Weltspiegel

18. Okt. 2023

Am Nullpunkt

Wie Russlands Angriff auf die Ukraine ist auch die Eskalation in Nahost Teil eines globalen geopolitischen Wandels, für den es noch keinen Begriff gibt. Was sich bereits konstatieren lässt, ist das westliche Scheitern in der Region.

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Bild: Präsident Joe Biden nach seiner Rede zur Eskalation in Nahost
Für die USA ist der Krieg ein Rückschlag, militärisch wie diplomatisch. Sie hatten viel daran gesetzt, sich aus Nahost zurückzuziehen – jetzt muss die Regierung unter Präsident Biden ihren Kurs komplett korrigieren.
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Man kann den 7. Oktober und seine Folgen nicht allein im Rahmen des Nahost-Konflikts begreifen. Das hundertjährige Ringen zwischen Israelis und Palästinensern um nationale Selbstbestimmung reicht nicht aus, um die derzeitige Eskalation zu verstehen. Schon die exzessive Gewalt und ihre obszöne Präsentation durch die Täter selbst verweisen darauf, dass hier nicht ein weiteres Gefecht in einem alten Kampf vorliegt. Die genozidale Grausamkeit, die an das Vorgehen der SS-Einsatzgruppen erinnert, hat eine politische, oder genauer gesagt: antipolitische Intention. Sie zielt auf die Grundlage jeder Politik, in der mit Gegnern und selbst Feinden Deals möglich sind.

Das weltweite Erschrecken über den barbarischen Angriff der Hamas rührt darum nicht allein aus der entfesselten Brutalität der Terroristen, sondern aus der Furcht vor einem größeren Krieg, der die gesamte Region erfassen könnte.

Bei Redaktionsschluss war offen, ob Diplomatie und Abschreckung verhindern können, dass sich eines der hartnäckigsten Nahost-Klischees bewahrheiten würde – die Ausweitung des Krieges zu einem „Flächenbrand“. Allerdings war eine Tatsache durch das Massaker der Hamas-Terroristen unabweisbar geworden: Die westliche Nahost-Politik liegt in Trümmern, und das gilt gleichermaßen für die USA, für die EU und für Deutschland.

Auch das israelische Konzept, die Palästinenser zu ignorieren und den Konflikt zu managen (durch Siedlungsbau, Abschreckung und Annäherung an die arabischen Nachbarn), hat sich als gefährliche Illusion erwiesen.


Radikale Regime im Aufwind

Dieser Krieg ist, wie auch Russlands Angriff auf die Ukraine, Teil eines globalen geopolitischen Wandels, für den es noch keinen treffenden Begriff gibt. Oft ist von einer „multipolaren Welt“ die Rede, in der es keine Blöcke mehr gebe, keine westliche Vorherrschaft und keinen amerikanischen „Weltpolizisten“. Viele Mächte sehen sich in dieser neuen Welt(un)ordnung ermutigt, ihre Interessen durchzusetzen, wie es früher nur die Großen konnten. Das ist nicht per se schlecht. Von der Multipolarität erhoffen sich viele Länder des sogenannten Globalen Südens eine gerechtere globale Machtverteilung.

Aber dieser Tage sieht man, dass in dieser Situation auch die Risikobereitschaft der radikalsten Akteure und ihrer Unterstützer steigt – überall auf der Welt. Russland verschiebt seit 2022 mit seinem Angriff auf die Ukraine die Grenzen des Denkbaren. Aserbaidschan wiederum hält aufgrund der Schwächung Russlands die Gelegenheit für günstig, den ehemals russischen Klienten Armenien zu bedrängen. China fühlt sich ermutigt, Taiwan mit immer aggressiveren Manövern in die Ecke zu treiben. Und auch das Regime der Islamischen Republik Iran – seit vielen Jahren Hauptsponsor der Hamas – sieht offenbar seine Chance gekommen.

Ob es eine konkrete Beteiligung des Iran an der Vorbereitung des Hamas-Terrors gab, ist laut US-Regierung noch unklar. Treffen hochrangiger iranischer Politiker und Militärs mit Hamas-Führern im Vorfeld sind allerdings verbürgt. Und das Regime demonstriert offen seine Freude über den Angriff. Am Palästina-Platz in Teheran wurde ein Feuerwerk gezündet, im Parlament erschollen Rufe, in denen Israel der Tod gewünscht wurde, und ein Berater des Revolutionsführers gratulierte zur „erfolgreichen Operation“. Der libanesische Experte Michael Young, ein Kenner der iranischen Außenpolitik, hält es für ausgeschlossen, dass die Hamas losgeschlagen hätte, ohne zuvor ein Ok ihrer iranischen Unterstützer eingeholt zu haben.

Was hat der Iran von diesem Krieg? Die genozidalen Absichten des Regimes gegenüber dem jüdischen Staat sind eben doch mehr als Folklore. So schwach hat Israel seit seiner Gründung nicht dagestanden. Im Süden des Libanon hat die Schiiten-Miliz Hisbollah Hunderttausende Raketen verbunkert, mit denen sie ganz Israel beschießen kann. Wird das israelische Militär bei einer Invasion des Gaza-Streifens mit hohen Verlusten gebunden, könnte der Iran eine zweite Front im Norden eröffnen. Die Gefahr für Israel ist existenziell.

Das ist der Sinn der Verlegung der US-Flugzeugträger Gerald R. Ford und Eisenhower ins östliche Mittelmeer, die Joe Biden unmittelbar nach dem Angriff anordnete. Die USA wollen die Hisbollah von einem Angriff abschrecken und drohen damit indirekt auch Teheran mit Vergeltung.

Selbst wenn den USA so die Eindämmung des Konflikts gelingen sollte, hätte der Iran viel erreicht. Teheran hat mit dem Angriff die palästinensische Sache für sich gekapert. Während die arabischen Regime sich mit dem Schicksal der Palästinenser abgefunden haben und sich mit Israel arrangieren, so die Botschaft, unterstütze der Iran die „Achse des Widerstands“.


Zaungäste in der eigenen Region

Über Krieg und Frieden in der arabischen Welt bestimmt Teheran durch seine Stellvertreter-Milizen in Gaza, im Libanon, im Jemen, in Syrien und im Irak. Die arabischen Staaten werden in der eigenen Region als ohnmächtige, gedemütigte Zaungäste vorgeführt – auch vor den Augen ihrer eigenen Bevölkerungen, die mit den Palästinensern sympathisieren.

Und schließlich torpediert dieser Krieg die neue amerikanische Nahost-Strategie, die zu den sogenannten Abraham-Abkommen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten geführt hat. 2020 hatten zuerst die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrein, später auch der Sudan und Marokko unter amerikanischer Vermittlung Friedens- und Wirtschaftsverträge mit Israel geschlossen.

Die Strategie – von Donald Trump begonnen und von Joe Biden weitergeführt – beruht auf drei Annahmen: Es ist unmöglich, eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und den Palästinensern zu verhandeln. Das Schlüsselproblem in der Region ist das iranische Machtstreben (inklusive Atomprogramm), nicht die Autonomie der Palästinenser. Die Palästinenserfrage wird sich infolge der Beilegung israelisch-arabischer Spannungen erledigen – nicht, wie bisher gedacht, in umgekehrter Folge.

Also nicht mehr: erst Zweistaatenlösung, dann Frieden; sondern: erst Frieden, dann (hoffentlich irgendwann) eine Zweistaatenlösung. Die Sabotage dieses Ansatzes ist zugleich im iranischen Interesse wie in dem der islamistischen Hamas.

Beide wollen kein israelisch-arabisches Bündnis; beide haben kein Interesse an einer Verbesserung der Lage der Palästinenser; beide wollen keine Zweistaatenlösung und auch keine Abmilderung der israelischen Besatzung. Ihre Lösung ist die Vernichtung des „zionistischen Gebildes“, dem sie das Existenzrecht absprechen und das sie darum konsequent nicht Israel nennen.

Aus dieser Logik erklärt sich das Interesse, ein zentrales außenpolitisches Projekt der Biden-Regierung zu verhindern: die Annäherung von Saudi-Arabien und Israel. Die Gespräche dazu waren weit gediehen. Der Krieg und die erwartbaren palästinensischen Opfer machen weitere saudisch-israelische Entspannung auf ­absehbare Zeit undenkbar.


Bidens Iran-Politik vor dem Nichts

Doch es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind. Der Haken an dieser Teheraner Errungenschaft: Sie bestätigt auf drastische Weise, dass die Einhegung des iranischen Regimes das dringendste Problem in der Region ist. Das gemeinsame Interesse könnte Israel und Saudi-Arabien eines Tages wieder zusammenführen – vorausgesetzt, das israelische Vorgehen in Gaza macht das nicht undenkbar.

Die Zweifel an der Urteilsfähigkeit der überrumpelten und bloßgestellten Netanjahu-Regierung wiegen schwer. Lässt sie sich verleiten, das eigene Versagen durch maximale Härte zu kompensieren, ohne Rücksicht auf Opfer in der palästinensischen Bevölkerung, käme das den Tehe­raner Herrschern sehr zupass.

Für die USA ist dieser Krieg ein Rückschlag, diplomatisch wie auch militärisch. Joe Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte kurz vor dem Angriff geäußert, der Nahe Osten sei so ruhig wie lange nicht mehr. Da könne er sich mehr dem Rivalen China widmen. In Peking wird man mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, dass daraus vorerst nichts wird.

Die amerikanische Politik hatte nach dem Scheitern im Irak, in Afghanistan, in Libyen und Syrien alles versucht, um sich so weit wie möglich vom Mittleren Osten freizumachen. Auch die Iran-Politik folgte diesem Ziel – die Region in einen Zustand zu versetzen, der künftige riskante Interventionen überflüssig machen würde.

Doch Jake Sullivan macht nun eine Erfahrung, die in dem berühmten Satz von Michael Corleone aus dem dritten Teil des „Paten“ zusammengefasst ist: „Just when I thought I was out, they pull me back in.“

Die Iran-Politik der Biden-Regierung steht vor dem Nichts, ebenso wie die ihr folgende deutsche Diplomatie. Vor vier Wochen erst hatte Außenminister Antony Blinken erwirkt, dass dem Iran sechs Milliarden Dollar überwiesen werden sollten, die wegen der Finanzsanktionen gegen das Regime auf eingefrorenen Konten in Südkorea lagerten. Diese Geste des guten Willens ermöglichte einen Austausch von jeweils fünf Gefangenen und sollte die Wiederaufnahme der Atomverhandlungen mit dem Iran erleichtern. Letzteres ist nun undenkbar geworden. Die Biden-Regierung hat die Freigabe der Gelder an den Iran nach den Hamas-Angriffen gestoppt. Sie muss fürchten, sich im beginnenden US-Wahlkampf vorhalten zu lassen, sie habe Appease­ment gegenüber einem ­Terrorregime betrieben.

Auch Annalena Baerbock und die deutsche Nahost-Diplomatie geraten in die Defensive. Man hatte sich trotz der brutalen Niederschlagung der Frauenproteste im Iran geweigert, die Revolutionsgarden als Terrororganisation zu listen. Baerbock argumentierte, dies sei rechtlich schwierig. Aber auch dahinter steckte das Kalkül der deutschen Diplomatie, irgendwann wieder in Verhandlungen über das Atomprogramm eintreten zu wollen – und darum Iran nicht zu brüskieren. Eine Hoffnung, die angesichts der jetzigen Lage ausgesprochen naiv wirkt.


Hehre Parolen und fehlender Ehrgeiz

Seit dem Angriff vom 7. Oktober steht auch die deutsche Nahost-Politik an einen Nullpunkt. Wobei dieser Satz voraussetzt, dass es eine solche Politik zuletzt überhaupt noch gegeben habe. Es fällt schwer, eine deutsche Nahost-Politik überhaupt zu identifizieren. In den vergangenen Jahren war da eher ein beziehungsloses Nebeneinander von hehren Parolen und ambitionsloser Mikropolitik.

Das Kanzlerinnenwort von Israels Sicherheit als „Teil der deutschen Staatsräson“ wurde oft zitiert, aber es blieb merkwürdig nebulös. Es gab regelmäßige Bekräftigungen, man halte an der Zweistaatenlösung als einzigem Weg fest, ebenso wiederkehrende Mahnungen gegen den fortgesetzten Siedlungsbau, manchmal gar flankiert von polemischen Ausfällen gegen ein vermeintliches „Regime der Apartheid“ im Westjordanland (Sigmar Gabriel).

In Wahrheit jedoch hatte die deutsche Politik die Lust am Nahost-Thema verloren. Jahr für Jahr wurde die palästinensische Bevölkerung zwar mit großen Beträgen unterstützt – über Entwicklungsprojekte, NGOs und UN-Hilfsorganisationen. Und mit Israel hielt man (seit 2008) sogar regelmäßige Regierungskonsultationen ab. Doch bei diesen Treffen ging es um Sachthemen wie Gleichstellung, Technologie- und Wirtschaftskooperation oder erneuerbare Energien.

Der politische Kern des Konflikts wurde ausgeblendet, wie auch die sich auf beiden Seiten verschärfende Realität: Die Autonomiebehörde war schwach, korrupt und ohne demokratische Legitimation. Die stärksten Kräfte unter den Palästinensern – die Hamas und andere radikale Gruppierungen wie der Palästinensische Islamische Dschihad – standen aggressiv gegen eine Zweistaatenlösung. Und auf der israelischen Seite arbeiteten nationalreligiöse Siedler (gedeckt und gefördert von Likud-Regierungen) ihrerseits daran, eine solche Lösung praktisch unmöglich zu machen.

Diese Tendenzen auf beiden Seiten verstärkten einander seit vielen Jahren, doch die deutsche Politik wiederholte stur die Formel, die einzig denkbare Lösung bestehe in zwei Staaten für zwei Völker.

Unausgesprochen verfolgte man in Wahrheit eine Status-quo-Politik: Durch beträchtliche humanitäre Hilfe und Entwicklungsprojekte versuchte man im Westjordanland und in Gaza die Lage so weit zu stabilisieren, dass die jeweils Herrschenden (Palästinensische Autonomiebehörde beziehungsweise Hamas) sich als verantwortliche Stakeholder verhalten würden. Es sollte ein Anreiz für die palästinensische Führung entstehen, sich durch Verbesserungen für die Bevölkerung zu profilieren statt durchs Festhalten an maximalistischen Ideen palästinensischer Souveränität.

Diese Politik ist im Westjordanland ebenso wie in Gaza gescheitert: Sie diskreditierte die Autonomiebehörde als Erfüllungsgehilfin der israelischen Besatzer, während die Hamas in Gaza sich in aller Ruhe auf den großen Schlag gegen Israel vorbereiten konnte und nur aus taktischen Gründen so tat, als kümmere sie sich ums Regieren. Nicht nur die deutsche, auch die israelische Regierung war der Illusion erlegen, dass man Hamas mit einer Kombination aus Hightech-Überwachung, Blockade, Strafaktionen und Anreizen (zuletzt mehr Arbeitsvisa für Israel) einhegen könnte.

Die ständigen Hassreden gegen Israel – und ihre Begründung in der Hamas-Charta, die Israels Auslöschung zum heiligen Ziel erklärt – tat man als Folklore ab, als radikales Markenzeichen im Wettstreit der palästinensischen Fraktionen. Eine fatale Fehleinschätzung, die sich mit Blick auf einen anderen Akteur wiederholte.


Enttäuschte Hoffnungen

Der Fokus der deutschen Diplomatie im Mittleren Osten verlagerte sich nach den Enthüllungen über den Fortschritt des iranischen Atomprogramms auf das Teheraner Regime, vor allem während der zweiten Amtsperiode von Barack Obama. Die Wahl des gemäßigten Präsidenten Rohani im Jahr 2013 schien Verhandlungsspielräume zu eröffnen. 2015 wurde das Atomabkommen (JCPOA) unterzeichnet, das dem Iran Sanktionserleichterungen im Gegenzug für eine zeitweilige Limitierung der Anreicherung und Inspektionen durch die IAEA bot.

Die destruktive regionale Außenpolitik des Iran, die globale Terrorunterstützung und die genozidale Rhetorik gegenüber Israel waren bei den Gesprächen ausgeklammert worden. Die Leitidee der Iran-Diplomatie war die Abtrennung des Atomprogramms von anderen Streitpunkten. Dahinter stand die Hoffnung, dass die Islamische Republik durch einen Mix aus Sanktionen und Anreizen bewegt werden könnte, allmählich seine Störer-Rolle aufzugeben und sich in die Region zu integrieren. Der Iran war aber keineswegs bereit, seinen Einfluss in Syrien, im Libanon, im Irak und im Jemen aufzugeben.

Im Gegenteil: In allen diesen Ländern verschärften die iranischen Stellvertreter im vergangenen Jahrzehnt ihre Aktivitäten: Vom Jemen aus feuerten Huthi-Milizen Drohnen auf saudische Ölanlagen; im Irak unterdrückten Teherans Milizen demokratische Proteste; in Syrien halfen Hisbollah-Einheiten und Revolutionsgardisten Baschar al-Assad bei der Niederschlagung der Opposition; und im Südlibanon stellte die Hisbollah eine Raketentruppe auf, die ganz Israel unter Feuer legen konnte.

Mehrfach zeigte das Regime seinen Charakter auch durch die extreme Brutalität gegen die einheimische Opposition. Aller Entspannungspolitik zum Trotz hat die Islamische Republik sich nach innen sukzessive verhärtet und ist nach außen immer aggressiver aufgetreten. Das iranische Regime entschied sich eigenständig gegen Öffnung und Annäherung. Der Atomdeal beruhte nicht auf dem Wunsch, ein konstruktiver Nachbar in Mittelost zu werden, sondern auf einem Mitnahmeeffekt: Man suchte Erleichterung bei den Sanktionen, ohne einen Politikwechsel ernsthaft zu erwägen. Teheran glaubt offenbar, seine Interessen innen und außen folgenlos mit aller Brutalität durchsetzen zu können. Zu dieser Lesart mag beigetragen haben, dass Barack Obama 2013 gegenüber dem Assad-Regime (einem Klienten Teherans) seine selbst gezogene rote Linie verwischte und Assads Giftgaseinsatz gegen die eigene Bevölkerung nicht bestrafte.

Man konnte in Teheran zu dem Schluss kommen, dass die USA weder die Lust noch die Entschiedenheit hatten, weiter in der Region als Ordnungsmacht zu agieren. Auch Donald Trumps Revision der Obama-Politik – durch Rückzug aus dem Atomabkommen und eine Politik des „maximalen Drucks“ ab 2018 – änderte das Kalkül nicht mehr. Teheran hatte bereits Partner in Russland und China gefunden, die es gegen westlichen Druck stützten.

Seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist Teheran aus der Klientenrolle herausgewachsen: Russland greift nun auf iranische Drohnen und Raketen zurück. China wiederum ist Irans wichtigster Ölabnehmer und hat durch zwei diplomatische Initiativen Teherans Paria-Position aufgelöst: Im März 2023 vermittelte Peking eine Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, und im Herbst wurde bekannt, dass der Iran dem chinesisch dominierten Bündnis BRICS+ beitreten wird.


Russland als Profiteur

Die Angriffe der Hamas auf Israel markieren einen Einschnitt für die deutsche und die ganze westliche Iran-Politik. Auch wenn sich nicht beweisen lassen sollte, was das Wall Street Journal aus Hamas- und Hisbollah-Kreisen erfahren haben will – dass es eine direkte Beteiligung iranischer Stellen an der Planung des Angriffs gab –, so steht doch außer Frage, dass die Terroristen ohne iranische Ausrüstung und Schulung nicht hätten handeln können. Eine Wiederbelebung des JCPOA ist undenkbar geworden.

Neben dem Iran ist Russland ein Profiteur dieses Krieges. Sollten die USA in den kommenden Monaten gefordert sein, den Verbündeten Israel noch stärker mit Waffen und Krediten zu unterstützen, würde die ohnehin brüchige Solidarität mit der Ukraine weiter unter Stress kommen. Jede Granate, jede Rakete, jedes Flugabwehrsystem lässt sich nur einmal abgeben.

Außerdem ließe sich eine Verstrickung der USA in die blutige Niederschlagung der Hamas-Herrschaft in weiten Teilen der Welt als Unterstützung einer ungerechten Ordnung des „Siedler-Kolonialismus“ darstellen. Unter diesem Begriff läuft seit Jahren schon eine erfolgreiche Delegitimierungskampagne gegen Israel.

Und die letzte Netanjahu-Regierung hat mit ihren rechtsextremistischen, national-religiösen Mitgliedern viel dazu getan, der Kritik Material zu liefern. Russland kann hoffen, dass Israels Verteidigungsschlag gegen die Hamas seinen eigenen imperialistischen Angriff auf die Ukraine mindestens in ein milderes Licht rückt.

Aus chinesischer Sicht ist die Lage weniger eindeutig. Dass die USA und ihre Verbündeten mit einem weiteren unpopulären Krieg beschäftigt sind, verschafft Peking Spielräume. Doch eine Unterbrechung der Rohstoffexporte aus der Region oder auch nur ein Preisanstieg durch Ungewissheit (beides für Russland erstrebenswert), wäre für das wirtschaftlich angeschlagene Land gefährlich.

Diskreditieren sich die USA, Israel und ihre Unterstützer durch einen langen, blutigen Krieg in Gaza in den Augen des Globalen Südens, wird Peking versuchen, sich in der Region als ehrlicher ­Makler zu profilieren – wie bereits zwischen Russland und der Ukraine.

Der Angriff auf Israel und der Krieg gegen die Ukraine sind bei allen Unterschieden miteinander verbunden wie kommunizierende Röhren. Sie sind Teil des gleichen Ringens um eine neue ­internationale Ordnung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 56-61

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