In 80 Phrasen um die Welt

30. Okt. 2023

„Besonnen bleiben“

Die Selbstcharakterisierung als besonnen ist ein Schlüssel zu den außenpolitischen Kommunikationsproblemen dieser Bundesregierung.

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Schon bevor Olaf Scholz Bundeskanzler wurde, haftete ihm das Etikett an, „ein erfahrener und zugleich besonnener Politiker“ zu sein. Mit diesen Worten begrüßte die Parlamentarische Linke in der SPD seine Kandidatur im Sommer 2020. Da hatte man eine vor allem innenpolitische Agenda vor Augen – Energiewende, Digitalisierung, Wohnungsbau, Kindergrundsicherung, solche Sachen.

Nicht auszudenken, dass Scholz als Kanzler präzedenzlose außenpolitische Entscheidungen zu treffen haben würde, vor allem über immer neue Waffenlieferungen, die die Ukraine gegen den Aggressor Russland ertüchtigen sollen. 

Wann immer Olaf Scholz gedrängt wird (aus dem Parlament, aus der deutschen oder der internationalen Öffentlichkeit), ein weiteres Waffensystem für die Ukraine freizugeben, greift er auf die Selbstbeschreibung zurück, er sei nun mal ein besonnener Politiker, als solcher lasse er sich nicht drängen, wäge ab und widerstehe stoisch jedem Entscheidungsdruck. 

So ist es in zahlreichen Interviews und Bundestagsreden nachzulesen, und ­Scholz’ Verteidiger haben die Beschreibung übernommen. Besonnenheit ist die Standard-Replik des Kanzleramts und der SPD-Außenpolitiker auf jede kritische Nachfrage, und man kann darauf wetten, dass dieses Wort im kommenden Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen wird. 

Besonnenheit ist das zentrale außenpolitische Buzzword dieser Kanzlerschaft. Allenfalls Joe Biden, den er als Bruder im Geiste versteht, gesteht Olaf Scholz ein vergleichbares Maß an Erfahrung, Coolness und Reflektiertheit zu. 

Der Begriff, den es schon im Frühneuhochdeutschen gibt („Besunnenheit“ als Abstraktum zum Verb „sich besinnen“), ist schwer zu übersetzen. Das englische common sense trifft die Sache nicht, wegen des Bezugs auf Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Auch das französische prudence (Vorsicht, Klugheit) ist zu pragmatisch. Das deutsche Wort zielt auf mehr, auf eine Meta-Eigenschaft, eine politische Tugend: selbstbeherrschte Gelassenheit; leidenschaftslose Urteilskraft; eine unbestechliche Ratio, die sich alle Zeit der Welt nimmt. Schon in der griechischen politischen Philosophie galt Besonnenheit (sophrosyne) als wichtige Charakterstärke. Man darf sie sich nach diesem Verständnis allerdings nicht selbst zuschreiben. Sie sollte, glaubte Paulus, mit einer anderen Charaktertugend einhergehen, der Bescheidenheit. 

Und ist es wirklich besonnen, die Lieferung von Mardern, Leoparden oder Taurus-Marschflugkörpern monatelang zu verzögern? In einem dynamischen Kriegsgeschehen kommt es auch maßgeblich auf Tempo an. 

Die Selbstcharakterisierung als besonnen ist ein Schlüssel zu den außenpolitischen Kommunikationsproblemen dieser Bundesregierung. Denn wenn die lange Dauer der deutschen Entscheidungen auf den Weitblick des Kanzlers zurückzuführen ist, dann folgt daraus im Umkehrschluss, dass Partner, die zügiger entscheiden (Panzer, Flugzeuge oder Marschflugkörper zu schicken), es offenbar an Gründlichkeit, innerer Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit mangeln lassen. 

Die beanspruchte Besonnenheit ist, so gesehen, nur eine neue Form deutscher Hybris.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 15

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Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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