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05. Febr. 2016

Symbolische Sicherheitspolitik

Deutschland leidet noch immer an seinen Strukturproblemen

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor zwei Jahren haben führende Politiker von einer neuen deutschen Verantwortung gesprochen. Doch hat sich seither etwas getan? Nein! Trotz der Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan verharrt die Politik vornehmlich im Symbolischen und scheut militärische Risiken. Fünf Wegweiser für eine realistischere Sicherheitspolitik.

Manche wollen es noch nicht wahrhaben, aber die „Post-Cold War“-Ära ist vorbei. Im historischen Rückblick wird sich das seit dem Ende des Kalten Krieges vergangene Vierteljahrhundert als eine „Zwischenzeit“ darstellen, die von einem fast schon naiven Optimismus geprägt war – einem Optimismus, der die westlichen Gesellschaften an eine immer stärker integrierte Europäische Union und ein westlich orientiertes, demokratisches Russland ebenso glauben ließ wie an den Erfolg des Arabischen Frühlings und an den Triumph der wirtschaftlichen Interdependenz in Asien über alte geopolitische Rivalitäten.

Inzwischen droht der europäische Integrationsprozess an einer neuen Renationali­sierungswelle zu scheitern. Russland führt einen kaum verdeckten Krieg gegen die Ukraine und zelebriert seine nukleare Stärke. Im Nahen Osten lösen sich die staatlichen Grenzen auf und es kämpft dort eine Terrorarmee, die ihre Jünger über brutale Internetvideos rekrutiert. Die Gefahr eines offenen Konflikts zwischen einem selbstbewusst auftretenden China und seinen Nachbarn bleibt unvermindert hoch. Und Barack Obama, auf den sich einst so viele Erwartungen gerichtet hatten, wird von einigen, die ihm einst den Friedensnobelpreis verliehen, inzwischen aufgefordert, den Preis zurückzugeben.

So überraschend – und enttäuschend – diese Entwicklung auch erscheinen mag, so war sie doch vorhersehbar. Denn das, was sich auf den ersten Blick als eine Militari­sierung der internationalen Politik darstellt, ist in Wirklichkeit nur das Ergebnis west­licher Selbsttäuschung. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat man sich im Westen an politischen Glaubenssätzen orientiert, die für den Rest der Welt weitgehend ohne Belang geblieben sind. Die Überzeugung, ein konzilianter auftretendes Amerika könne die Führung beim globalen Ausstieg aus der nuklearen Abschreckung über­nehmen, war eine rein westliche. Gleiches galt für die Auffassung, militärische Macht habe in einer interdependenten Welt kaum noch Bedeutung. Und auch wenn die unbefriedigenden Ergebnisse westlicher Militärinterventionen – vom Irak bis Afghanistan und Libyen – deutlich gezeigt haben, dass militärische Macht in der Tat ihre Grenzen hat, so sind diese Erfahrungen nur im Westen, zumal in Deutschland, zu der Aussage verkürzt worden, es gebe nun einmal keine „militärischen Lösungen“.

Vom Nutzen militärischer Macht

„Es gibt keine militärischen Lösungen.“ Ein Satz, der beruhigen soll, und der dennoch beunruhigt. Denn wer ihn zur Maxime seines Handelns macht, öffnet dem Gewalt­bereiten Tür und Tor. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als am Beispiel Russ­lands. Dessen Verhalten zeigt nicht nur, dass das westliche Konzept vom „Wandel durch Handel“ nicht greift; Moskau hat auch demonstriert, dass militärische Macht sehr wohl manche Probleme löst. Der Einsatz militärischer Gewalt durch Russland hat nicht nur der Westorientierung Georgiens und der Ukraine erst einmal einen Riegel vorgeschoben, er hat auch anderen Staaten in Russlands „Zone privilegierter Interessen“ (Dmitri Medwedew) verdeutlicht, welches Risiko sie bei dem Versuch eingehen, sich aus Moskaus Umklammerung zu lösen. In Syrien hat der Einsatz russischer Streitkräfte den Kreml als Verhandlungspartner des Westens wieder hoffähig ge­macht – und zugleich die USA düpiert. Und fühlen sich westliche Putin-Bewunderer ihrem obskuren Objekt der Begierde nicht auch gerade deshalb so eng verbunden, weil der Kreml-Chef militärische Macht ohne Skrupel einsetzt?

So weit, so schlecht. Doch die Zeiten ändern sich. Die Außenpolitik der USA wird sich unter einer neuen politischen Führung – gleichgültig, ob von Demokraten oder Republikanern gestellt – verändern. Die syrische Lektion, wonach ein von den USA hinterlassenes Machtvakuum im Nahen Osten von Russland oder gar vom Iran ausgefüllt wird, hat seinen Eindruck in Washington ebenso wenig verfehlt wie Chinas Bestrebungen, durch das Aufschütten künstlicher Inseln seine Gebietsansprüche zu erweitern. Hier wird das Überschreiten „roter Linien“ geprobt – und Amerika an seine weltpolitische Ordnungsrolle erinnert.

Inzwischen ist sogar in Europa ein Umdenken zu spüren. Es ist nicht nur die Bündnissolidarität angesichts der Ukraine-Krise, die einige Staaten Europas dazu bewogen hat, ihre Verteidigungshaushalte nach Jahren der Vernachlässigung wieder zu erhöhen. Es ist auch die Einsicht, dass eine prinzipiengeleitete westliche Ordnungspolitik nur dann eine Chance hat, wenn hinter ihr die Bereitschaft steht, notfalls auch Gewaltmittel einzusetzen. Nichts belegt dies deutlicher als die aktuelle Diskussion über den „Islamischen Staat“ und die Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten. Wenn selbst bislang eher zurückhaltende Kommentatoren inzwischen ein robusteres militärisches Eingreifen des Westens in diesen Konflikt fordern, zeigt sich, dass etwas in Bewegung geraten ist.

Deutsche Befindlichkeiten

Deutschland macht hier keine Ausnahme. Es unterstützt die Kurden im Nordirak mit Waffen und Ausbildern – ein Schritt, der noch vor wenigen Jahren eine politische Kontroverse ausgelöst hätte. Nach dem Terroranschlag in Paris schickte man Aufklärungstornados in den Nahen Osten und ein Schiff ins Mittelmeer. Schon kurz nach Beginn der Ukraine-Krise hatte sich Berlin verpflichtet, durch die Bereitstellung von Kernelementen für die neue schnelle Eingreiftruppe der NATO eine wichtige Rolle beim Schutz der mittel- und osteuropäischen NATO-Verbündeten zu über­nehmen. Und Deutschland hat sich auch die Forderung der NATO nach einer zumindest perspekti­vischen Anhebung des Verteidigungshaushalts auf 2 Prozent des Bruttosozialprodukts zu eigen gemacht.

Man kann diese Entscheidungen als Ausdruck einer neuen deutschen Verantwortung sehen, die Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin vor zwei Jahren einträchtig auf der Münchner Sicherheitskonferenz artikulierten. Doch an den Strukturproblemen der deutschen Sicherheitspolitik hat sich bislang nichts geändert. Im Gegenteil. Diese Entscheidungen zeigen geradezu exemplarisch die Grenzen dieser Politik. So ist die Beteiligung an der militärischen Koalition gegen den „Islamischen Staat“ so dosiert, dass keine Verwicklungen in Kampfhandlungen zu befürchten sind. Den Schutz der östlichen NATO-Verbündeten will man durch die rasche Zuführung von Verstärkungskräften bewerkstelligen, um so die Stationierung größerer NATO-Verbände in der Region – und damit weitere Irritationen im Ver­hältnis zu Russland – zu vermeiden. Und die Erhöhung des Verteidigungshaus­halts ist so gering, dass sein Anteil am Bruttosozialprodukt sogar noch weiter sinkt.

Für jede einzelne dieser Entscheidungen mag es gute Gründe geben. Zusammen ergibt sich jedoch das Bild einer Sicherheitspolitik, die trotz der Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan noch immer vornehmlich im Symbolischen zuhause ist und militärische Risiken scheut. Dafür gibt es politische wie militärische Gründe. So wird der Begriff der „Parlamentsarmee“ in der deutschen Debatte zwar regelmäßig mit dem Hinweis zurückgewiesen, der Bundestag habe sich bei militärischen Einsätzen noch nie einem Ansinnen der Regierung verweigert. Doch dieser scheinbar positive Befund unterschlägt, dass der Parlamentsvorbehalt schon viel früher eingreift: Die Regierung bringt nur solche Forderungen ein, bei denen sie sich der Zustimmung einer Mehrheit des Parlaments sicher sein kann. Entsprechend restriktiv fallen die militärischen Beiträge und ihre Mandatierung aus.

Zu diesen politischen Beschränkungen kommen militärische. Die Bundeswehr befindet sich nicht nur, so der Wehrbeauftragte, „seit 25 Jahren personell im freien Fall“, sie hat auch den Wandel zur Einsatzarmee ohne ausreichende finanzielle und materielle Grundlagen vollziehen müssen. Die eindrucksvolle Zahl deutscher Soldaten, die weltweit im Einsatz sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundeswehr nicht adäquat ausgerüstet ist. Die oft kolportierten Beispiele von technischen Mängeln bei militärischem Großgerät sind mehr als bloße Anekdoten. Sie sind das unvermeidliche Ergebnis einer wachsenden Investitionslücke, die die Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges vor sich herschiebt. Die deutsche Zurückhaltung bei militärisch anspruchsvollen Aufgaben hat deshalb nicht nur politische oder weltanschauliche Gründe: Auch das Risiko, eine Operation könnte an technischen Unzulänglichkeiten scheitern, wächst.

Eine realistische Sicherheitspolitik: Fünf Wegweiser

Diese politischen und militärischen Beschränkungen verstärken sich gegenseitig. Sie sind deshalb auch nicht kurzfristig veränderbar. Gleichwohl lassen sich einige Parameter definieren, an denen sich die deutsche Sicherheitspolitik am Ende der „Post-Cold War“-Ära orientieren sollte.

  1. Die militärische Zusammenarbeit mit den USA muss weiterhin an erster Stelle stehen, unabhängig davon, ob diese Kooperation im Rahmen der NATO oder – wie gegenwärtig im Nahen Osten – in Ad-hoc-Koalitionen erfolgt. In einem interna­tionalen Sicherheitsumfeld, in dem der russische Militarismus wieder aufkeimt, zahl­reiche Staaten im Nahen Osten und Nordafrika vor dem gewaltsamen Zerfall stehen und in Asien ein neuer Rüstungswettlauf begonnen hat, bleiben die USA die uner­setzliche Ordnungsmacht, die Europas Unterstützung verdient. Forderungen nach einer europäischen Armee sind dagegen politische Manöver ohne militärischen Wert. Das Mantra von der zu erwartenden Kostenersparnis durch die engere Ver­zahnung der Streitkräfte der europäischen Nationalstaaten ist längst zum Alibi für die Vermeidung von substanziellen Mittelerhöhungen geworden. Zur Überwindung der aktuellen Krise der euro­päischen Integration ist ein militärisches Einigungsprojekt ohnehin denkbar ungeeignet.
  1. Auch eine neue amerikanische Führung wird von den Europäern mehr Lastenteilung verlangen. Europa wird deshalb auch ohne eine „Europa-Armee“ mehr Verantwortung für die Sicherheit des Kontinents und seiner Peripherie übernehmen müssen. Der erste Versuch, der Libyen-Einsatz 2011, misslang. Deutschland enthielt sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme. Damit lieferte Berlin den Beleg für die in Washington und anderswo gehegte Befürchtung, dass ein deutscher Ständiger Sitz in diesem Gremium kein Gestaltungs-, sondern ein Verhinderungssitz sein würde. Wer militärischen Operationen nur dann zustimmen kann, wenn zuvor ein alle Eventualitäten berücksichtigendes „Gesamt­konzept“ erstellt wurde, verlangt letztlich nach einer risikofreien Sicherheitspolitik, die eine militärische Lastenteilung unmöglich macht.
  1. Der deutsche Verteidigungshaushalt ist ein kritischer Indikator für die deutsche Bereitschaft zur transatlantischen wie innereuropäischen Lastenteilung. Nach über 20 Jahren der realen Absenkung dieses Etats hätte seine substanzielle Erhöhung eine politische Signalwirkung, die weit über seine unmittelbare militärische Bedeutung hinausginge. Die jüngste Absichtserklärung des Verteidigungs­mi­niste­riums, in den kommenden 15 Jahren zusätzliche 130 Milliarden Euro in die Aus­rüstung der Bundeswehr zu investieren, zeigt, dass man sich dieser Tatsache durch­aus bewusst ist. Der Verteidigungshaushalt wird nicht die 2 Prozent des Brutto­inlands­produkts erreichen, die man gemeinsam mit den anderen NATO-Verbünde­ten als Richtschnur beschlossen hat, doch ein stetiger Anstieg wäre militärisch wie politisch sinnvoll und auch wirtschaftlich vertretbar. Der Einwand, eine deutliche Er­höhung des Wehretats würde Deutschlands europäische Nachbarn ängstigen, ver­fängt nicht: Deren Sorge gilt nicht einem Deutschland, das sich zu sehr militärisch engagiert, sondern zu wenig.
     
  2. Die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland muss sich weitaus stärker an militärischen Realitäten orientieren. Dies ist nicht einfach, da sich die militärische Führung längst nicht mehr zu Wort meldet. Dennoch kann die deutsche „strategic community“ mehr leisten, als man ihr bisher abverlangt hat. Seriöse Russland-Exper­tise, auf die man in den vergangenen 20 Jahren offenbar verzichten zu können glaubte, ist wieder gefragt. Gleiches gilt für Fragen nuklearer Abschreckung und Nichtverbrei­tung. Auch die deutsche Islamforschung, die sich bei Terrorismus­fragen vornehm zurückhält, könnte wertvolle Beiträge zur Strategiedebatte liefern. Und das Verständ­nis von Amerika und seiner Außen- und Sicherheitspolitik sollte weiter reichen als bis zum NSA-Skandal und der Chlorhühnchen-Verschwörung.
     
  3. Deutschland muss sich endgültig von der Vorstellung lösen, es könne seiner sicherheitspolitischen Verantwortung in erster Linie durch eine Form des militärischen Engagements gerecht werden, das sich auf sekundäre Aufga­ben beschränkt. Der Reflex, sich selbst militärisch ins Spiel zu bringen, dann jedoch lediglich risikoarme Unterstützungsaufgaben – noch dazu mit hoffnungslos überalter­tem Gerät – übernehmen zu wollen, sendet das falsche Signal. Statt Solidarität und Entschlossenheit zu demonstrieren, setzt man sich dem Verdacht aus, seine militäri­schen Unzulänglichkeiten bewusst zu kultivieren, um nicht handeln zu müssen, oder – idealerweise – gar nicht erst zum Handeln aufgefordert zu werden.

„Wer … die kleinsten Schritte für die besten hält“, so Bundespräsident Gauck auf der Münchner Sicherheitstagung im Januar 2014, wenige Wochen vor der russischen Annexion der Krim, „wird … den Umwälzungen im strategischen Umfeld nicht gerecht werden können“. Heute, am Ende der „Post-Cold War“-Ära, erscheint diese Feststellung aktueller denn je.

Michael Rühle leitet das Referat für Energiesicherheit in der Abteilung für Neue Sicherheitsherausforderungen der NATO. Er gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.