„Strategische Autonomie“
Phrase #8: Jörg Lau über amerikanisches Interesse an und Deutschlands Distanz zur "strategischen Autonomie"
Wo auch immer darum gerungen wird, wie ambitioniert und eigenständig die europäische Politik künftig sein soll, da taucht neuerdings diese Phrase auf – strategische Autonomie. Zugleich ist aber kein Begriff unter Außenpolitikern derart umstritten. Merkwürdig: Wer könnte gegen Selbstbestimmung sein, noch dazu, wenn sie mit strategischem Weitblick gepaart ist?
Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, erklärte im September, „strategische Autonomie Europas – das sind nicht nur Worte“. Es handele sich vielmehr um das „oberste Ziel unserer Generation“, um „unser neues gemeinsames Projekt für dieses Jahrhundert“. Michel hatte dabei vor allem die EU-Reaktion auf die Covid-Krise im Blick, außerdem den Green Deal und die Digital-Agenda.
Völlig andere Töne schlug wenige Wochen später die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an: „Illusionen einer strategischen Autonomie Europas müssen aufhören“, schrieb sie zwei Tage vor der US-Wahl in Politico.
Das richtete sich gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der seit Jahren von „europäischer Souveränität“ beziehungsweise „Autonomie“ spricht und damit (nicht nur, aber auch) auf die Fähigkeit Europas zur militärischen Selbstverteidigung zielt. Kramp-Karrenbauer goss einen Eimer kaltes Wasser auf diesen französischen Ehrgeiz: „Die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten.“
Selten haben europäische Spitzenpolitiker interessanter aneinander vorbeigeredet. Michel und Macron hatten Ambitionen formuliert, die weit über das Militärische hinausgehen. Ihnen geht es darum, in einem Zeitalter neuer Großmachtrivalität die Handlungsfähigkeit Europas in politischer, wirtschaftlicher, technologischer und rechtlicher Hinsicht aufrechtzuerhalten oder vielmehr: sie erst wieder zu gewinnen.
Annegret Kramp-Karrenbauer trat dagegen in der Manier einer Realistin auf, die solche Pläne als gefährliche Traumtänzerei entlarvt. Dass sie dabei dem französischen Präsidenten Positionen unterschiebt, die er so nicht vertritt („ohne die NATO“), ist nicht das einzig Bemerkenswerte. AKKs Kritik der „Illusionen“ ist eigentlich nicht an den Partner in der EU gerichtet. Sie ist eine Beschwichtigungsgeste an den anderen, unverzichtbaren Partner jenseits des Atlantiks. In der Logik der Ministerin besteht die wichtigste Aufgabe darin, die USA in Europa engagiert zu halten. Es gilt, glaubt sie, die neue Regierung von unserer Nützlichkeit zu überzeugen.
Ob aber die Distanzierung vom Begriff der „strategischen Autonomie“ Deutschland als attraktiven Partner erscheinen lässt? Berlin hat vier Jahre als Donald Trumps liebster punching ball hinter sich. Die Verteidigungsministerin fürchtet aber offenbar auch mit Blick auf die Biden-Regierung, die USA durch allzu große Ambitionen europäischer Selbständigkeit zu verärgern. Warum nur?
Umgekehrt gilt: Dass das amerikanische Interesse an Europa steigen wird, wenn Deutschland dem Begriff der Autonomie abschwört und dabei seinen wichtigsten Nachbarn auf dem Kontinent vor den Kopf stößt, ist eine riskante Wette.
Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT und Kolumnist der „80 Phrasen“.
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 15
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