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01. Jan. 2016

Abschreckung neu denken

Nukleare, konventionelle und zivile Komponenten müssen zusammenspielen

Für weite Teile der Bevölkerung ist Abschreckung ein Relikt des Kalten Krieges, das sie eher skeptisch sehen. In der NATO ist man sich bewusst, dass Sicherheit in der heutigen Welt nicht nur von militärischen Mitteln abhängt. Deshalb ist es an der Zeit, ein ­neues Verständnis von Abschreckung zu erarbeiten.

Abschreckung ist die kommende Debatte in der NATO. Russlands Aggressionen und allgemein die Rückkehr militärischer Mittel als Instrument internationaler Politik lassen dieses Konzept aus dem Kalten Krieg wieder attraktiv erscheinen. Zugleich ist fraglich, ob Abschreckung überhaupt in einer Welt funktionieren kann, in der Sicherheit von mehr als militärischen Mitteln abhängt.

Ein Rückblick auf das Konzept ist hilfreich, wenn es gelingt, das Spezifische des historischen Kontexts „Kalter Krieg“ (die vergleichsweise einfache Balance des nuklearen Schreckens zwischen NATO und UdSSR) von dem zu trennen, was generell Gültigkeit hat: die psychologisch-kognitive Dimension der Abschreckung. So kann es gelingen, ein modernes Verständnis zu entwickeln, bei dem im Mittelpunkt steht, den Anderen davon zu überzeugen, dass es erfolglos ist, die eigenen Interessen mit ­Gewaltmitteln durchzusetzen. Dafür müssen die Staaten die nukleare und konventionell-­militärische Dimen­sion von Abschreckung anpassen und zugleich eine zivile Komponente entwickeln.

Abschreckung ist eine militärische Strategie: Sie bezieht sich auf eine militärische Bedrohung und nutzt militärische Mittel. Gewalt wird angedroht und Verteidigungsbereitschaft demonstriert, um einen Gegner von einem Angriff abzuhalten. Neben der konventionellen Abschreckung sollen Nuklearwaffen als „absolute Waffe“ potenzielle Gegner davon abhalten, Konflikte militärisch auszutragen, da Nuklearkriege nicht zu gewinnen sind. Dies ist der Kern der Abschreckungskonzeption des Kalten Krieges: Das eigene Militärpotenzial soll den Gegner überzeugen, dass die Kosten eines Angriffs größer sind als sein Nutzen: Der Einsatz von Militär führt nicht zum gewünschten Ergebnis und lohnt sich deshalb nicht.
Abschreckung ist also eine Kriegsverhinderungsstrategie. Sie wirkt primär psychologisch: Abschreckung lässt dem Anderen die Möglichkeit der Wahl, zeigt aber die Gefahren auf, die mit einer bestimmten Entscheidung einhergehen können. Neben dem Ansatz, dem Gegner Erfolgsaussichten für ­seine Ziele zu verweigern (deterrence by denial) gibt es die Schule der „deterrence by punishment“, also die militärische Vergeltung im Falle eines Angriffs.

Rationalität und das gegenseitige Verständnis der Ziele und Absichten ist die Basis für erfolgreiche Abschreckung. Solange alle Parteien ein rationales Kosten-Nutzen-Kalkül verfolgen, können Abschreckungspotenziale Gegner von Übergriffen abhalten. Allerdings hat die Vergangenheit gezeigt, dass ein großes Potenzial an Fehl­interpretation existiert, insbesondere in Krisensituationen.

So können Abschreckungsaktivi­täten (z.B. die Beschaffung einer neuen Waffengeneration) als aggressive Geste verstanden werden (etwa als Invasionsvorbereitung) und eine Aggres­sion des Gegners erst provozieren (z.B. einen Präventivschlag). Das ist das klassische Sicherheitsdilemma, in dem paradoxerweise die Absicht aller Beteiligten, mehr Sicherheit herzustellen, für alle zu weniger Sicherheit führt, weil Handlungen vom jeweils Anderen als Gefahr betrachtet werden und neue Gegenschritte provozieren.

Dr. Claudia Major arbeitet in der ­Forschungsgruppe ­Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Dr. Christian Mölling ist Senior Resident ­Fellow beim German Marshall Fund in Berlin

Der japanische Angriff auf ­Pearl Harbour 1941 und der argentinische auf die Falkland-Inseln 1982 sind Beispiele gescheiterter Abschreckung. In beiden Fällen hat ein militärisch unterlegener Gegner einen stärkeren angegriffen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Abschreckung, innenpolitische Erwägungen, Fehl­einschätzungen. Im Fall der Falk­land-Inseln hatte die Abschreckung auch deshalb versagt, weil Großbritannien seine politische Rhetorik militärisch nicht unterlegt und damit eine Voraussetzung erfolg­reicher Abschreckung verloren hatte: Glaubwürdigkeit.

Angesichts einer russischen Politik, die militärische Mittel ins Zentrum ihrer Außenpolitik rückt, wird der Ruf nach Abschreckung wieder laut. Zwar hatte die NATO auf dem Gipfel 2014 eine tiefgreifende militärische Neuaufstellung beschlossen. Dies reicht aber vielen Alliierten vor allem in Mitteleuropa nicht aus.

Bedrohung durch zivile Mittel

Fragwürdig wird der neue Ruf nach Abschreckung jedoch durch die Beobachtung, dass das Beunruhigende an aktuellen Bedrohungen, ob Russland oder der Islamische Staat, die wachsende Bedeutung von zivilen Mitteln ist – wie Propaganda, Cyber-Aktivitäten oder wirtschaftlicher Druck. Sie erlauben, einen Konflikt auf nichtmilitärischen Feldern zu eskalieren und unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt, auf die die NATO reagieren könnte. Bedrohungen gehen auch von nicht- oder pseudostaatlichen ­Akteuren aus, z.B. von terroristischen Gruppen wie dem IS.
Damit stellen die aktuellen Krisen die Bedeutung militärischer Gewalt einerseits infrage und unterstreichen sie paradoxerweise gleichzeitig. Die Ukraine-Krise und der IS sind Beispiele dafür, dass organisierte Gewalt in verschiedenen Formen und durch unterschiedliche Akteure ein Kernbestandteil des anhaltenden Wandels globaler und regionaler Ordnungen ist, die auch Europa betreffen. NATO-Staaten mögen zwar den Einsatz von Gewalt kritisch sehen – andere Akteure aber zwingen ihnen die Logik des Militärischen auf.

Die NATO-Staaten stehen vor der Frage, wie sie feindliche staatliche sowie nichtstaatliche Akteure davon abhalten können, Europa mit militärischen und nichtmilitärischen Mitteln zu destabilisieren. Es gilt, sowohl die territoriale Integrität als auch das Funktionieren der Gesellschaft in ihren sozialen, politischen und technischen Grundlagen zu schützen.

Militär allein reicht dafür nicht. Wenn das Ziel die Abwendung ungewollter Handlungen ist, dann ist jede Möglichkeit, die dazu beiträgt, eine mögliche Form der Abschreckung oder des Abbringens von Gewaltanwendung. Weil für bestimmte Aktivitäten die Androhung einer militärischen Vergeltung nicht glaubwürdig ist, muss das Konzept erweitert werden. Benötigt wird ein breiteres Rahmenwerk, das hilft, andere Abschreckungsoptionen zu identifizieren. Die Herausforderung ist dabei, einen Rückfall in alte Debatten zu ver­meiden und unvoreingenommen Stärken und Schwächen des Konzepts zu analysieren.

Folgende sechs Leitmotive sollten die neue Abschreckungsdebatte leiten: realistische Ziele setzen, Glaubwürdigkeit sichern, eine zivile Dimension entwickeln, die nukleare Dimension überdenken, Unterstützung durch die Bevölkerung sicherstellen sowie Abschreckung und Entspannung zusammen denken. Erstens: Die Reichweite des Konzepts muss verdeutlicht werden. Abschreckung ist kein Allheilmittel, sie funktioniert nur unter bestimmten Bedingungen, hat eine begrenzte Reichweite und hohe Fehlerquote. Der Beitrag, den Abschreckung leisten kann, muss im spezifischen Kontext analysiert werden: Ist das Konzept hilfreich oder doch nicht, weil es übermäßig eskaliert, keinen Schutzeffekt hat, aber Mittel bindet, die anderswo notwendig wären?

Militärische Abschreckung funktioniert dann, wenn kein Zweifel am eigenen Interesse für ein bestimmtes Ziel besteht und das Interesse größer zu sein scheint als das des Gegners. Abschreckung ist glaubhaft, wenn sie politisch und materiell unterlegt ist und alle Beteiligten glauben, dass Waffen auch tatsächlich eingesetzt werden.

Glaubwürdig sein

Mit den Entscheidungen des Gipfels in Wales 2014 legt die NATO den Fokus auf Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit statt auf dauerhafte Stationierung im Osten. Schutz bietet auch nukleare Abschreckung – aber nur, wenn Russland glaubt, dass die NATO tatsächlich Nuklearwaffen einsetzen würde. Eine nukleare Drohung ohne politische Flankierung und konventionelle Untermauerung wiederum würden weder NATO-Staaten noch Gegner als glaubwürdig empfinden. Wenn die NATO ihre Mitglieder schützen will, muss also das politische Bekenntnis überzeugend sein, militärisch unterlegt und die Entscheidungsfindung im Bündnis schnell und effizient.

Weil Sicherheit mehr ist als nur die territoriale Unversehrtheit, muss auch Abschreckung weitere Bereiche umfassen. NATO-Staaten sind nicht nur militärisch verwundbar, ­sondern auch im nichtmilitärischen Bereich, etwa wenn Gesellschaften von innen destabilisiert werden durch die Aufwiegelung von Minderheiten oder durch Angriffe auf die technischen Grundlagen, z.B. auf die Wasser- und Stromversorgung. Ein Angriff oder Eskalation kann dadurch abgeschreckt werden, dass die zivilen Strukturen westlicher Gesellschaften widerstandsfähiger werden, also belastbarer gegen die Ver­suche, ihre Verwundbarkeiten auszunutzen, und im Falle eines Angriffs sich rasch wieder erholen. Schutzmaßnahmen müssen umgesetzt werden, bevor es zu Angriffen kommt. Damit wird Risikovorsorge zu einer zen­trale Aufgabe – allerdings viel mehr des jeweiligen Staates und der EU als der NATO.

Die nukleare Dimension der Abschreckung ist wegen der potenziellen Folgen zu Recht hoch umstritten und sensibel. Angesichts der russischen nuklearen Drohgebärden sollten die NATO-Staaten das bereits begonnene Nachdenken über die eigene Nuklearstrategie fortsetzen. Die Frage ist nicht nur, wann und wie die NATO handelt, sondern auch, wann Russland aus seiner Sicht die Schwelle zum nuklearen Handeln als erreicht ansieht – und wie die NATO dann reagiert.

Gleichzeitig besteht das ­Risiko eines nuklearen Wettrüstens mit Russland, das solche Überlegungen fehlinterpretieren könnte. Auch angesichts der Rüstungsdynamik in Asien sind die Folgen von NATO-Entscheidungen abzuwägen. Die Signalwirkung einer neuen NATO-Nuklearstrategie könnte sein, dass es sich wieder lohnt, ein Nukleararsenal zu besitzen. Die Proliferation könnte steigen und so insgesamt die Sicherheit der NATO reduzieren – auch das muss gegen den Sicherheitsgewinn abgewogen werden. Zugleich könnten andere Rationalitäten als die vertrauten aus dem Ost-West-Konflikt zum Tragen kommen. Das Gleichgewicht ist nicht mehr bilateral, sondern vielschichtiger, fragiler und schwerer zu berechnen.

Für Deutschland, das traditionell den Fokus auf Abrüstung und Nichtverbreitung legt, ist diese Debatte besonders schwierig. Es gilt dennoch zu überlegen, inwieweit die nuklearen Elemente in der Kommunikation – einem wichtigen Bestandteil von Abschreckung – wieder sichtbarer werden, aber auch, welchen Platz sie im Verteidigungsplanungsprozess und in Übungen und Training haben sollten.

Das Konzept der Abschreckung wirkt wie ein Dinosaurier aus dem Kalten Krieg. Weite Teile der Bevölkerung sehen es skeptisch. Die Regierung kann zwar Rüstungsvorhaben beschließen, weil sie diese als notwendig zur glaubwürdigen Abschreckung erachtet. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerung solche Vorhaben auch als Beitrag zur eigenen Sicherheit ansieht; sie kann sie auch als gefährliche Eskalation ablehnen. Damit kann für die Regierung eine schwierige Abwägung anstehen zwischen militärisch notwendigen und politisch zumutbaren Entscheidungen. Zugespitzt bleibt die Wahl, aufgrund der Bedrohung oder der öffentlichen Akzeptanz zu entscheiden.

Gleichzeitig zeigt die Erfahrung, dass sicherheitspolitische Debatten, wie die um deutsche Verantwortung seit der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, die öffentliche Akzeptanz verändern können. Wichtig ist zu verdeutlichen, dass Abschreckung kein rein militärisches Konzept mehr ist. Die semantische Dimension spielt auch eine Rolle: Abschreckung ist militärisch konnotiert, steht für konfrontative Debatten aus dem Kalten Krieg und „alte“ Sicherheitspolitik. Hilfreich wären neue Begriffe wie „Entmutigung“ oder „abhalten“.

Sicherheit bleibt die Summe von Verteidigung und Entspannung. Daher reicht es nicht, die Verwundbarkeiten der NATO-Staaten abzubauen und Angriffe abzuschrecken. Ausgehend von einer Basis militärischer Stärke bedarf es ebenso ständiger Dialogangebote, die zur Deeskalation beitragen und einen Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung eröffnen. In diese Logik ordnen sich deutsche Vorschläge ein: die Initia­tive von 2014, einen Krisenreaktionsmechanismus in der NATO für militärische Kontakte mit Russland aufzubauen oder die Unterstützung für ein Abkommen zwischen Russland und der NATO für Verhaltens­regeln für die Sicherheit von Begegnungen im Luftraum und zur See. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung bilden keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Ergänzung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 110-114

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