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01. Okt. 2007

Sterben für Kabul?

Sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban sind Sicherheit und Stabilität ferner denn je

Afghanistan am Abgrund: Die NATO-Strategie aus Wiederaufbau und Bombardements fordert einen hohen Preis. Ohne Kursänderung droht der Einsatz am Hindukusch für das größte Militärbündnis der Welt zu scheitern – mit unabsehbaren Folgen für den Westen.

Get back, get back“, schnauzen zwei GI’s bei der Ortseinfahrt der ostafghanischen Provinzstadt Khost und stoppen unseren Jeep, wild mit ihren Maschinenpistolen fuchtelnd. Die Amerikaner sind mit fünf Schützenpanzern aufgefahren. Der vorderste der Bradleys steht quer auf der Straße. 20 Meter vor ihm hängt ein schwarzer Landrover mit zerschossener Windschutzscheibe halb im Graben. Der Fahrer ist offensichtlich tot. Die Amerikaner müssen ihn für einen Selbstmordattentäter gehalten und geschossen haben, als er nicht genügend Abstand wahrte. An die 100 Afghanen, allesamt Männer, verfolgen aus gebührender Entfernung das Geschehen. Sie murmeln Verwünschungen, drohen mit den Fäusten, in ihren Gesichtern spiegelt sich Hass.

Nicht anders sahen die Gesichter der Einheimischen 25 Jahre zuvor bei ähnlichen Zwischenfällen mit den russischen Okkupanten aus. Ob der Erschossene wirklich ein Dschihadi war, mit Sprengstoff in seinem Wagen, ist nicht zu klären, Distanz ratsam. Allerdings lässt sich die Nervosität der US-Soldaten nachvollziehen. Nur wenige Straßenzüge weiter, vor dem Gebäude der Kabul Bank, rast anderntags ein Selbstmordattentäter in das Ende eines Polizeikonvois. Bei der Explosion sterben acht Menschen, 42 werden verletzt.

„Die Selbstmordattentäter kommen nachts über die Grenze aus Pakistan“, behauptet der Gouverneur Arsalah Jamal und deutet am Schreibtisch seines Amtssitzes gen Südosten. Dort, gerade mal 20 Kilometer von Khost entfernt in den paschtunischen Stammesgebieten von Waziristan, liegen die Rückzugszitadellen der Taliban und wohl auch einiger 100 ausländischer Terroristen, darunter Kadern von Osama Bin Ladens Al-Qaida. In diesen schwer zugänglichen Bergregionen mit ihrem traditionell halbautonomen Status hat die pakistanische Regierung nur beschränkte Zugriffsmöglichkeiten. Die Kämpfe mit den Paschtunen-Kriegern kosteten hunderte Soldaten das Leben, sodass Anfang September 2006 Islamabad im Abkommen von Miram Shah lieber eine Stillhaltevereinbarung mit 45 Stammesältesten traf. Aus amerikanischer Sicht war dies ein Teufelspakt und Freibrief für Terroristen, denn die Infiltration der Guerilla über die Grenze wurde danach nicht, wie versprochen, gestoppt. Sie hat vielmehr rapide zugenommen.

Auch der Gouverneur von Khost sieht das so, wenngleich er den Eindruck zu vermitteln sucht, als habe er die Lage in seiner Provinz mit ihren 1,2 Millionen Einwohnern unter Kontrolle. „Ich habe nichts gegen Pakistan“, sagt Jamal, „aber die Terroristen kommen aus den dortigen Camps und Koranschulen.“ Zu den Selbstmordattentätern gehören vorwiegend islamistische Internationalisten, Araber meist oder Tschetschenen und Usbeken. Im Bunde mit ihnen operieren die Taliban, sickern in kleinen Trupps ein, um Anschläge vorzubereiten und Sprengfallen. „Aber sie können sich nur nachts in die Dörfer schleichen, tagsüber würden wir sie schnell fassen“, sieht der Gouverneur seine Sicherheitskräfte in überlegener Position – und kann doch nicht verhehlen, dass sein Posten ein ausgemachtes Himmelfahrtskommando ist.

Kabuls Repräsentant in der Unruheprovinz Khost, ein 42-jähriger Paschtune mit dem Wirtschaftsdiplom der malaysischen Hochschule von Kuala Lumpur, ist Fatalist und Zyniker. Das wird man wohl nach drei nur knapp überstandenen Attentaten innerhalb weniger Monate. Einmal ging eine Bombe hoch während der Beisetzung seines ermordeten Amtskollegen aus der Nachbarprovinz Paktia. Es gab sechs Todesopfer, Jamal hingegen hatte Glück. Ein weiterer Sprengsatz wurde unweit seiner Residenz rechtzeitig entdeckt. Schließlich lauerten ihm die Taliban bei der Eröffnung des renovierten Krankenhauses auf. Sie schickten einen Selbstmordattentäter im weißen Kittel eines Arzthelfers, drei amerikanische Soldaten und mehrere Mitarbeiter der Klinik wurden schwer verletzt.

Afghanistan im sechsten Jahr nach der Befreiung Kabuls vom islamistischen Steinzeitregime der Taliban und deren Terrorkumpanen Al-Qaida: Trotz des von den UN beschlossenen Einsatzes der internationalen Schutztruppe ISAF mit 35 000 Soldaten sind Frieden und Stabilität noch Lichtjahre entfernt. Das Land steht weiter dicht am Abgrund, der Wiederaufbau stockt. Die Sicherheitslage verschlechtert sich selbst in der Hauptstadt rapide. Anarchische Zustände herrschen in einigen Provinzen des Südostens, Hochburgen des Mohnanbaus und Drogenhandels. Hier, in den Stammesgebieten der Paschtunen, bekämpfen Guerilla-trupps von Neo-Taliban, Dschihadis der Al-Qaida und Streiter des islamistischen Warlords Gulbuddin Hekmatjar die Regierungsinstitutionen ebenso erbittert wie die zu deren Schutz angetretenen NATO-Verbände. Nicht in offener Feldschlacht, dazu ist die militante Opposition zu schwach, doch in einem asymmetrischen Krieg, der für die transatlantische Militärallianz kaum zu gewinnen ist: mit Hinterhalten, Sprengfallen, Raketenbeschuss, Autobomben und wie im Irak zunehmend auch mit Geiselnahmen und Selbstmordattentätern. An deren Rekrutierung unter jungen Muslimen herrscht offenbar kein Mangel. „Es ist wie das Ausbrechen einer Seuche“, kommentiert der UN-Sonderbeauftragte Tom Koenigs das sprunghafte Ansteigen dieser Selbstmordattacken, die Afghanistan während des Widerstands gegen die sowjetischen Besatzer nicht kannte. Sie haben sich seit 2004 verzehnfacht, und 2007 gab es manchmal gleich drei an einem Tag, auch in Kabul, aber immer häufiger auf dem entlegenen Land. Das wäre eine Terrorwaffe von strategischer Wirkung, sollte die bereits starke Verunsicherung der internationalen Helfer und Soldaten schließlich zu einer Drosselung des ausländischen Engagements führen.

Auch deutsche Soldaten und Entwicklungshelfer, von den Afghanen bislang traditionell freundlich behandelt, geraten seit dem Einsatz der Aufklärungstornados zunehmend ins Visier der Aufständischen. Im Norden hat die Bundeswehr nach dem Anschlag von Kundus die Wiederaufbauarbeit praktisch eingestellt, es gibt nur noch wenige Fußpatrouillen für bürgernahes Auftreten. Immer öfter muss in den NATO-Militärcamps Trauerbeflaggung angeordnet werden, weil Soldaten der ISAF sterben.

Hölle am Hindukusch?

Bei Militärs und Helfern aus dem Westen wächst das bedrückende Gefühl, genauso wie die Sowjets in den achtziger Jahren in eine ausweglose Lage zu geraten. Solch eine Entwicklung droht jetzt auch der von der NATO geführten Friedensstreitmacht. Zwar herrscht Einigkeit im Bündnis, das Land nicht wieder den Terroristen zu überlassen. Doch die NATO-Doppelstrategie aus Wiederaufbau und Militärschlägen gegen die erneut vorrückenden Taliban fordert einen hohen Preis. Vor allem die Amerikaner, einst als Befreier gefeiert, haben ihre Glaubwürdigkeit durch ein häufig rücksichtsloses Auftreten gegenüber der Zivilbevölkerung, durch Bombardements mit üblen „Kollateralschäden“ weitgehend eingebüßt. Die Europäer, darunter die Deutschen, sind derzeit dabei, diese Glaubwürdigkeit ebenfalls zu verlieren. Mit der Zahl der Opfer – bis zum Sommer 2007 wurden weit über 4000 Zivilisten getötet – steigt die Wut im Land. Dieser Stimmungsumschwung kann für die transatlantische Allianz in einem Desaster enden, zum Inferno führen wie im Irak. Afghanistan droht für das größte Militärbündnis der Welt und die Zukunft des Westens zum Menetekel zu werden.

„Afghanistan ist unregierbar“, pflegt der Weltenbeschauer Helmut Schmidt gerne salopp zu sagen. Das mag eine Spur zu apodiktisch formuliert sein, doch im Kern beschreibt das Urteil des Altkanzlers die Machtverhältnisse am Hindukusch historisch durchaus zutreffend. Hamid Karzai, der vom Westen gestützte und durch eine Volkswahl demokratisch halbwegs legitimierte Präsident, wäre ohne fremden Beistand wohl nicht einmal der Vorsteher von Kabulistan.

Dem Eisernen Kanzler der Deutschen, Fürst Bismarck, war seinerzeit schon der nahe Balkan zuwider und „nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers“ wert gewesen. Für Rot-Grün wie die Große Koalition in Berlin aber gilt zur Berechtigung des Bundeswehreinsatzes bislang die Devise des vormaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, der 2002 mit Blick auf den weltweiten Kampf gegen den Terrorismus und die in Afghanistan aufgestöberten Ausbildungscamps von Al-Qaida den Satz prägte, dass „Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird“. Dieses Postulat ist unterdessen in Strucks eigener Partei umstritten, die zudem unter Druck von Oskar Lafontaines neuer Linken steht, die den Abzug aller deutschen Soldaten vom Hindukusch verlangt und dabei laut Umfragen fast zwei Drittel der Deutschen hinter sich weiß. Dazu gehören auch ausgewiesene Konservative, die bezweifeln, dass im Zeitalter der Globalisierung jeder Fleck der Erde verteidigt werden muss. Solle man nicht besser Staaten aufgeben, fragt etwa Alexander Gauland, „die man nicht retten kann, weil sich ihre Gesellschaften nicht retten lassen wollen?“

Gehört Afghanistan zu diesen Staaten, die sich selbst überlassen bleiben sollten? Lohnt es sich, für Kabul zu sterben, könnte die Frage lauten in Anklang an jenes fatale Schlagwort „mourir pour Danzig?“ aus dem Jahr 1939, als die Westeuropäer Polen gegen Hitler-Deutschland alleine ließen. Sollen doch die Islamisten, so argumentieren die Befürworter eines raschen Truppenabzugs, ruhig in Kabul wieder die Macht übernehmen und am Hindukusch ein paar Terroristen beherbergen. Vergesst Afghanistan! Langfristig werde die viel größere Bedrohung für die westliche Welt ohnehin von zwei muslimischen Nachbarstaaten ausgehen, der im Innern von Extremisten aufgewühlten Nuklearmacht Pakistan und dem nach der Bombe greifenden Iran.

Schwer zu bestreiten ist, dass die Mehrzahl der inzwischen 31 Millionen Afghanen einem sehr konservativen Islam anhängt und vom Import westlicher liberaler Werte wenig hält. Viel zu lange, viel zu blauäugig glaubte der Westen, man könne als Heilsbotschaft demokratische Reformmodelle einer Stammesgesellschaft aufpfropfen, die nach wie vor autoritär-patriarchalisch strukturiert ist und einem archaischen Beziehungsgeflecht verhaftet. Unterschätzt wurden zudem die durch den Bürgerkrieg verschärften Gegensätze der Volksgruppen, regionale Antagonismen und der Einfluss externer Akteure, die Macht der Drogenbarone sowie der Warlords und ihrer Milizen. Hinzu kam ein Wirrwarr an unterschiedlichen Mandaten, Zielen und Kompetenzen der internationalen Friedensstifter aus 37 Nationen. Aufgabe der von der NATO geführten ISAF-Schutztruppe sollte die Unterstützung der neuen afghanischen Sicherheitsorgane sein, um das Gewaltmonopol der Regierung überall im Lande durchzusetzen. Dabei verstanden sich die Europäer auch als Entwicklungshelfer, bauten Straßen, Schulen und Brunnen. Die Soldaten des George W. Bush hingegen sollten nicht als Sozialhelfer oder Polizisten beim Nation Building mitwirken. Sie jagten dafür islamistische Extremisten und Aufständische mit einem robusten Kampfauftrag. Vor allem die Artillerie- und Lufteinsätze im Rahmen der US-geführten „Operation Enduring Freedom“ (OEF) nahmen auf Opfer unter der Zivilbevölkerung bisweilen wenig Rücksicht. Dieses Vorgehen der NATO, von Präsident Karzai mehrmals als „rücksichtslos“ beklagt, führte zur Entfremdung, ja offenen Gegnerschaft der davon am meisten betroffenen Paschtunen, Afghanistans größter Volksgruppe, und es verschaffte den islamistischen Untergrundkämpfern weiteren Zulauf.

Versagen der Aufbauhelfer

Sechs Jahre sollten eigentlich Zeit genug sein, um die Institutionen und Strukturen eines funktionierenden Staatswesens aufzubauen. Doch der Regierung Karzai fehlte es an Durchsetzungsvermögen. Sie arrangierte sich mit den regionalen Machthabern und Warlords und kontrolliert heute nicht einmal die Hälfte des Landes, in den paschtunischen Stammesgebieten sogar kaum eine Provinz. „Die Taliban sind hier überall“, sagt die deutsche Krankenschwester Karla Schefter, die Anfang der neunziger Jahre trotz vieler Widrigkeiten 65 Kilometer südwestlich von Kabul das Hospital Chak-e-Wardak aufbaute, „sie tragen offen ihre Waffen und rasen mit ihren Pick-ups durch die Straßen“.

Nach wie vor ist im sechstärmsten Land der Welt der fehlende soziale Ausgleich zwischen Städten und Provinzen eines der Hauptprobleme. Selbst im halbwegs prosperierenden Kabul, einer Kunstblase internationaler Aktivität, fühlt die Mehrzahl der vier Millionen Einwohner sich ausgeschlossen vom wirtschaftlichen Fortschritt, wächst der Groll über das Protzen einer kleinen Clique Neureicher und Nachkriegsprofiteure. Überall wuchert der Krebs der Korrruption. „Wenn Sie aufs Amt müssen, bewegt sich wenig ohne Schmiergeld“, zürnt der Augsburger Georg Dechentreiter, der mit seiner „Wohlfahrts-Stiftung“ am Rande der Altstadt ein Kinderhospital betreut. Es kursieren Namen von Ministern, die angeblich von großen Projekten mit Auslandsinvestitionen zehn Prozent kassieren. Selbst die Deutsche Botschaft kriege ihre Visa-Abteilung nicht in den Griff, kritisiert Dechentreiter, „die sind alle korrupt“.

Versagt haben aber auch die internationalen Aufbauhelfer und Berater. Zwischen Amerikanern und Europäern kam es zu wechselseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Bei vielen Europäern verstärkte sich der Eindruck, Washington wolle wegen des Irak-Debakels unbedingt schnelle Demokratisierungserfolge in Afghanistan vorweisen, zeige aber wenig Interesse an einer nachhaltigen Stabilisierung des neuen politischen Systems. Die Amerikaner wiederum warfen ihren Alliierten vor, generell zu schwerfällig zu agieren und bei der Bekämpfung der Aufständischen schlicht zu kneifen.

Eine ätzende Kontroverse gab es hinter den Kulissen um Wesen und Wert der deutschen Polizeimission. Seit den Zeiten der Weimarer Republik (unter Reformerkönig Amanullah) und insbesondere während der Regentschaft von König Zahir Schah und des Despoten Mohammed Daud waren deutsche Polizeiausbilder am Hindukusch höchst gefragt. Sie waren auch nach dem Sturz des Taliban-Regimes auf diesem Sektor wieder federführend und schulten seitdem mit 40 entsandten Beamten etwa 16 000 Führungskräfte. Aus Sicht der Amerikaner war dies indes das falsche Konzept zum falschen Zeitpunkt und im Ergebnis ein Desaster. Das unruhige Land brauche statt eines konventionellen Polizeiapparats eine schnell einsetzbare paramilitärische Truppe und Grenzpolizei. Die Deutschen erwiderten indigniert, ihre Aufgabe sei es nicht, den Amerikanern für den Antiterrorkampf afghanisches „Kanonenfutter“ zu liefern. Gewiss nicht, doch einige Kritikpunkte sind wohl auch berechtigt. „Deutschland hat sich einen Schuh angezogen, der ihm deutlich zwei Nummern zu groß gewesen ist und mit dem man sich am Ende Blasen gelaufen hat“, räumt einer der nach Kabul geschickten Polizeiausbilder ein und nennt die Mission „zu mickrig, zu bürokratisch und schlecht koordiniert“. Das Kompetenzgerangel der an diesem Projekt beteiligten drei Berliner Ministerien setze sich zwischen deren Vertretern im Einsatzgebiet fort, es fehle an ausreichenden Fachkenntnissen auf der politisch-strategischen Entscheidungsebene in Deutschland und an einem professionellen Management. Zwar ist zum Ende der Berliner EU-Ratspräsidentschaft das deutsche Projekt überhastet in das neue Mandat einer Europäischen Polizeimission (EUPOL) mit insgesamt 160 Beamten eingebettet worden. An den maladen Grundbedingungen ändert sich damit jedoch wenig.

Dort, wo es wirklich brennt, in den afghanischen Provinzen, ist von den europäischen Polizeiausbildern bislang nichts zu sehen. Die Amerikaner stecken zwar über elf Milliarden Dollar in den afghanischen Sicherheitsapparat, doch auch der von ihnen gesteuerte Aufbau der neuen afghanischen Nationalarmee (ANA) kommt nur schleppend voran. Nach Ansicht westlicher Militärexperten werden Kabuls Regierende nur dann in der Lage sein, den Konflikt mit den Aufständischen „in der Fläche zu beherrschen“, wenn sie über eine kampfbereite Truppe von 70 000 Mann verfügen und dazu über Einheiten der Grenz- und Bereitschaftspolizei von vergleichbarer Stärke. Das aber werde mit noch so viel Geld und den besten Ausbildern realistischerweise nicht vor 2011 zu erreichen sein. Derzeit kann die kämpfende Truppe, so ein vertraulicher UN-Bericht, bestenfalls 25 000 Mann mobilisieren. Sie ist jedoch nicht in der Lage, eigenständige Operationen gegen die bewaffnete Opposition ohne NATO-Anleitung durchzuführen.

Die Schwäche der Regierungsstreitkräfte macht die fortdauernde Präsenz der internationalen Schutztruppe noch auf Jahre hinaus erforderlich, will man nicht davonlaufen und das Land den Dämonen von gestern überlassen. Dann drohte ein Rückfall in Anarchie, Chaos und Bürgerkrieg wie zu Beginn der neunziger Jahre, als sich nach Abzug der Sowjets auch der Westen von Afghanistan abwandte. Erst diese „Vernachlässigung“, so warnt der pakistanische Außenminister Khurshid Ka-suri gern westliche Gesprächspartner, „trug zum Aufstieg der Taliban bei und sorgte auch mit dafür, dass Al-Qaida ihre -Wurzeln in Afghanistan hat“. Hinter dieser Mahnung steckt offenbar die Furcht, eine erneute Machtübernahme der Islamisten in Kabul könne in der Region eine verhängnisvolle Kettenreaktion auslösen. Die Anhänger von Al-Qaida dürften dann siegestrunken fragen, wenn man schon Karzai stürzen konnte, warum nicht auch den mit den verhassten Amerikanern paktierenden -General Muscharraf in Pakistan?

Brücken, nicht Bomben

Die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft, eine baldige Afghanisierung des Konflikts herbeiführen und sich selber in die Zentralen zurückziehen zu können, scheiterte bisher am Mangel afghanischer Sicherheitskräfte. Deshalb werden für eine forcierte Ausbildung von Polizei und Armee weit mehr ausländische Berater benötigt. Deutschland ist beim Wiederaufbau am Hindukusch der viertgrößte Finanzier und stellt bei der Schutztruppe ISAF das drittgrößte Kontingent an Soldaten. Sollte sich die Bundeswehr verstärkt engagieren, dürfte schwerlich zu vermeiden sein, dass deutsche Soldaten ihre afghanischen Partner in einer Erweiterung des ISAF-Mandats auch zu Kampfeinsätzen im Süden und Osten des Landes begleiten. Berliner Großkoalitionäre verkünden jetzt, man werde energisch Kurs halten und, so Bundeskanzlerin Angela Merkel, „das afghanische Volk nicht im Stich lassen“. Das ist schön und edel. Allerdings fehlt eine durchdachte, mit den Amerikanern abgestimmte neue Strategie, welche die Bekämpfung der bewaffneten Opposition durch die NATO-Verbände auf ein Minimum an „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung reduziert und dies zugleich mit einer massiven Unterstützung des zivilen Aufbaus auch in den Krisenprovinzen verbindet. Nicht Bomben und Tornados, sondern nur ein gigantisches Wiederaufbauprogramm mit Kraftwerken, Straßen, Staudämmen und Schulzentren, abgesichert durch militärischen Begleitschutz, wird die Bewohner der afghanischen Provinzen überzeugen können, das von den Fremden in Kabul installierte Regime nutze auch ihnen. Es wäre die wirkungsvollste Waffe gegen einen weiteren Vormarsch der Taliban.

Die Entscheidung über Afghanistans Zukunft fällt nicht in Kabul, sondern auf dem Land. In den beiden Vorzimmern des Gouverneurs von Khost drängen sich die lokalen Würdenträger und Stammesführer in Erwartung einer Audienz. Hier warten bei grünem Tee pfauenhafte Männer, mit bunten Wickelturbanen, grauen Decken über ihren tunikaartigen Hemden und weiten Hosen; wuchtige, breitschultrige Gestalten mit scharfen Gesichtszügen. Sie wollen von dem Repräsentanten der Kabuler Regierung neue Brunnen und neue Straßen, bisweilen auch eine Schule. Fragt Arsalah Jamal dann, ob sie denn auch ihre Töchter zu dieser Schule schicken werden, ist die Antwort meist beleidigtes Schweigen. „Sie geben vor, mir Wichtiges zu erzählen, und ich höre mir stundenlang Blödsinn an“, ist der Gouverneur genervt von dem endlosen Palavern und Teetrinken. „Sie berichten von Blutrachen und wollen eigentlich, dass alles so bleibt wie es immer war in ihrer archaischen Stammeswelt.“

Es gäbe viel zu tun an nützlicher Aufbauarbeit im unruhigen Khost, einer der rückständigsten Provinzen. Etwa die Wiederaufnahme des großen Landwirtschafts- und Forstprojekts nebst technischer Schule und Veterinärstation, einst ein Prunkstück bundesdeutscher Entwicklungshilfe. „Aber das System funktioniert nicht“, hadert der Gouverneur, „ich habe zu wenig gutes Personal und kriege auch nicht die versprochenen Mittel aus Kabul.“ Bei der prekären Sicherheitslage wagt sich indes ohnehin kein Regierungsfunktionär von Verstand aus der Stadt hinaus aufs Land, wo ihn die Taliban mit dem Tod bedrohen. Aber das sagt der Gouverneur lieber nicht.

Dr. OLAF IHLAU, geb.1942, bereist Afghanistan seit 30 Jahren, zunächst für die SZ, zuletzt für den Spiegel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 72 - 81.

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