolle des Machers, der entschlossen gegen Massenarbeitslosigkeit vorgeht und bei Unglücken in Kraftwerken oder wie jüngst bei den verheerenden Waldbränden rasch und medienwirksam vor Ort ist.
Grundübel Korruption
Dass Russlands Regierungen bei der Bekämpfung des Grundübels Korruption stets nur bescheidene Erfolge erzielen, wird ihnen allen Umfragen zufolge von der Bevölkerung besonders negativ angekreidet. Und so entließ Wladimir Putin gleich an seinem zehnten Tag im Präsidentenamt im Jahre 2000 mehrere Kremlbeamte wegen Bestechlichkeit und beklagte auch in seinen Reden stets das Anwachsen der Korruption. Unterm Strich aber unternahm er in seiner Amtszeit wenig dagegen. Sein Nachfolger Medwedew hat sich des Themas angenommen, geht allerdings als Jurist systematisch vor – Antikorruptionsmaßnahmen müssen zunächst einmal juristisch fundiert sein, bevor man ihre Ausführung in die Wege leiten kann. Kein Wunder, dass sich Erfolge erst langsam einstellen. Daher muss Medwedew zurzeit noch mit dem Missmut der breiten Massen leben und den Vorwurf ertragen, er handle nicht.
Doch die in der Bevölkerung aufkommende Ungeduld setzt auch die anderen Institutionen unter Druck. So hat sich Medwedew eine grundlegende Reform der Miliz auf seine Fahnen geschrieben. Hier rennt er offene Türen ein: Kaum ein Typus ist in Russland verhasster als der kriminelle Milizionär. Derzeit werden einzelne Bereiche dieses Systems organisatorisch und personell neu geregelt, und bis Ende des Jahres soll ein Milizgesetz als Abschluss der Reform durch die Instanzen gebracht werden.
Nun ist allerdings die Miliz ein wichtiger Teil des Gesamtsystems der Silowiki, und ihre Reform könnte der Startschuss zu weiteren Reformen innerhalb des Systems sein. Das betrachten die Silowiki mit Argwohn. Sie versuchen derzeit, ihre Positionen abzusichern, und verfügen dafür auch über eine mächtige Lobby. Ausdruck dieser Bemühungen ist ein soeben erlassenes Gesetz zur Ausweitung der Funktionen des Geheimdiensts FSB. Und der Bericht Putins vor der Presse über ein Bankett, das er für die aus den USA eingetauschten russischen Spione als Ausdruck seiner Anerkennung veranstaltete, gab der Welt zwei wichtige Signale. Erstens: Die Spionagefälle werden von Obama und Medwedew übereinstimmend als unbedeutendes, eher kurioses Relikt des Kalten Krieges abgetan. Zweitens: Medwedews „Neustart“ mit Amerika bringt keine Rückstufung der Silowiki mit sich.
Die bereits unter Putin eingeleitete Militärreform hat Medwedew ebenso vorangetrieben wie eine grundlegende Neuordnung des Gefängnis- und Lagersystems – ein juristisch-moralischer Schandfleck der Nation, dessen Wurzeln im Stalinschen Gulag liegen. In Russland werden zurzeit 846 000 Häftlinge unter menschenunwürdigen Umständen eingesperrt. Wieder war es ein öffentlicher Skandal, der Medwedew zum persönlichen Eingreifen veranlasste: Dem Justitiar einer Firma wurde im Gefängnis medizinische Hilfe versagt, um ein diese Firma belastendes Geständnis zu erzwingen – er starb. In Reaktion auf zahlreiche Aufrufe, darunter von der Juristenvereinigung, deren Vorsitzender Medwedew selbst ist, entließ der Präsident die Verantwortlichen und veranlasste eine systematische Überprüfung des Gefängnissystems im ganzen Lande.
Der Bericht der Generalstaatsanwaltschaft wurde Ende Juli dieses Jahres vorgestellt – mit dem vernichtenden Ergebnis, dass der Strafvollzug ein rechtloser Bereich des russischen Staates sei. Medwedew hat reagiert und eine Reihe von personellen und juristischen Maßnahmen in die Wege geleitet. Damit bricht er – ohne große ideologische Diskussion über das Erbe Stalins zu führen – radikal mit der unseligen Tradition des Gulags und integriert einen Sektor wieder in die Gesellschaft, über den bislang der Mantel des Schweigens gebreitet wurde.
Im Zusammenhang mit diesen Reformen steht auch Medwedews Bemühen, dem Unternehmertum als tragender Kraft bei der Modernisierung Russlands wieder größere Freiräume zu verschaffen. Der Präsident brachte eine Gesetzesinitiative in die Duma ein, wonach Unternehmer bei Wirtschaftsstrafverfahren nicht in Untersuchungshaft zu nehmen sind, und sorgte gegen alle Widerstände dafür, dass dieses Gesetz auch angewandt wurde. Das könnte dazu führen, dass auch der nunmehr in einem zweiten Verfahren angeklagte Michail Chodorkowski aus der U-Haft entlassen wird – und es wäre die Durchsetzung eines neuen Kurses gegenüber Putin, für den die Inhaftierung Chodorkowskis ein Unterpfand seiner Macht ist.
Freiheit gegen Wurst
Der entscheidende Reformbereich in Russland ist die Wirtschaft. Die Perestroika galt bei vielen als attraktiv, da sie neben Demokratie und Marktwirtschaft auch persönlichen Wohlstand versprach. Der Quasi-Staatsbankrott vom August 1998, der das Ende der Perestroika und von Boris Jelzin einleitete, bedeutete für alle Russen einen gewaltigen Schock – jeder fürchtete eine neue Wirtschaftskrise. Es war Putins Leistung, über zwei Amtszeiten hinweg Wirtschaft und Staat zu stabilisieren und das Volkseinkommen zu steigern – begünstigt durch den in diesem Zeitraum ständig steigenden Ölpreis. Seine fortwährend autokratischer werdende Politik wurde von den Oligarchen respektiert und von der Bevölkerung nach der Devise „Freiheit gegen Wurst“ in Kauf genommen.
Im August 2008, als der Großmachtstatus durch den militärischen Sieg im Georgien-Konflikt, durch den rasant nach oben kletternden Ölpreis und Gazproms Aufstieg an die Spitze der Weltkonzerne gesichert schien, fügte die Finanzkrise zusammen mit dem abstürzenden Ölpreis Russlands Wirtschaft weit stärkeren Schaden zu, als es in den meisten anderen Ländern der Fall war. Dieser neue Schock zeigte, wie brüchig die neue staatliche Stabilität ist. Seitdem ist das Vertrauen der Bevölkerung in das System erschüttert, und der Mehrheit der Russen ist klar: So wie bisher geht es nicht weiter. Medwedew ersetzte konsequenterweise seinen Programmslogan „Peremeny“ (Änderungen) durch „Modernisazia“ (Modernisierung): Das Putinsche System ist im wahrsten Sinne des Wortes „von gestern“, und zu seiner Anpassung an die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr nur einzelne Änderungen vonnöten, sondern Reformen, die alle Bereiche von Staat und Wirtschaft umfassen.
Während der für die Durchführung der Wirtschaftspolitik – und damit ab August 2008 vornehmlich für die Notstandsmaßnahmen zur Rettung der kollabierenden Ökonomie – zuständige Ministerpräsident Putin sich mit dem Tagesgeschäft befassen musste, entwarf Präsident Medwedew die strategischen Ziele für ein neues Russland. Dass es dabei nicht zum frontalen Konflikt, sondern nur zu Reibungsverlusten kam, zeigt erneut, wie falsch die Annahme ist, dass Putin und Medwedew Exponenten zweier entgegengesetzter Lager seien, von denen sich eines notwendigerweise durchsetzen müsse. Russland-Kenner gehen vielmehr davon aus, dass es verschiedene, teilweise überlappende Machtgruppierungen gibt, deren Einflussbereiche in fließender Konkurrenz zueinander stehen und deren Gleichgewicht von Präsident und Ministerpräsident austariert wird.
Medwedew hat seine „Modernisazia“ in zahlreichen Reden und Publikationen präzisiert und propagiert. Schon vor seiner Wahl zum Präsidenten hatte er im März 2008 das „Institut für Moderne Entwicklung“ INSOR als seinen Braintrust geschaffen. Die Mitarbeiter des Instituts vertreten in ihren Veröffentlichungen und Vorträgen Positionen, die stark von denen Putins abweichen. Auf diese Weise wird den unter Putin in den Hintergrund getretenen Wissenschaftlern und Intellektuellen eine Rolle als Multiplikatoren zugewiesen, die auf die Mobilisierung breiter Schichten zielt. Neue Beiräte wie die „Kommission für Modernisierung und technologische Entwicklung“ oder der „Beirat des Präsidenten zum Kampf gegen die Korruption“ schaffen eine weitere Kommunikationsebene zwischen Regierung und Öffentlichkeit.
Motor der Umgestaltung Russlands soll die „Innovationsstadt Skolkowo“ bei Moskau werden, die einen exterritorialen Charakter erhält, sodass ihr die Mängel des derzeitigen Russlands erspart bleiben. Die Vorbilder finden sich im Ausland, insbesondere das Silicon Valley und das Massachusetts Institute of Technology. Seine Staatsvisite in den USA im vergangenen Juni nutzte Medwedew zum Besuch dieser Innovationszentren und betrieb dabei gleich die Einwerbung von Fachkräften, Know-how und Kapital für die „Modernisazia“ Russlands.
Dass der Präsident bei der gesellschaftlich-politischen Neugestaltung Russlands auf ausländische Expertise setzt, steht in merklichem Kontrast zum System Putin, bei dem es vornehmlich darum ging, das Politikmonopol der russischen Machteliten zu sichern. Explizit verkündete Medwedew diese Neuorientierung in einer Ansprache vor dem Auslandscorps des russischen Außenministeriums im Juli 2010, als er die Kooperation mit den „modernsten Ländern der Welt“, also insbesondere mit dem Westen, propagierte. An anderer Stelle sprach Medwedew davon, Russland müsse der Welt ein lächelndes Gesicht zeigen; ein deutlicher Gegensatz zu den Drohgebärden Putins.
Natürlich, bei all diesen schönen Worten ist Skepsis hinsichtlich ihrer Umsetzung angebracht. Schon jetzt aber kann man erkennen, dass das erstarrte Machtgefüge der Putin-Ära überall „von unten“ aufbricht. Wenn es gelingt, die dabei entstehende Dynamik mit den strategischen Zielen Medwedews zu einer nachhaltigen Modernisierung zu verbinden, würde das den Aufbruch hin zu einem neuen Russland bedeuten. Sollte der Westen einen solchen Aufbruch nicht auch als eigene Chance betrachten?
Dr. AXEL LEBAHN ist selbständiger Russland-Berater.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 60 - 65