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01. Apr. 2006

Staatlich verordnete Politik-Idylle

Russlandbilder

Konflikte werden lauwarm plattgebügelt, Kritik erscheint höchstens zwischen den Zeilen.
Die Journalisten sind nicht um die Wirklichkeit zu beneiden, die sie zu beschreiben haben

Russlands politische Journalisten sind nicht um die Wirklichkeit zu beneiden, die sie zu beschreiben haben. Fünf Jahre nach Wladimir Putins Amtsantritt herrscht in Russland eine politische und soziale Windstille, die stark an den „Sastoj“, den Stillstand, der Breschnjew-Ära erinnert. Gebietsgouverneure, Großindustrielle und Geistliche aller Konventionen, selbst Oppositionspolitiker mimen Harmonie. Wo doch jemand laut wird, erwartet der Staat, dass die vierte Gewalt vertuscht und glättet. Fernsehsender, aber auch die Masse an Radiostationen und Printmedien werden zensiert, frontale Kritik an Putin wird mehr und mehr zum Tabu. Die politische Presse muss sich einiges einfallen lassen, um doch über Streit und Diskurs berichten zu können.

Viele Redaktionen weichen aus, suchen seit Monaten ihren Konfliktstoff im Ausland: Dauerrenner der letzten Monate ist der Parlamentswahlkampf in der Ukraine. Das analytische Nachrichtenmagazin Kommersant (20. Februar 2006) interviewt Antagonisten der ukrainischen politischen Szene wie die ehemalige Ministerprädentin Julia Timoschenko und ihren Widersacher Pjotr Poroschenko, den Exsekretär des ukrainischen Sicherheitsrats, zwei „orangene Revolutionäre“, die sich, einmal an der Macht, so heftig befehdeten, dass Präsident Juschenko sie im September beide feuerte. Die beiden beschimpfen sich gegenseitig als Korruptionäre und Populisten, der russische Leser, dem die eigene Politik immer weniger spanndende Schlagabtausche bietet, mag sich vo-yeuristisch oder nostalgisch an soviel Meinungsverschiedenheit freuen. 

Auch Konflikten mit dem Ausland widmen sich Russlands Medien gern. Vor allem den Nachbarschaftsstreitereien mit ehemaligen Sowjetrepubliken, die immer mit viel Propagandalärm veranstaltet werden und auch den Journalisten die Möglichkeit bietet, einerseits zu dramatisieren, andererseits Loyalität gegenüber Russland zu bekunden. Im Dezember schreiben die „allgemeinpolitischen“ Zeitschriften über den „Gaskrieg“ mit der Ukraine, im Januar über den „Leuchtturmkrieg“ mit der Ukraine, im Februar über den Nervenkrieg mit Georgien, das das Mandat der russischen Friedenstruppen in der – prorussichen – georgischen Rebellenenklave Südossetien nicht verlängern will. Wobei man auch gerne mit dem Säbel rasselt. So vergleicht das Magazin Profil (30. Januar 2006) schon die Kampfkraft der russischen und der ukrainischen Streitkräfte von der Zahl der Reservisten bis zu den Boden-Luft-Raketen. Und Kommersant (13. Februar 2006) macht zum russisch-georgischen Konflikt mit einem kampflustigen Zitat des Kommandeurs der russischen Friedensstifter auf: „Wenn es irgendwelche Aktionen der georgischen Seite gibt, ist das Friedenskontingent einfach gezwungen, sein Mandat auszufüllen, auch mit Gewalt.“ Profil (13. Februar 2006) fühlt sich gar an den blutigen und siegreichen Krieg der jungen Sowjetmacht gegen das damals unabhängige Georgien von 1920/21, erinnert.

Wirklich blutige Konflikte innerhalb Russlands werden dagegen lauwarm plattgebügelt. Das gilt für Tschetschenien und den gesamten Kaukasus. Nikolaj Silajew schildert in der wirtschaftspolitischen Zeitschrift Expert (27. Februar 2006) den überraschenden, aber leisen Rücktritt des Präsidenten der Republik Dagestan, Magomed Magomedow, als „Schönheitsreparatur“: Der 75-jährige Magomedow habe seinen Rücktritt eher nebenbei erklärt, das Parlament der Vielvölkerrepublik einträchtig und auf Vorschlag des Kremls den 65-jährigen Muchu Alijew gewählt. Der gehöre aber politisch zur Generation seines Vorgängers – Alijew war der letzte Parteisekretär der dagestanischen KPdSU. „Der Kreml wählte das konservativste aller Szenarien“, urteilt Silajew. Er streift zumindest die miserable Wirklichkeit in Dagestan: „Eigentlich erwartet auch niemand, dass es in Dagestan unter der Führung Muchu Alijews wesentlich weniger Korruption geben wird oder der Terror gegen Vertreter der Staatsmacht aufhört.“

Tatsächlich ist Dagestan eine der ärmsten Regionen Russlands, die Korruption dort inzwischen fast sprichwörtlich, seit Jahren tobt blutiger Kleinkrieg zwischen islamistischen Aufständischen und den Sicherheitsorganen. Silajew schreibt, Putin beabsichtige, den Kaukasus zu konservieren und in diesem Zustand seinem Nachfolger zu übergeben. „Eine mehr oder weniger klare Sicht der Ziele, die Moskaus Politik in der Region verfolgen soll, ist unverzichtbar“. Zum Schluss deutet der Autor Kritik zumindest an. „Aber solange es diese nicht gibt, stellt sich die Strategie kluger Nichteinmischung als gar nicht so unverantwortlich dar.“ Zumindest zwischen den Zeilen konstatiert der Autor dem Kreml das Fehlen jeden politischen Willens, den miserablen Status quo in Dagestan und den anderen Kaukasus-Republiken zu ändern. Was daran klug oder verantwortlich ist, lässt er allerdings unerklärt. Auch andere Medien neigen dazu, jede Kritik am Kreml so verständnisvoll zu formulieren, dass sie sich oft selbst kastriert.

Interviews, eigentlich eine klassische Disziplin des Diskurses, sind inzwischen meist sehr sanfte Gefechte. Andrej Kamakin spricht im Nachrichtenmagazin Itogi (27. Februar 2006)  mit Jewgenij Welikow, dem Sekretär der neu geschaffenen Bürgerkammer. Deren Mitglieder wurden vom Kreml ausgewählt, der Atomwissenschaftler ist quasi zum Leiter der russischen Zivilgesellschaft ernannt wurden. Kamakin erkundigt sich völlig zu Recht, ob nicht die Gefahr bestehe, dass die Bürgerkammer so funktioniere wie die Öffentlichen Sowjets der UdSSR. Welikow antwortet, dazu seien die Mitglieder der Bürgerkammer als Persönlichkeiten zu unabhängig und zu sehr auf ihre Reputation bedacht.

Kamakin lässt nicht locker, hält Welikow sein eigenes Zitat vor: „Wir werden im Einverständnis mit dem Präsidenten, seiner Administration, der Staatsduma und der Regierung arbeiten“ und fragt, ob Welikow denn gar nicht mit der Staatsmacht streiten wolle.

„Heute“, lautet die Antwort, „haben Staat und Gesellschaft ein Ziel – ein wohlhabendes, stabiles Land mit freien, aktiven, gebildeten Bürgern. Wir werden unbedingt mit dem Staat streiten und streiten schon jetzt, aber wir stellen uns nicht als Aufgabe, das System zu stürzen.“

Kamakin gelingt es wenigstens, klar zu stellen, dass sein Gegenüber ein großer Befrieder ist. Der lehnt es auch ab, wegen der brutalen Übergriffe in der Armee – im Januar mussten einem misshandelten Rekruten Beine und Genitalien amputiert werden – den Rücktritt des Verteidigungsministers zu fordern. Übergriffe habe es schon in der Sowjetunion gegeben. Seitdem hätten so viele Minister, ja der ganze Staat gewechselt. Welikow definiert: „Wenn uns einmal aufgetragen wurde, die Meinung der gesamten Gesellschaft zu vertreten, so werden wir versuchen, dass sie maximal ausgewogen, konzentriert, von allen extremen Urteilen befreit ist.“ Auch wer bei der Lektüre von Welikows Antworten nicht eingeschlafen ist, wird sich von der Bürgerkammer kaum Konfliktbereitschaft gegenüber ihren staatlichen Schöpfern erhoffen.

Der Wunsch nach Eintracht scheint sogar die nationalbolschewistische Opposition erfasst zu haben. Zwar meint Alexander Prochanow, der wortgewaltige Chefredakteur der neostalinistischen Wochenzeitschrift Sawtra (1. März 2006) nicht die Vogelgrippe, wenn er beklagt, dass über Russland der schwarze Rabe der Verzweiflung flattere. Aber es gehe aufwärts, das frische Pflänzchen neuer russischer Staatlichkeit habe den Asphalt des Jelzinismus durchbrochen. Prochanow fühlt neue Größe nahen, ein „Fünftes Imperium“ (nach Rom, Byzanz, dem Zarenreich und der Sowjetunion). Aber dazu müsse sich das Volk wieder der Göttlichkeit zuwenden, „die es ihm erlaubt, den Zaubertrank zu trinken, seine Fähigkeiten ins Unendliche zu erweitern.“ Und dorthin pilgern, wo die Ströme der Passion flössen, zu Wasserwerkbaustellen, in Klöster und zu den Elitekämpfern, die im Kaukasus wieder russischen Ruhm ernteten. „Bruder, besuche diese Orte“, endet Prochanow, „wo in der kristallklaren Luft der Himmel sich mit der Erde vereint, wo Gott Russland küsst.“

Soviel völkischer Pathos klingt schon pathologisch. Aber Prochanow widmet seinen Schimpf neuerdings ganz dem Rentner Jelzin, Putins Gegenwart zeichnet er hoffnungsvoll. Und sein nationalreligiöser Aufruf entspricht durchaus der herrschenden politischen Mode: Für die Moskauer Elite gilt es inzwischen als Muss, orthodox getauft zu sein.

Außerdem moralisieren nicht nur die Rechten. „Die Seele muss man retten“, schreiben Swetlana Babajewa und Georgij Bowt in dem liberalen Magazin Profil (27. Februar 2006). „Man muss lernen, gütiger zu sein. Und ehrlicher. Und das zu den zwei Hauptprinzipien der staatlichen Politik machen.“ Die beiden, eigentlich wenig naiv, beschreiben politische Harmonie bereits als russischen Ist-Zustand: Keine äußeren Feinde, volle Staatskassen, das Volk ergehe sich in Konsum oder kämpfe ums Überleben, aber für Politik interessiere sich kein Mensch, Korruption gelte in allen Schichten als Kavaliersdelikt, das Einparteiensystem gewänne an Popularität. Diese Art von Stabilität erinnert die Autoren fatal an die Stagnation der Breschnjew-Ära. „Das Land hat förmlich entschieden, in die gewohnte und ruhige Sowjetunion zurückzukehren.“  Babajewa und Bowt aber befürchten, neben den Gaspipelines faule auch das Bildungssystem, der Umgang zwischen Beamten und Bürger gleiche inzwischen dem zwischen Besatzern und Besiegten. Allüberall herrscht kulturelle Verwilderung und unbestimmte Angst vor der Zukunft. Die Russen müssten neugieriger, duldsamer, ehrlicher werden, sonst drohe der russischen Zivilisation schreckliche Gefahr. „Das Land braucht jetzt ein neues nationales, humanistisches – geistiges, moralisches – Projekt viel mehr als selbst die Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts.“ Die Autoren wagen es also, eine Alternative zu Putins BSP-Wachstumsplan vorzuschlagen – allerdings möglichst fromm formuliert, um die Mächtigen nicht zu erzürnen.

Es gibt auch journalistische Betrachtungen der russischen Zivilisation mit mehr Bodenhaftung. So schildert Alexander Bogomolow in der Wochenzeitschrift Ogonjok (27. Februar 2006) eine neue, aber schlagfertige Nichtregierungsorganisation, den russischen Autofahrerverein „Wahlfreiheit“. Der habe sich spontan im Mai 2005 formiert, als die russische Regierung Autos mit Rechtslenkern verbieten wollte. (Im Osten Russlands fahren Millionen Russen japanische Gebrauchtwagen mit Rechtslenker. Die Automobilisten hätten über das Internet landesweit mobil gemacht, Automarken-Fanclubs Protestkorsos organisiert, die sie laut Versammlungsgesetz nicht einmal als Demonstrationen hätten anmelden müssen. Die Staatsmacht habe nachgegeben, die Autofahrerbewegung aber später zu anderen Anlässen wieder demonstriert: gegen Benzinpreis- und Steuererhöhungen, gegen den Versuch, die Einfuhrzölle für japanische Autos zu erhöhen, und schließlich für den Toyota-Fahrer Oleg Schtscherbinskij, der im Februar zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde: Er war mit einer Dienstlimousine zusammengestoßen, in der der Gouverneur der Altai-Region saß – und der bei dem Unfall starb.

Der Artikel beschreibt, wie sich Bürgergesellschaft von unten, als Gegenmacht zum Staat, ohne hehre Moralansprüche, formieren kann. „Als Chodorkowskij verurteilt wurde, gab es keine großen Proteste“, zitiert Bogomolow den Verkehrsexperten Michail Blinkin. „Aber als Schtscherbinskij ins Gefängnis kam, drückten zehntausende Bürger Russlands offen ihr Unverständnis aus. Denn an Schtscherbinskijs Stelle könnte jeder sein, was man über Chodorkowskij nicht sagen kann.“

Aber auch Ogonjok bietet den Helden der neuen Bewegung ausreichend Gelegenheit, klar zu stellen, dass sie bei aller Zivilcourage nicht gegen das Regime Putin revoltieren wollen. Einerseits habe man bei den Protesten gegen das geplante Verbot der Fahrzeuge mit Lenkrad rechts bewusst orangene Bänder an die Autoantennen gebunden, um der Staatsmacht Entschlossenheit zu demonstrieren. „Aber wir wollen nicht, dass uns irgendjemand ausnutzt“, erklärt andererseits Wjatscheslaw Lysakow, der Führer der „Wahlfreiheit“ dem Journalisten und distanziert sich von anderen Oppositionsbewegungen. „Je mehr Blut oder wenigstens blaue Flecken es bei einer Demonstration gibt, desto höhere Stipendien bekommen sie danach.“ NGOs als vom Westen bezahlte Provokateure, ein typisches Argument des Kremls. Aber Lysakows Verein sammelt weiter Geld für Schtscherbinskijs Berufungsanwälte. „Das Lenkrad schafft Persönlichkeit“, titelt Ogonjok. Jedenfalls scheitert die totale staatsverordnete Harmonie eher an 20 Millionen Autofahrern als an der Diskutierfreude der russischen Journalisten.

STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2006, S. 126 - 129

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