Strategischer Partner Türkei
Ankara ist wichtig für die Stabilisierung des Nahen Osten und für Energiesicherheit
Der gegenwärtig geführten Diskussion über einen EU-Beitritt der Türkei fehlt die geostrategische Dimension. Die USA und die EU haben ein gemeinsames Interesse an einer demokratischen Türkei als Partner bei der Stabilisierung des Nahen Ostens, der Sicherung ihrer Energiezufuhr sowie dem Dialog mit dem Islam.
Seit dem Ende des Kalten Krieges sind über die Rolle der Türkei gravierende Meinungsverschiedenheiten ausgebrochen, sowohl zwischen den USA und Europa als auch innerhalb der EU. Die Türkei ist ihrerseits dabei, ihre internationale Rolle zu überprüfen und umzudefinieren, mit weitgehenden Folgen für ihre Beziehungen zu den USA und Europa.
Während des Ost-West-Konflikts spielte die Türkei in der NATO eine zentrale Rolle. Als einziges Mitglied der Allianz, das sowohl an die Sowjetunion grenzte als auch über eine große konventionelle Streitmacht verfügte, band die Türkei 24 sowjetische Divisionen und leistete damit einen entscheidenden Beitrag zum „Containment“ der Sowjetunion im strategisch wichtigen und ölreichen Nahen Osten. Im türkischen Incirlik befand sich der wichtigste US-Luftwaffenstützpunkt in der Region. Von türkischem Territorium aus konnten die USA russische Weltraumaktivitäten beobachten und die Einhaltung von Abrüstungsabkommen überprüfen. Die Folge waren enge Beziehungen zwischen den USA und der Türkei, vor allem auf militärischem Gebiet. Die USA waren nicht nur der wichtigste Waffenlieferant der Türkei, sie sorgten auch für militärische Ausbildung. Andere NATO-Mitglieder, darunter Deutschland, unterhielten ebenfalls gute Kontakte zum türkischen Militär. Zwar herrschte ein gewisses Unbehagen angesichts der Menschenrechtssituation und des Zustands der Demokratie in der Türkei, zumal das Militär drei Mal gegen gewählte Regierungen putschte. Doch damit fanden sich die NATO-Länder ebenso ab wie mit der Situation in Portugal und in Griechenland während des Obristenregimes. Das Primat der Sicherheit überwog bei einem Alliierten von solch geostrategischer Bedeutung.
In dieser Zeit vertiefte sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa. Die türkische Wirtschaft modernisierte sich allmählich, Handelsbeziehungen wurden ausgeweitet und zahlreiche Türken emigrierten in die EWG, die damals einen riesigen Bedarf an Arbeitskräften hatte. Als die Türkei 1959, ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Römischen Verträge, die EWG-Mitgliedschaft beantragte, entschied die Kommission abschlägig. Stattdessen wurden Verhandlungen eingeleitet, die 1963 schließlich zu einem Assoziationsabkommen führten, das die Wirtschaftsbeziehungen regelte und eine künftige Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Washington begrüßte das Abkommen, da es die Politik der NATO, die Türkei fest im Westen zu verankern, nachhaltig ergänzte und damit, so die Hoffnung, der türkischen Demokratie helfen könnte, ihre Mängel zu überwinden.
Neue Gegner, neue Rolle
Auch nach Abklingen des Ost-West-Konflikts blieb die Türkei von strategischer Bedeutung für den Westen, jedoch wandelte sich ihre Rolle. Das wurde erstmals während des Golf-Kriegs von 1991 offenbar, als eine von den USA angeführte und mit einem UN-Mandat ausgestattete Koalition Kuwait von irakischer Okkupation befreite. Der Stützpunkt in Incirlik erwies sich als unverzichtbare Plattform für Luftoperationen. Die NATO bekräftigte ihre Verpflichtung, die Türkei gegen potenzielle irakische Angriffe zu verteidigen und stellte militärische Einheiten – darunter deutsche – in der Türkei auf. Darüber hinaus wurden humanitäre Einsätze im Nordirak von türkischem Territorium aus durchgeführt. Die Türkei bewies damit ihren strategischen Wert für Operationen in dieser instabilen Region, auch nach dem Krieg, als die amerikanische und die britische Luftwaffe von dort aus die Flugverbotszone im Irak sicherten.
Mit den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen unabhängigen Staaten im Kaukasus und in Zentralasien teilt die Türkei Sprache und kulturelle Gemeinsamkeiten. Und so betrachtete man in Ankara diese Staaten von Anfang an als seine Einflusszone und bemühte sich um gute Beziehungen zu ihnen. Doch die türkischen Bemühungen auf eine gewichtige Rolle trafen auf Widerstände und zeitigten nur begrenzten Erfolg. Immerhin: Die Konflikte in der Region, vor allem der Streit um Berg-Karabach, sowie das russische Streben nach Einfluss und die Bedeutung der Region als Produzent und Transitkorridor von Öl und Gas machten die Türkei zu einem entscheidenden geostrategischen Partner des Westens.
In den neunziger Jahren vertieften sich die Beziehungen der Türkei zur EU auf zwei weiteren Ebenen. Die erste war die Sicherheitsdimension. Als die EWG in den siebziger und achtziger Jahren neue Länder aufnahm, mutete die erweiterte EWG in ihrer Mitgliedschaft de facto zunehmend wie der europäische Teil der NATO an. Dazu trug auch die Genscher-Colombo-Initiative bei, die den Aufgaben der EWG eine Sicherheitsdimension hinzufügte. Zeitgleich mit dem Ende des Kalten Krieges und inmitten tiefgreifender Veränderungen der Weltsicherheitsordnung erarbeitete die EWG 1990/91 den Vertrag von Maastricht. In diesem neuen Vertrag definierte die EG – jetzt die EU – zum ersten Mal eine gemeinsame Sicherheitspolitik, die angelegt war, später in eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu münden. Auch die NATO definierte ihre Rolle neu, in einer neuen Strategie, die ausdrücklich die Bedeutung eines „europäischen Pfeilers“ für die Sicherheit des Westens betonte. Diese Entwicklungen warfen für die Türkei erhebliche Dilemmata auf. Als die neue EU begann, Sicherheitsfunktionen auf dem Balkan zu übernehmen und im Nahen Osten und Zentralasien anzuvisieren, nutzte die Türkei alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel als NATO-Mitglied, um ihre eigene Rolle in Sicherheitsfragen, speziell in diesen Regionen, zu festigen.
Es bedurfte jahrelanger Verhandlungen, um verbindliche Absprachen zu entwickeln, wie sich NATO und EU im Falle von Krisen zueinander verhalten sollten und wie die NATO europäische Militäraktionen unterstützen könnte. Hier standen sich ein zögerliches Amerika, unterstützt von Großbritannien und anderen Verbündeten, sowie eine Gruppe von EU-Mitgliedern, angeführt von Frankreich, gegenüber. Das so genannte Berlin-Plus-Abkommen von 1996 schrieb die Absprachen fest. In diesen und späteren Verhandlungen über die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen EU und NATO stellte die Türkei die Geduld selbst ihrer engsten Freunde, wie den USA und Deutschland, auf eine harte Probe, indem sie versuchte, sich mittels ihrer NATO-Mitgliedschaft einen Einfluss auf die EU-Sicherheitspolitik zu verschaffen, den sie als Nicht-EU-Mitglied sonst niemals hätte haben können. Zu guter Letzt wurde 2001 ein Kompromiss ausgehandelt, den die Türkei zähneknirschend akzeptierte.1
Die zweite Ebene der Interaktion zwischen der Türkei und der EU lag auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Angesichts der wachsenden Bedeutung der EU und des hohen Grades an wirtschaftlicher und sozialer Integration der Türkei mit der EU erneuerte Ankara 1987 den Antrag auf Mitgliedschaft. Nach langwieriger Beratschlagung wies die EU-Kommission den Antrag schließlich unter Hinweis auf die politische und wirtschaftliche Situation der Türkei sowie den Konflikt mit Griechenland über Zypern als verfrüht zurück. Dennoch erklärte Brüssel ein „fundamentales Interesse“ an politischer und wirtschaftlicher Modernisierung in der Türkei. Als weiterer Schritt zu einer Vertiefung der Beziehungen stimmten beide Seiten 1990 der Einrichtung einer Zollunion zu. In der Union begann eine Diskussion über die Vor- und Nachteile einer Türkei-Mitgliedschaft, wenn auch zunächst nur gedämpft und vorwiegend innerhalb der politischen und intellektuellen Eliten. Die innere Entwicklung der Türkei bezüglich Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft, die beim Kopenhagen-Gipfel 1993 als Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft festgelegt worden waren, wurde immer intensiver beobachtet. Die Türkei selbst trieb innenpolitische Reformen voran, um den Beitrittskriterien der EU zu genügen.
In den späten neunziger Jahren bekam die Debatte um den Türkei-Beitritt neuen Schwung. Es schien, als würden die ablehnenden Stimmen lauter, je näher die Türkei der Mitgliedschaft kam. Während dieser Zeit unterstützte Washington in öffentlichen Erklärungen und auf diplomatischem Wege beständig den Türkei-Beitritt. Als der Europäische Rat 1997 zwölf mittel- und osteuropäischen Ländern Mitgliedsverhandlungen anbot, aber die Türkei demonstrativ überging – von der konservative Stimmen in der EU, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl, zuvor behauptet hatten, sie passe nicht in das christliche Europa – verstärkten die USA den Druck auf die EU, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen zu führen.
Die Situation änderte sich erneut 1998/99. Im Gefolge der NATO-Intervention im Kosovo entschied die EU beim Gipfel in Köln 1999, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) bedeutend zu stärken, und beim Gipfel in Helsinki im selben Jahr definierte sie Leitlinien für die EU-Streitkräfte. Erneut erhielten die türkischen Bestrebungen, ein vollgültiger Teilhaber der europäischen Sicherheitspolitik zu werden, erheblichen Auftrieb. Ebenso wichtig war 1998 die Ablösung der CDU/CSU-Bundesregierung durch die Koalition von SPD und Grünen, denn dadurch änderte sich die deutsche Außenpolitik in einem wesentlichen Punkt: Nunmehr wurde eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eindeutig befürwortet. Dank einer französisch-deutschen Absprache in dieser Frage, die von Großbritannien unterstützt wurde, verlieh die EU der Türkei auf dem Helsinki-Gipfel von 1999 den Status eines Beitrittskandidaten und machte gleichzeitig Verhandlungen von weiteren Reformen abhängig. Es sollte bis 2005 dauern, bis die Verhandlungen schließlich eröffnet wurden und sich die USA und die EU in der Türkei-Frage einig waren.2
Nach dem 11. September
Doch vorerst ließen zunehmende Probleme zwischen der Türkei und den USA bzw. der Türkei und der EU diese Gemeinsamkeiten schrumpfen. Andere Entwicklungen, vor allem die Annäherung zwischen Russland und der Türkei, taten ihr Übriges.
Nach den Anschlägen vom 11. September beteiligte sich die Türkei nachhaltig an der einmütigen Demonstration der Solidarität mit den Vereinigten Staaten und entsandte später ein großes Truppenkontingent nach Afghanistan. Die türkischen Eliten verbanden damit auch die Hoffnung, dass die Terroranschläge zu einem größeren Verständnis für den türkischen Kampf gegen die PKK führen würden.
Doch die türkisch-amerikanische Harmonie hielt nicht lange vor. Zum Streitpunkt wurde vor allem der amerikanische Einmarsch im Irak. Aber schon davor wurde die amerikanische Rhetorik vom „weltweiten Kampf gegen den Terror“ in der Türkei als Kampfansage gegen die musli-mische Welt insgesamt aufgefasst. Als das türkische Parlament nach monatelangen Verhandlungen zwischen der amerikanischen und der türkischen Regierung am 1. März 2003 den Vereinigten Staaten die Genehmigung verweigerte, die Irak-Invasion von türkischem Territorium aus zu führen, fügte das den türkisch-amerikanischen Beziehungen dauerhaften Schaden zu. Für Washington, das eine Zustimmung unterstellt und deshalb die Verhandlungen nicht auf der höchsten Ebene geführt hatte, kam diese Entscheidung wie ein Schock. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld behauptete anschließend, dass der erzwungene Verzicht auf die nördliche Front die Entstehung des sunnitischen Aufstands begünstigt habe, denn dadurch konnten die irakischen Truppen nicht zerschlagen werden, die in den Untergrund gingen.3 Als der Krieg sich hinzog und Guantánamo und Abu Ghraib die ohnehin schon amerikakritische öffentliche Meinung in der Türkei noch weiter gegen die USA aufbrachten,4 entstand ein virulenter Antiamerikanismus.5
Der zweite Störfaktor in den türkisch-amerikanischen Beziehungen war das Kurdenproblem, das die türkischen Eliten, vor allem das Militär, traditionell als die größte Bedrohung des türkischen Staates neben dem islamischen Radikalismus empfinden. Trotz wiederholter Bekräftigungen seitens der USA, die territoriale Einheit des Irak beizubehalten, hielten türkische Entscheidungsträger die amerikanische Unterstützung einer kurdischen Teilautonomie im Nord-irak für die implizite Befürwortung eines separaten Kurdenstaats. Als die (von den USA abhängige) irakische Regierung die angebotenen türkischen Friedenstruppen im Nordirak nicht zuließ, US-Truppen ein Dutzend türkischer Elitesoldaten im Kurdengebiet festnahmen und die PKK von nordirakischen Stützpunkten aus Anschläge in der Türkei steuern konnte, fühlten sich die Türken in ihrem Verdacht bestätigt, die USA handelten gegen ihre Interessen.6
Es war immer eine tief verwurzelte Tradition türkischer Außenpolitik, einen unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak unter allen Umständen verhindern zu wollen. Dahinter stand die Befürchtung, ein solcher Staat würde den kurdischen Separatismus in der Türkei beflügeln und somit die territoriale Einheit der Türkei gefährden. Aus dem gleichen Grund bemühte sich die Türkei stets um ein Minimum an Zusammenarbeit mit dem Iran und Syrien (mit ihren bedeutenden kurdischen Minderheiten) und unterschied sich auch dadurch von der amerikanischen Politik. Im Sommer 2006 kam es zu einer Krise zwischen Ankara und Washington, als die türkische Regierung im Anschluss an PKK-Operationen von irakischem Territorium, die zu türkischen Verlusten geführt hatten, offen mit Gegenmaßnahmen drohte und Vorbereitungen für eine militärische Invasion im Nordirak traf. Die USA sahen sich genötigt, umgehend ihre Politik gegenüber der PKK im Irak zu ändern, um den türkischen Forderungen entgegenzukommen und eine Invasion zu verhindern, die katastrophale Folgen gehabt hätte.7
Albtraum Intervention
Für die Türken ist es ein Albtraum, dass das Chaos im Irak und die Entstehung eines Kurdenstaats eine türkische Intervention im Nordirak erzwingen könnte. Dies brächte enorme Kosten mit sich: Abgesehen von den Verlusten in einem blutigen Krieg und den destabilisierenden Folgen für die gesamte Region verlöre die Türkei dadurch jede Chance auf eine EU-Mitgliedschaft und würde sich international isolieren. Andererseits beschwichtigen Experten, „dass ein stabiler Kurdenstaat sich in die regionale Ordnung durchaus einfügen und sogar ein strategischer Vorteil für die Türkei werden könnte.“8
Obwohl zwischen den türkischen Eliten und den Europäern und Amerikanern darüber Einmütigkeit besteht, dass sich die muslimischen Länder in Richtung säkularer Demokratie entwickeln sollten, sehen es viele Türken ungern, wenn die Bush-Regierung die Türkei als ein „Modell“ für die Demokratieverbreitung im Nahen Osten hinstellt. Die türkische politische Klasse richtet die Entwicklung der eigenen Demokratie eher am europäischen Modell aus und zieht den sanfteren europäischen Ansatz der Demokratieförderung dem neokonservativen Konzept der Aufzwingung, notfalls „mit Feuer und Schwert“, eindeutig vor. Diese Sichtweise hat zur negativen Beurteilung der US-Außenpolitik im Nahen Osten beigetragen. Nach einer BBC-Umfrage von 2005 lehnen 82 Prozent aller Türken die amerikanische Politik in der Region ab.
Die Ereignisse des 11. September hatten widersprüchliche Auswirkungen auf die Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft. Einerseits lieferte er jenen neue Argumente, die den EU-Beitritt für die beste Methode hielten, die Demokratie in einem islamischen Land zu stärken. Im Kampf gegen eine terroristische islamische Minderheit sei es lebenswichtig, eine stabile säkulare muslimische Demokratie im Boot zu haben. Andererseits nährte der Terror die Furcht derjenigen, die Muslime für eine potenzielle Gefahr halten und daher weitere Einwanderung und die Aufnahme eines muslimischen Landes ablehnen, das bis zur Mitte des Jahrhunderts der bevölkerungsreichste Mitgliedsstaat sein würde.
Bei den Referenden über einen europäischen Verfassungsentwurf in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 wurden diese Befürchtungen offen artikuliert und wurden durch die Debatte sogar bekräftigt. Verstärkt durch die Unruhen arabischstämmiger Jugendlicher in französischen Vorstädten und die Ermordung Theo van Goghs in den Niederlanden, spielten antitürkische Affekte und die Ablehnung zusätzlicher EU-Erweiterungen beim negativen Ausgang der Abstimmungen eine entscheidende Rolle. Seitdem bestätigen alle Umfragen, dass in den meisten EU-Ländern die Bevölkerungsmehrheit eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ablehnt.
Die Aussichten auf eine türkische Mitgliedschaft verschlechterten sich 2005, als in Berlin die rot-grüne durch die Große Koalition abgelöst wurde; hatte doch die CDU/CSU den Türkei-Beitritt immer abgelehnt und stattdessen eine „privilegierte Partnerschaft“ befürwortet. Da die Beitrittsverhandlungen sich allerdings länger hinziehen würden als die derzeitige Legislaturperiode, konnte die Koalition getrost weiteren Verhandlungen zustimmen und den Rest der Zukunft überlassen. -Überdies änderte Frankreich seine Verfassung, um die Regierung zu verpflichten, eine Volksabstimmung abzuhalten, wenn die türkische Mitgliedschaft ansteht. Österreich, das in dieser Frage eine ähnliche Linie wie die CDU/CSU verfolgt und dessen Bevölkerungsmehrheit einen Türkei-Beitrit ablehnt, verpflichtete sich ebenfalls zu einer Volksabstimmung.
Eine weitere Verschlechterung der Aussichten auf eine türkische Mitgliedschaft brachte die Aufnahme Zyperns in die Union. Die EU, hierbei nachhaltig von den USA unterstützt, war davon ausgegangen, dass der Mitgliedschaft Zyperns die Überwindung der Spaltung zwischen dem griechischen Süden und dem türkischen Norden vorausgehen würde. Dies sollte auf der Grundlage des auf Veranlassung von UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgearbeiteten Planes geschehen. Als der griechische Süden diesen auf Empfehlung der Regierung in Nikosia ablehnte – der Norden stimmte zu –, zog die EU daraus keine Konsequenzen für die Mitgliedschaft Zyperns, so dass dessen Regierung nunmehr nur durch den griechischen Teil der Insel repräsentiert wurde. Das stellte sich als Fehler heraus, denn Zypern nutzte nun seine Vetomacht als Vollmitglied, um mit aller Härte auf der Erfüllung seiner Forderungen als Vorbedingung für weitere Verhandlungen zu bestehen.
So kam es zum türkischen Junktim zwischen einer Aufhebung der Isolierung des türkischen Nordens und der Öffnung seiner Häfen für den Handel Zyperns. Dies wiederum veranlasste Kommission und Ministerrat, eine partielle Unterbrechung der Verhandlungen zu empfehlen. Die türkische Geste, im Vorfeld des Europäischen Rates vom 15. Dezember 2006 je einen See- und Flughafen für Zypern zu öffnen, entspannte zwar die Lage, aber alle Bemühungen, einen Kompromiss zu finden, scheiterten, so dass der Europäische Rat beschloss, Verhandlungen nur in acht von 35 Bereichen fortzuführen. Zwar kam es nicht zu einem Zeitultimatum, wie zuvor diskutiert, aber dennoch schwächte das Verhalten der EU die Zustimmung zum Beitritt innerhalb der Türkei und damit auch die Position der aktiven Befürworter in Politik und Wirtschaft.
Als wäre das alles nicht schon schwierig genug, könnte auch die bemerkenswerte Entwicklung der russisch-türkischen Beziehungen einen Einfluss auf die Position der Türkei gegenüber den USA und der EU haben. Nach Jahrzehnten der Gegnerschaft im Kalten Krieg haben sich die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara in den vergangenen Jahren in einem solchen Ausmaß verbessert, dass in der Region eine neue geostrategische Konstellation entsteht. Ausdruck dieser Konstellation sind zahlreiche Treffen zwischen Wladimir Putin und dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdogan sowie ein drastischer Anstieg türkischer Investitionen in Russland, eine Gaspipeline durchs Schwarze Meer und steigende Energieimporte aus Russland. Darüber hinaus unterstützen sich beide Länder gegenseitig im Kampf gegen tschetschenischen bzw. kurdischen Separatismus. Gemeinsame Positionen zu Abchasien, die gemeinsame Opposition gegen eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und gegen die US-Irak-Politik sind Elemente dieser für die USA „besorgniserregenden Wiederannäherung“.9
Infolgedessen ist die Türkei für die USA kein selbstverständlicher Alliierter mehr, weder beim Wettkampf um Energieressourcen in Zentralasien noch in der amerikanischen Russland- oder Nahost-Politik. Umgekehrt kann die türkische Modernisierungselite nicht mehr davon ausgehen, dass ihr Bestreben nach EU-Mitgliedschaft erfolgreich sein wird und die alte Beziehung zu den USA als Ausweichlösung im Falle eines Scheiterns zur Verfügung steht. Ungeachtet dieser Konstellation haben dennoch sowohl die USA als auch die EU ein gemeinsames Interesse an einer modernen, säkularen und demokratischen Türkei als strategisch wichtigem Partner des Westens – bei der Stabilisierung des Nahen Ostens, bei der Sicherung der Energiezufuhr aus Zentralasien und dem Nahen Osten sowie dem Aufbau einer konstruktiven Beziehung zum gemäßigten Islam. Diese Rolle kann die Türkei am besten als EU-Mitglied spielen.
Prof. Dr. Dr. h.c. KARL KAISER, geb. 1934, ist Visiting Professor am Weatherhead Center for International Affairs/John F. Kennedy School of Government, Harvard. Von 1973 bis 2003 war er Direktor des Forschungsinstituts der DGAP.
- 1Willem van Eekelen: From Words to Deeds: The Continuing Debate on European Security, Brüssel/Genf 2006, S. 61.
- 2Zur amerikanischen Position vgl. Morton I. Abromowitz u.a.: Turkey on the Threshold: Europe’s Decision and US Interests, Atlantic Council of the US, Washington, DC, 2004.
- 3Fiona Hill und Omar Taspinar: Turkey and Russia: Axis of the Excluded?, Survival, Frühjahr 2006, S. 83.
- 4In einer GMF-Umfrage im Jahr 2003 erwies sich die Türkei mit 28 Prozent als das am wenigsten amerikafreundliche Land (z.B. verzeichnete Frankreich 51 Prozent), German Marshall Fund of the US et al.: Transatlantic Trends: Key Findings 2003, Washington 2003.
- 5Philip Gordon und Omar Taspinar: Turkey on the Brink, The Washington Quarterly, Sommer 2006, S. 65.
- 6Siehe Banu Eligür: The Turkish-American Relationship since the 2003 Iraq War: A Troubled Partnership, Middle East Brief, Crown Center for Middle East Studies, Mai 2006; Joshua R. Itzkowitz Shifrinson: The Kurds and Regional Security: An Evaluation since the Iraq War, Middle East Brief, Dezember 2006
- 7Vgl. dazu die amerikanisch-türkische Erklärung vom 5.7.2005, www.state.gov/r/pa/prs/ps/2006/68574.htm
- 8Ian O. Lesser: Turkey and the United States: From Geopolitics to Concerted Strategies, Sakip Sabanci International Research Award Lectures, Brookings Institution 2006.
- 9Hill und Taspinar (Anm. 3), S. 88.
Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 100 - 107.