Buchkritik

01. Nov. 2016

Al-Kaidas langer Atem

Bücher über den syrischen Dschihad, Saudi-Arabien und den frühen Islam

Wie ist der Aufstieg des selbsternannten Islamischen Staates zu erklären? Darf der Westen mit dem syrischen Al-Kaida-Ableger gemeinsame Sache machen, weil dieser auf einmal „moderat“ erscheint? Können in Saudi-Arabien, Hüterin der heiligen Stätten des Islam, moderatere Glaubensformen entstehen? Fünf Neuerscheinungen geben Antworten.

Der so genannte Islamische Staat (IS) verbreitet weltweit Angst und Schrecken – und zumindest im syrischen Bürgerkrieg ist die Rolle der Terrormiliz eindeutig. Gegen ihn kämpfen praktisch alle Parteien in diesem blutigen Konflikt, was den politischen Umgang mit dem IS vergleichsweise einfach gestaltet. Die Miliz ­Dschabhat Fatah al-Scham (JFS) – die „Front zur Eroberung (Groß-)Syriens“ – stellt hingegen insbesondere den Westen vor eine wesentlich kompliziertere Aufgabe.

Bei der bewaffneten Gruppierung handelt es sich um die einstige Al-Nusra-Front, die über Jahre als offizieller Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida in Syrien agierte. In diesem Sommer aber – und nach heftigen internen Konflikten – sagte sich die Miliz von diesem Patronageverhältnis los, zumindest offiziell, und gab sich zugleich einen neuen Namen. Der Al-Kaida-Ableger wollte nicht mehr Al-Kaida sein. Ihrer radikalen Dschihad-Ideologie bleibt die Gruppe aber treu. Vom extremistischen Weltbild des IS unterscheidet sich diese nur in Nuancen.

Die USA schätzen die JFS deshalb weiterhin als Terrororganisa­tion ein. Kompliziert für Washington und seine Verbündeten wird der Umgang mit der Miliz, weil diese am Boden mit gemäßigteren Gruppen kooperiert, die vom Westen unterstützt werden. So kämpfen Dschihadisten in der Schlacht um die nordsyrische Metropole Aleppo Seite an Seite mit Einheiten, die sich dem losen Netzwerk der als vergleichsweise gemäßigt geltenden Freien Syrischen Armee (FSA) zurechnen.

Wie es dazu kommen konnte, beschreibt Charles Lister in seinem Band „The Syrian Jihad“ im Detail. Lister gehört mittlerweile zu den bekanntesten Syrien-Reportern. Kritiker – vor allem Anhänger des Regimes von Baschar al-Assad – werfen ihm allerdings vor, ein Sprachrohr syrischer Oppositionsgruppen zu sein, deren Rolle er überbewerte und deren Extremismus er gleichzeitig herunterspiele.

Lister selbst macht keinen Hehl daraus, dass er seit Jahren enge Kontakte zu Regimegegnern aller Art hält. Viele dieser Revolutionäre seien über Jahre Freunde geworden, räumt er unumwunden ein. An Wert verliert seine Arbeit dadurch nicht, im Gegenteil. Nur wenige Fachleute haben einen solchen Zugang zu den unzähligen Oppositionsgruppen, die Lister mit Informationen versorgen, die anderen vorenthalten bleiben. Schon allein dieser Fundus, aus dem er schöpfen kann, macht sein Buch einzigartig.

 

Groß mit Assads Hilfe

Dabei beschreibt Lister nicht nur Wurzeln und Genese der JFS-Miliz und des IS, sondern blickt gleichzeitig auf die ersten Jahre des Bürgerkriegs zurück. Die frühere Al-Nusra-Front zeigte sich erstmals im Januar 2012 öffentlich und wuchs in den folgenden Monaten zur stärksten Miliz im syrischen Bürgerkrieg heran. Das Assad-Regime, schreibt Lister, habe dazu seinen Teil beigetragen, weil es 2011 im Rahmen einer Amnestie zahlreiche radikale Islamisten aus dem Gefängnis freiließ.

Aber auch dem Westen gibt der Syrien-Experte eine Mitschuld. Dieser habe es verpasst, einen großen Teil der Opposition innerhalb Syriens ausreichend zu unterstützen, um deren Unterstützung für die JFS zu stoppen. So sei der Raum entstanden, in dem die Dschihadisten hätten wachsen können.

Dass moderatere Gruppen trotz großer ideologischer Differenzen an der Seite der JFS kämpfen, führt Lister auf deren große militärische Fähigkeiten zurück. JFS-Kämpfer gelten als mutig, ihre Miliz als gut organisiert und wenig korrupt.

Mag sich die JFS-Ideologie vom IS kaum unterscheiden, so erkennt Lister dennoch entscheidende Differenzen: Während der IS von seiner ­ultraradikalen Lesart des Islam keine Abstriche macht und den schnellen Erfolg will, zeigt sich der Al-Kaida-Ableger wesentlich pragmatischer. Er verfolgt eine „langfristige Strategie“, die für das Fernziel eines „islamischen Emirats“ Partnerschaften eingeht und Kompromisse schließt.

Den Syrern gegenüber präsentiert sie sich als Miliz, die für diejenigen eintritt, die sonst keine Unterstützer haben. Oder wie es ein Rebell sagt: „Du wirst beim Sterben allein gelassen, und jemand reicht dir eine Hand – würdest du sie ablehnen, um denen zu gefallen, die dich allein gelassen haben?“ Mag Lister die Opposition manchmal allzu optimistisch beurteilen – eine Pflichtlektüre bleibt dieses exzellent recherchierte Buch allemal.

Auch der palästinensische Journalist Abdel Bari Atwan, lange Jahre Chefredakteur der panarabischen, in London beheimateten Tageszeitung Al-Quds al-Arabi, verfolgt die Entwicklung des internationalen Dschihadismus schon seit Jahren. Ihm erscheint Al-Kaida im Vergleich zum IS geradezu „moderat“, weshalb eine „Normalisierung“ und eine diplomatische Annäherung mit ihm möglich seien. Leider führt Atwan diese Einschätzung nicht weiter aus – wie so manch anderen Punkt in seinem Buch „Das digitale Kalifat“, in dem er sich ausführlich mit dem Aufstieg des IS beschäftigt.

Auch einige Fehler schmälern die Qualität des Buches; trotzdem ist es unter dem Strich lesenswert. Besonders ausführlich beschreibt Atwan, wie der IS digitale Technik für seine Zwecke einsetzt und so im globalen Dschihad der Terrororganisation Al-Kaida längst den Rang abgelaufen hat. Mit seiner Propaganda – nicht zuletzt durch aufwändig und professionell produzierte Videos – spricht der IS anders als Al-Kaida die junge „digitale Generation“ an.

Digitale Technik allein reicht aber nicht, um den Aufstieg des IS zu erklären. Vielmehr kommen mehrere Faktoren zusammen, so Atwan. Bei der Terrormiliz vereinen sich eine professionelle Nutzung des Internets mit charismatischer Führerschaft und militärischem Know-how. Mit Abu Bakr al-Bagdadi stehe ein „ruhiger und frommer Mann“ an der Spitze des IS, der aber mit größter Berechnung rücksichtslos Gewalt einsetzt. Bei der äußersten Brutalität des IS handele es sich um eine „systematisch angewandte politische Kampagne“. Jeder Gegner soll wissen, mit wem er es zu tun hat. Stark ist der IS Atwan zufolge auch, weil er in seinem „Kalifat“ ein „hohes Niveau bürokratischer Abläufe“ erreicht hat, die auf ein „großes, gut organisiertes Staatsgebilde“ hinwiesen.

Der hohe Organisationsgrad, dank dessen sich der IS an neue Gegebenheiten anpassen könne, ist laut Atwan auch der Grund dafür, warum der Kampf gegen die Extremisten noch lange dauern dürfte. Selbst wenn das Reich der Terrormiliz in Syrien und im Irak militärisch zerschlagen sein sollte, wird die IS-Ideologie weiterleben und sich dann andere Länder als militärische Basis suchen. Gar nicht zu reden von der Gefahr von Attentaten radikalisierter „einsamer Wölfe“.

Ihre Wurzeln hat die IS-Ideologie im Königreich Saudi-Arabien, das nicht nur ein enger Partner des Westens ist, sondern auch ein Land, in dem eine extrem konservative Lesart des Islam gilt. Nach außen hin erscheint das Land oft als stabiler, monolithischer Block, an dem auch die Schockwellen des Arabischen Frühlings abgeprallt sind.

Zwei Bücher werfen einen differenzierten Blick auf die sunnitische Monarchie. Besonders interessant ist der Band „Saudi Arabia. A Kingdom in Peril“ der Niederländer Paul Aarts und Carolien Roelants. Die beiden legen die vielen Probleme dar, die das Land bewältigen muss. Trotz des Reichtums droht eine massive Wirtschaftskrise, weil die Ölpreise drastisch gesunken sind. Gleichzeitig sind zwei Drittel der Saudis jünger als 30 Jahre, von denen nach Schätzungen rund 40 Prozent arbeitslos sind, dennoch aber ihren Anteil am Wohlstand einfordern. Oft finden sie nicht mal eine eigene Unterkunft, da ein akuter Mangel an Wohnraum herrscht.

Aarts und Roelants entwerfen mehrere Szenarien, wie es in Saudi-Arabien weitergehen könnte. Eine „völlige Implosion“ des Königreichs halten die beiden für unwahrscheinlich, vieles spräche für ein „Durchwurschteln“, da zwar viele Saudis Veränderungen wünschen, die Revolten von 2011 aber abschreckend gewirkt hätten. Die massiven Wirtschaftsprobleme könnten allerdings zu einer „sozialen Explosion“ führen, warnen die Autoren. Selbst Reformen könnten das Königreich ins Wanken bringen, da sie häufig eine eigene Dynamik entwickelten.

Bislang reagiert das Königshaus mit Zuckerbrot und Peitsche. Während die Bevölkerung mit Extra­zuwendungen bei Laune gehalten wird, geht die Monarchie mit Härte gegen Kritiker vor – etwa gegen die saudischen Denker, die die Autorin Madawi al-Rasheed „Muted Modernists“ nennt. Dabei handelt es sich größtenteils um Islamisten, die die Glaubensquellen neu lesen wollen, um sie mit der Moderne zu versöhnen.

Zurück zu den Ursprüngen

Ihr Ziel ist nicht etwa ein säkularer Staat, sondern die Befreiung von Repression durch den Staat. Sie wollen politische Rechte für die Menschen, sie streben eine demokratische Regierung an, jedoch in einem islamischen Rahmen. Dschihad ist für sie ein Kampf mit Worten und friedlichen Mitteln. Ihr Modernismus ist tief verwurzelt in islamischen Traditionen, weshalb der Westen sich mit ihnen schwertut. Al-Rasheeds Buch erweitert den Blick auf Saudi-Arabien um eine Perspektive, die angesichts der Herausforderungen des Landes noch bedeutend werden könnte. Der Westen jedenfalls sollte in Saudi-­Arabien keine Reformen erwarten, die sein eigenes politisches System mehr oder weniger kopieren.

Wie die Dschihadisten gehen auch die Reformer zu den Wurzeln ihrer Religion zurück, wenngleich sie zu anderen Ergebnissen gelangen. Wie aber sah der Islam in seinen Anfangsjahren aus? Dieser Frage geht Lutz Berger in „Die Entstehung des Islam“ nach, eines der interessantesten Sachbücher dieses Jahres. Er sieht Gemeinsamkeiten bei Kritikern und Verherrlichern des Islam, denn beide lösen den entstehenden Islam aus seinem Kontext, um ihn für ihre eigene Argumentation zu missbrauchen.

Dem will Berger entgegentreten. Er untersucht vor allem die Frage, warum der Islam sich in so kurzer Zeit so schnell ausbreiten konnte. Dabei betrachtet er den Islam als Teil seiner Umwelt. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts entsprach die Botschaft Mohammeds dem Zeitgeist, schließlich war dies die Periode, in der sich die Orthodoxie der monotheistischen Religionen herausbildete. Andererseits stießen die muslimischen Heere mit den Imperien der Römer und der Sassaniden auf zwei stark geschwächte Weltreiche, deren Untertanen die neuen Herrscher oft genug mit Wohlwollen empfingen, auch weil die muslimischen Eroberer lokale Strukturen zunächst kaum antasteten. Aus anfänglichen Feldzügen, die der Beutegewinnung dienten, entwickelte sich so nach und nach ein Reich, das bis auf die Iberische Halbinsel reichte.

Berger bietet einen frischen Blick. Ein besonderer Verdienst liegt darin, dass er, ähnlich wie die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth, den Islam der ersten Jahre in die Zeit der Spätantike einordnet und dieser somit – zumindest am Rand – zum Teil der europäischen Geschichte wird. Der Islam, so lautet die Botschaft dahinter, ist nicht das Fremde, als das er oft im Westen gesehen wird. Und er liegt auch nicht so weit weg, wie viele lange meinten – man denke nur an Syrien.

Abdel Bari Atwan: Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates. München: C.H. Beck Verlag 2016. 299 Seiten, 16,95 €

Paul Aarts und Carolien Roelants: Saudi Arabia. A Kingdom in Peril. London: Hurst 2015. 176 Seiten, 25,00 £

Madawi al-Rasheed: Muted Modernists. The Struggle over Divine Politics in Saudi Arabia. London: Hurst 2015. 199 Seiten, 35,00 £

Lutz Berger: Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen. München: C.H. Beck Verlag 2016. 334 Seiten, 26,95 €

Charles Lister: The Syrian Jihad. Al-Qaida, the Islamic State and the Evolution of an Insurgency. London: Hurst 2015. 500 Seiten, 9,99 £

Jan Kuhlmann ist Korrespondent für die arabische Welt mit Sitz in Istanbul.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 138-141

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