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01. Juni 2005

Staaten bauen mit Lawrence von Arabien

Die Erfahrungen des britischen Offiziers sind gültiger denn je

Ob Kosovo, Bosnien oder Irak: Erfolge beim Aufbau gescheiterter Staaten sind nicht zu verzeichnen. Zu wenig nimmt der Westen Rücksicht auf lokale Gegebenheiten. Dabei existiert ein hervorragendes Regelbuch für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens: Lawrence von Arabiens „Siebenundzwanzig Artikel“. Empfohlen werden profunde Kenntnisse der lokalen Kulturen und ein gerüttelt Maß Bescheidenheit.

In Washington schätzt man es nicht, sich allzu weit vom allgemeinen Gedankengut zu entfernen, denn zu sehr fürchtet man, außerhalb des politischen und intellektuellen Mainstreams zu landen. In seltenen Augenblicken jedoch blitzt das kristallklare Licht einer Erkenntnis aus dem Grau eines allgemeinen Meinungsbreis hervor.

Im vergangenen Jahr durfte ich einen solchen Augenblick erleben. Man hatte mich gebeten, im Rahmen einer Studiengruppe Empfehlungen zu sicherheitspolitischen Aspekten beim Wiederaufbau gescheiterter Staaten zu entwickeln. Unser Seminar wurde mit dem Vortrag einer renommierten Denkfabrik eröffnet, die ein beträchtliches Budget für eine Studie über amerikanische Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen in Somalia, Haiti, Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan und natürlich im Irak aufgewendet hatte. Die Verfasser der Studie kamen zu dem Schluss, dass das Kosovo das beste Beispiel für den gelungenen Aufbau demokratischer Institutionen in der Ära nach dem Kalten Krieg sei. Die auf dem Podium versammelte Prominenz nickte zustimmend. Dann ging man zufrieden mit sich selbst zum Mittagessen. Nicht ein einziges kritisches Wort war zu hören über das Kosovo, dieses angebliche Vorzeigeprojekt, wo unsere „Verbündeten“, die Kosovo-Albaner, gerade eben den Spieß umgedreht hatten und eine Politik der ethnischen Säuberung gegen die Kosovo-Serben betrieben. Niemand hielt es für angebracht, diese Tatsache auch nur zu erwähnen. Oder sich mit der wesentlichen Frage und zugleich Ursache der Kosovo-Krise zu beschäftigen: nämlich wie Staatenbildung in einem Gebiet aussehen sollte, auf das sowohl Albaner wie Serben Anspruch erheben.

Ich begann, über Amerikas Erfolge beim state building im harten Licht der Realitäten nachzudenken. Somalia versank im Chaos, nachdem Kämpfe mit einem der schlimmsten Kriegsherren dieser Region ausgebrochen waren und unsere Truppen daraufhin das Land verließen. In Haiti setzten wir mit Jean-Bertrand Aristide einen Präsidenten wieder in Amt und Würden, der durch einen Militärputsch vertrieben worden war. Aristide gelang es nicht, auch nur die schlimmsten Probleme Haitis anzupacken. Obendrein entwickelte er selbst autoritäre Tendenzen, weshalb er von Neuem ins Exil verbannt wurde. Haiti bleibt eines der ärmsten Länder der Welt.

Würden in Bosnien morgen freie und faire Wahlen stattfinden, dürften sich große Mehrheiten der bosnischen Serben und Kroaten für eine Abspaltung von ihrem Land entscheiden. Im Kosovo ähnelt der Westen dem kleinen Jungen aus Hans Christian Andersens Märchen, der ein Loch im Deich mit einem Finger zuhält. Weder können wir die politische Situation dort ändern, denn das könnte erneut zu regionaler Instabilität führen. Noch können wir den Finger aus dem Deich ziehen, denn dann würde das Land wieder von einer Welle ethnischer Gewalt überflutet. Der Einflussbereich des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai reicht nach zwei Wahlen immerhin über die Hauptstadt Kabul hinaus, aber noch lange nicht bis an die Grenzen seines Landes.

Staatenbildung muss auf einem klaren intellektuellen Fundament beruhen. Dass wir in der Ära nach dem Kalten Krieg solche Misserfolge verzeichnen, ist einem intellektuellen Bankrott geschuldet, auf dem leider all unsere Bemühungen beruhen. Ändern wir unsere Denkweise nicht, sind all unsere Versuche des state building zum Scheitern verurteilt.

Vorwärts in die Vergangenheit

Offensichtlich müssen wir über andere Ansätze nachdenken. Blicken wir auf den Anfang des 20. Jahrhunderts und einen jungen Offizier der britischen Armee zurück, der irgendwo in der Arabischen Wüste hastig ein paar Notizen aufs Papier kritzelte.

Im Alter von nur 29 Jahren eroberte Thomas E. Lawrence Akaba. Ein Jahr später stürmte er Damaskus. Zusammen mit Emir Feisal wurde er als Führer der arabischen Revolte gegen die osmanischen Herrscher während des Ersten Weltkriegs berühmt.

Über Lawrence von Arabiens militärische Erfolge kann es keine Zweifel geben. Während des Krieges banden unter seinem Kommando nur 3000 arabische Aufständische eine  Truppe von 50 000 türkischen Soldaten. Weitere 150 000 türkische Soldaten waren vollauf mit dem hoffnungslosen Versuch beschäftigt, die arabische Revolte niederzuschlagen, so dass nur noch 50 000 Soldaten für die entscheidende Auseinandersetzung mit den Truppen des britischen Generals Allenby übrig blieben. Ohne Unterstützung der britischen Armee hätten Feisals Männer kaum einen Sieg erringen können, stellt der britische Historiker Basil Liddell-Hart fest. Doch ohne Lawrence hätten auch die Briten keinen Sieg über die türkischen Truppen erringen können.

Lawrence erwarb seine Einsichten nicht in der Abgeschiedenheit des akademischen Lebens, sondern aufgrund seiner täglichen Erfahrungen während der Revolte. Ein profundes Wissen über die Kultur der Menschen, mit denen er zusammenarbeitete, empfand er als unabdingbar für den Erfolg. Die Einstellung zu seiner eigenen Rolle als Förderer der arabischen Revolte entsprach im Grunde der eines Ethnologen. Die lokale Kultur und die politischen Entscheidungen, die aus ihr resultierten, waren für ihn von ungeheurer Wichtigkeit. Mit Erstaunen stellte er zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit Feisal fest, dass Großbritannien keinerlei Anstrengungen unternommen hatte, die Bedingungen vor Ort zu studieren und sich darauf einzustellen.

Je länger Lawrence mit den arabischen Rebellen zusammenarbeitete, desto mehr fiel ihm auf, wie sich seine Arbeitsweise in Arabien von der üblichen Politik unterschied. Seinem Biographen Liddel-Hart erzählte er, dass er während des Krieges erst eine Entscheidung traf, wenn er jeden Faktor genau studiert hatte. Lawrence hätte im Schlaf über Geographie, Stammesstrukturen, Religion, soziale Verhaltensweisen, Sprachen oder selbst die lokale Esskultur Auskunft geben können. Sein Ruhm in der arabischen Bevölkerung basierte gewiss auf seinen militärischen Fähigkeiten, aber auch auf seinen beeindruckenden Kenntnissen der lokalen Kultur. Die damit verbundenen psychologischen und politischen Vorteile waren enorm und gehören zu den größten Errungenschaften des britischen Offiziers. Lawrence Bemühungen um ein tiefes Verständnis der Gesellschaft, mit der er zusammenarbeitete, stehen im krassen Gegensatz zu unseren gescheiterten Versuchen, nichtwestlichen Gesellschaften westliche Werte mit Hilfe eines Einheitsmodells aufzwingen zu wollen.

Profunde Kenntnisse erlaubten es dem britischen Offizier, scharfsichtig die wesentlichen Bausteine der politischen Kultur seiner Umgebung zu erkennen. Und nur, weil er mit diesen Bausteinen arbeitete, konnte er auch auf Erfolg hoffen. Er hatte begriffen, welch ungeheure Bedeutung Clans in der arabischen politischen Kultur einnehmen. Die Idee der politischen Loyalität und Legitimität ist im arabischen Raum an die Familie, den Stamm oder das Dorf gebunden. Für westliche Gesellschaften sind kollektive, nationale Loyalitäten wichtiger als lokale oder persönliche. Im Orient hingegen traut man Personen mehr als Institutionen.

Als die arabische Revolte an Dynamik gewann und sich auch nach Syrien ausbreitete, verstand Lawrence sehr genau, dass dieser „Lokalismus“ in Arabien die wichtigste Ausdrucksweise des politischen Willens blieb, wobei keine Einheit größer war als das Dorf und keine soziale Gruppe komplexer als der Clan. Für Lawrences Planung war diese Erkenntnis entscheidend, denn nur so konnte das Verfahren, mit dem er und Feisal verschiedene und einander nicht wohlgesonnene Clans zum Sturm auf Akaba zusammengeschmiedet hatten, auch in einem neuen Kontext wieder angewandt werden – zum Beispiel in einer weiteren Allianz syrischer Stämme, die für die Eroberung von Damaskus notwendig war.

Dass Lawrence einen völlig anderen Ansatz, nämlich die intensive Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung vorzog, beruht auf guten Gründen. Er hatte aus eigener Erfahrung miterlebt, wie ineffizient es ist, der arabischen Bevölkerung gegen-über die Haltung des Befehlshabers einzunehmen. Als er Feisal zum ersten Mal traf, war die Revolte abgeflaut. Der Sturm auf Medina war gescheitert, und die Briten fragten sich ernsthaft, ob sich eine Unterstützung Feisals  noch lohnte. Offensichtlich funktionierte ein Modell nicht, in dem die Araber nur als schlecht ausgestattete Hilfstruppen der Briten dienten.

In seinem Versuch, ein Staatswesen von Grund auf aufzubauen, vergaß Lawrence niemals, dass nicht er, sondern Feisal und dessen Scharifen die ausschlaggebende Rolle spielten. Es ist ihm hoch anzurechen, dass er niemals von dieser Haltung abwich, selbst wenn sie zuweilen einige Frustrationen mit sich brachte. Es war Feisals Idee, dass sein Volk seine Freiheit durch eigene Anstrengungen erringen musste. Lawrences Rolle war die eines Förderers, aber nicht des Protagonisten in diesem Kampf. Die Revolte war  erfolgreich, weil sie von einem respektierten lokalen Führer, nämlich Feisal, und nicht von einem britischen Offizier geführt wurde.

Nur so konnte die lokale Bevölkerung zum Herrn über ihr eigenes Schicksal werden. Nach Lawrences Ansicht zählten am meisten jene Errungenschaften der Revolte, die die Araber ohne Hilfe der Briten erzielten. Wesentlich war nicht, wie viele britische Waffen man den arabischen Aufständischen für ihren Unabhängigkeitskampf gegen die Briten verschaffen konnte, ob britische Militärexperten den Arabern moderne Kampftechniken beibrachten oder welche Bedeutung die Erfolge auf einem Nebenschauplatz im Großen Krieg für London haben mochten. Entscheidend war, dass die Araber selbst politische Ziele formulierten und durchsetzten.

Diese Philosophie schlug sich in den militärischen Strategien der Aufständischen nieder. Anstatt auf eine moderne, von den Briten bevorzugte Art der Kriegsführung zurückzugreifen, konnte Lawrence Feisal davon überzeugen, die in der arabischen Welt seit Jahrhunderten angewandte Guerillataktik zu nutzen. Mehrere Faktoren sprachen für diesen Vorschlag. Erstens baute er auf den Vorteilen auf, die der lokalen Bevölkerung zur Verfügung standen. Die Beduinen konnten mit ihren Kamelen in der Wüste sehr viel schneller manövrieren als die unbeweglichen, in befestigten Lagern stationierten türkischen Truppen. Zweitens schlug Lawrence vor, die Hedschas-Bahn und damit die Versorgungslinie der Türken zu zerstören. Die Bahnlinie war die einzige Verbindung zwischen den isolierten türkischen Garnisonen und dem Rest des zusammenbrechenden Osmanischen Reiches.

Der Erfolg dieser brillanten Strategie war wesentlich vom guten Willen der lokalen Bevölkerung abhängig, was Lawrence noch mehr von der unbedingten Notwendigkeit überzeugte, sie zum Akteur ihres eigenen Schicksals zu machen. Unabhängigkeit kann man nicht verleihen. Man muss sie erringen. Lawrences Genie lag in dieser wesentlichen Erkenntnis: Nur die Tatsache, dass die Araber ihren Sieg in eigener Anstrengung errungen hatten, würde das neue Reich Feisals zusammenhalten können.

Handbuch für die Praxis

Ein Memorandum vom August 1917 an britische Offiziere, die mit Feisals Legionen Dienst taten, und ein im September 1920 anonym für die britische Zeitschrift Round Table verfasster Artikel zeigen den dramatischen Bruch, den Lawrence mit der üblichen und in weiten Teilen bis heute praktizierten Art des state building vollzog. Wir sollten seine Strategie von neuem entdecken, denn sie bietet uns einen wesentlich besseren Ansatz für diese hoch komplexe Aufgabe als unsere jetzigen Denkmodelle.

Die im August 1917 während der Hochphase des arabischen Unabhängigkeitskriegs gegen die Türken entstandenen „Siebenundzwanzig Artikel“ stellen ein für den militärischen Geheimdienst verfasstes Handbuch über den alltäglichen Umgang mit den arabischen Alliierten dar, das sich vor allem an politische Offiziere richtete, die keinerlei Erfahrung im Umgang mit der arabischen Bevölkerung besaßen. Die „Siebenundzwanzig Artikel“ sind noch immer ein beeindruckendes Zeugnis, weil Lawrence gelang, was heute von Politikern allzu oft vernachlässigt wird. Nach dem Vorbild des britischen Politikers Edmund Burke begründete er seine politische Theorie auf dem festen Boden alltäg-licher politischer Erfahrungen. Die Theorie entsprang der Praxis, nicht umgekehrt.

Für Lawrence bedeutete dies, jeglicher Versuchung zu widerstehen, die arabische Kultur durch die Übertragung britischer Militärrichtlinien zu „modernisieren“. Er hatte die entscheidende operative Tatsache im Umgang mit sich entwickelnden Gesellschaften begriffen. Legitimität folgt aus der Anerkennung der kulturellen Normen, und nicht, indem man westliche Muster überträgt, die als Bedrohung der eigenen Existenzfähigkeit empfunden werden können. Lawrence wollte die lokale Kultur und Geschichte, die politische Kultur, Soziologie, Ethnologie, wirtschaftliche Situation und Psychologie einbeziehen – und nicht all diesen Faktoren zuwider arbeiten, sei es aus wohlmeinendem Gestaltungswillen oder aufgrund schlichter Ignoranz. „Trage einen Scharif wie eine Fahne vor dir her und halte dich selbst im Hintergrund“, schrieb er in seinem elften Artikel. Schließlich besaß der Scharif, und nicht der britische Offizier, die notwendige Legitimation der lokalen Bevölkerung. Um seine Bemühungen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit erfolgreich zu gestalten, war es von höchster Wichtigkeit, dass sie selbst die Befehle erteilten, mit der Taktik übereinstimmten und gemeinsame Bestrebungen unterstützten. Lawrences Ansichten basierten nicht auf der romantischen Verklärung einer unverdorbenen, urtümlichen Lebensweise, die dem angeblich dekadenten Westen vorzuziehen sei. Er sah darin die einzige Möglichkeit, positive Ergebnisse zu erzielen.

Dieser Ansatz basierte auf einigen einfachen, aber grundlegenden Prinzipien: Westliche Außenseiter müssten sich für den Umgang mit anderen Gesellschaften eine profunde Kenntnis dieser Kulturen aneignen. Denn Erfolge seien nur zu erzielen, wenn  man eine indigene Bevölkerung in ihrem Wesen begreift und anerkennt und nicht etwa versucht, sie erziehen zu wollen. „Erfahre soviel wie möglich über deine Aschraf und Bedu (Namen arabischer Stämme). Lerne ihre Familien, Sippen und Titel, Freunde und Feinde, ihre Brunnen, Hügel und Straßen kennen“, schreibt Lawrence im zweiten Artikel. Weiter solle sich der westliche Außenseiter auf eine Position des Beraters oder Förderers beschränken, aber niemals selbst die Führung übernehmen. „Auch wenn es schwer sein mag, die Beduinen zu etwas zu bewegen, so ist es doch leicht, sie zu führen, wenn man denn über die notwendige Geduld verfügt. Je weniger deutlich man interveniert, desto eher kann man auch Einfluss ausüben“, argumentiert er in Artikel 14. Am wichtigsten aber sei es, sich nicht die Position eines Richters anzumaßen. „Die ideale Position für den Außenseiter ist es, präsent zu sein und doch nicht beachtet zu werden … Um deine Arbeit erledigen zu können, musst du über Eifersüchteleien stehen und du verlierst Ansehen, wenn du mit einem Stamm oder einer Sippe und ihren unvermeidlichen Fehden in Verbindung gebracht wirst“, schärft er uns Westlern in Artikel 8 ein. Ich bezweifle, dass die  Befürworter des ehemaligen irakischen Übergangspräsidenten Achmed Chalabi im Irak jemals diese Zeilen gelesen haben.

In Artikel 15 empfiehlt Lawrence: „Es ist der Krieg der Araber und deine Aufgabe ist es, ihnen zu helfen, und nicht den Krieg für sie zu gewinnen.“ Der Erfolg hing letztendlich davon ab, die Araber eigenverantwortlich für ihr Schicksal zu machen. Denn wie erfolgreich state building tatsächlich ist, entscheidet sich erst, wenn die Förderer des Unternehmens wieder abgezogen sind.

Im Jahr 1920 übernahmen jedoch französische Truppen die Verwaltung von Damaskus und drängten die arabischen Aufständischen arrogant beiseite. Damit zerstörten sie nicht nur Feisals Traum von der Gründung eines geeinten arabischen Staates. Auch Lawrences Hoffnung auf eine neue westliche Strategie im Umgang mit sich entwickelnden Gesellschaften wurde mit diesem Akt kolonialen Gebarens begraben. Diese Tragödie sollte bis heute Nachwirkungen zeigen.

Lehren für den Irak

Um die gegenwärtigen Erfahrungen der Vereinigten Staaten beim Aufbau eines demokratischen Staates im Irak angemessen beurteilen zu können, sollten wir sie anhand der wichtigsten Grundsätze in Lawrences Philosophie überprüfen.

Eine genaue Analyse der wesentlichen politischen Elemente in einem gescheiterten Staat ist von entscheidender Bedeutung. Im Fall des Iraks sind diese Elemente – die Schiiten mit 60 Prozent der Bevölkerung, die ehemals herrschenden Sunniten (20 Prozent) und die Kurden (ebenfalls etwa 20 Prozent) – sowohl ethnisch wie religiös geprägt. Der Versuch, die Gegebenheiten zu ignorieren und allgemein von den „Irakis“ zu sprechen anstatt auf die genuinen politischen Einheiten zurückzugreifen, erwies sich als fatal. Angesichts der bedrückenden Realitäten legte man diesen Ansatz dann auch ad acta.

Gegen die wesentlichen Elemente der Geschichte zu arbeiten, muss zwangsläufig zum Scheitern des state building führen. Der Versuch, einem nichtwestlichen, gescheiterten Staat westliche wirtschaftliche, soziale, soziologische und historische Standards aufzuzwingen und dessen eigene, einzigartige Kultur und Geschichte zu missachten, kann nur Unheil hervorbringen. Mit ihren anfänglichen Bemühungen, die Rolle des Islams im Irak zu beschränken, gelang es den USA lediglich, sich Groß-Ayatollah Sistani, den Hauptrepräsentanten der Schiiten, zum Feind zu machen. Nur zögerlich erkannte Washington Sistani als politische Führungspersönlichkeit an, die die amerikanischen Ziele im Irak im Wesentlichen teilt. Im Gegensatz zum iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini verfolgte Sistani eine Strategie der Gewaltfreiheit.

Auf Betreiben schiitischer Kräfte wurde der Islam zu einem wichtigen Element der provisorischen irakischen Verfassung, mit dem Hinweis, er sei „die wesentliche, jedoch nicht die alleinige Gesetzesquelle“. Rückblickend ist das, verbunden mit einer generösen „Bill of Rights“, das beste politische Ergebnis, das die USA erzielen konnten. Mit den anfänglichen, illusorischen Hoffnungen auf die Trennung von Staat und Religion nach westlichem Vorbild hatte man Sistani zunächst verärgert. Inzwischen gehört er zu einem der loyalsten Bündnispartner der USA im Irak.

In jedem erfolgreichen Prozess der Staatenbildung müssen lokale Eliten zu Akteuren für deren eigene Interessen werden. Nachdem der Chef des irakischen Verwaltungsrats Paul Bremer unbedacht die irakischen Sicherheitskräfte aufgelöst hatte, mussten die von den USA geführten Koalitionstruppen für die Sicherheit des Landes sorgen, anstatt diese Aufgabe mit irakischen Kräften zu teilen.

Dies war vermutlich der größte Fehler der Vereinigten Staaten, denn es bedeutete, dass der Westen, und nicht so sehr die Iraker selbst, die Führung beim Wiederaufbau des Landes übernommen hatte. Damit lief die Bush-Regierung direkt in die Falle mangelnder politischer Legitimität. Iraker, die bereit waren, mit den Amerikanern zu kooperieren, wurden nicht etwa als aufrechte Patrioten geschätzt, die sich für den Aufbau ihres Landes engagieren, sondern liefen Gefahr, als Kollaborateure gebrandmarkt zu werden. Erst mit der Wahl im Januar 2005 und größeren Anstrengungen, die irakischen Sicherheitskräfte möglichst schnell wieder aufzubauen, konnte man diesen groben Fehler einigermaßen korrigieren.

Kein Einheitsmuster

Man sollte eine standardisierte Herangehensweise vermeiden. State buildung wurde in den neunziger Jahren nach dem immer gleichen Schema praktiziert. Ob im Fall Haitis, Somalias, Bosniens, des Kosovo, Afghanistans oder des Iraks – der Westen versuchte in jedem dieser Fälle, die zentralisierte Kontrolle über einen gescheiterten Staat wieder aufzubauen, ohne zuerst die Gründe zu analysieren, die überhaupt zum Scheitern des Staatswesens geführt hatten. Es ist wenig verwunderlich, dass solch eine fehlerhafte Analyse immer wieder in kompletten Fehlschlägen endete. Wenn es überhaupt eine allgemeingültige Regel gibt, dann nur, dass ein von unten nach oben organisierter, dezentraler Aufbau politischer Strukturen (gleich ob in föderaler oder konföderaler Form) beim Wiederaufbau vor allem in jenen Ländern erfolgreich sein sollte, die aufgrund zentrifugaler Kräfte im Chaos versanken. Die Neokonservativen, die sich auf Chalabi oder Allawi als starke Führer im Irak verließen, verkannten den entscheidenden Punkt: Das Auseinanderfallen des Staates ist ja gerade ein Indiz für die Notwendigkeit einer stärker dezentralistischen Struktur, soll das neue Regime die amerikanische Besatzung überstehen.

Für den Prozess der Staatenbildung ist ein gewisser Grad an Bescheidenheit von höchster Bedeutung. Anstatt auf Flugzeugträgern Reden zu halten, in denen man das „Ende des Krieges“ verkündet, sollten sich westliche Politiker in ihren Bemühungen um den erfolgreichen Aufbau eines Staatswesens lieber einer weniger luftigen Rhetorik bedienen. Indem die Bush-Regierung so tat, als müssten die USA nur ein paar Zutaten zusammenrühren, um mühelos einen irakischen George Washington zu backen, produzierte sie Erwartungen, an denen sie nun gemessen wird, die sie aber gar nicht erfüllen kann. Ziel sollte immer sein, eine Gesellschaft in einem besseren Zustand zurückzulassen als vor dem Beginn des Unternehmens state building. Erreichbare und bescheidene Ziele würden mehr als alles andere zur Verbesserung des beschädigten Rufes von state building beitragen.

Vorsicht vor der imperialen Falle

Wenn wir die Bedeutung lokal begründeter Legitimität als Prämisse für den Aufbau staatlicher Institutionen zugrunde legen, sollten die westlichen Mächte auch genau wissen, wann sie lokalen Eliten die Zügel überlassen müssen. Dies ist die Nagelprobe für den Erfolg von Staatenbildung. Verlassen die westlichen Mächte das Land, muss die neue politische Einheit zur Selbstregierung fähig sein. Ziehen sie zu früh ab, kann das zum Zusammenbruch des State-building-Prozesses führen. Bleibt man hingegen zu lange, wären westliche Truppen dazu verdammt, in einem feindlichen Klima zu verharren, und die Bevölkerung wird ihre Regierung als Handlanger des Westens betrachten.

Das richtige Timing ist also von entscheidender Bedeutung und im Fall des Iraks die größte Herausforderung für die USA. Sollten sie das Land verlassen, bevor irakische Truppen das neue Regime unterstützen und aufrechterhalten können oder bevor eine verlässliche Regierungsbildung abgeschlossen ist, könnte dies in einem Desaster enden. Zögern sie den Abzug ihrer Truppen zu lange hinaus, wird der Irak erst recht zu einem Anziehungspunkt für Al-Qaida  werden, die ihre Anhänger mit dem schrillen Schlachtruf  des „Kampfes gegen die imperialistischen Kreuzritter“ rekrutiert.

Ein westliches Land sollte sich nur dann mit dem schwierigen Prozess der Staatenbildung befassen, wenn grundlegende nationale Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stehen. Wir sollten nur dann intervenieren, wenn grundlegende amerikanische Interessen auf dem Spiel stehen. Während des Ersten Weltkriegs kam Lawrence zu der Überzeugung, dass die Niederlage der Türkei nur durch die Förderung der arabischen Revolte möglich sei, und dass diese Niederlage dem bedrängten Großbritannien außerordentlich dienlich wäre. Amerikanische Bemühungen um die Staatenbildung sollten in ähnlichen Dimensionen diskutiert werden.

Die US-Bemühungen beim state building während der neunziger Jahre offenbaren eine äußerst diffuse Definition amerikanischer Interessen. Für die Clinton-Regierung gab es offensichtlich keinen gescheiterten Staat, gleich ob Haiti, Somalia, das Kosovo oder Bosnien, in dem eine Intervention angeblich nicht im Interesse der USA gelegen hätte. Ebenso lächerlich sind die Bemühungen des Präsidenten George W. Bush, jegliche Form der Tyrannei überall auf der Welt beseitigen zu wollen, was ebenfalls – und nicht besonders einleuchtend – als US-Interesse ausgegeben wird.

Wir sollten in Zukunft genau darüber Rechenschaft ablegen, wann, wo und warum wir in den Prozess des state building eingreifen wollen und unsere Interessen akkurat definieren. Das sollte die USA davor bewahren, sich mit diesen Anstrengungen zu überfordern, sich unbeliebt zu machen und sich in Aktivitäten zu verzetteln, die uns wenig bringen und die Wettbewerbsvorteile verspielen, mit deren Hilfe die USA überhaupt erst zur westlichen Vormacht werden konnten. Ein Nein ist zuweilen die richtige Antwort. Die USA, so John Quincy Adams, „wünschen sich Freiheit für alle. Aber garantieren können sie die Freiheit nur für sich selbst.“

Fast alle Probleme der Staatenbildung sind politischer und nicht militärischer Natur. Militärische Probleme können mit politischer Legitimität gelöst werden. Während des Ersten Weltkriegs erkannte Lawrence ganz richtig, dass er nur auf einen Erfolg zählen konnte, wenn sich die Bevölkerung des Hedschas hinter den arabischen Guerillakampf stellte und deshalb Feisals Truppen nicht an die Türken auslieferte. Desgleichen wird der Aufruhr im Irak abflauen, wenn die Iraker zur Überzeugung gelangen, dass die Aufständischen in erster Linie ihrem Land und ihrer Regierung großen Schaden zufügen – und nicht den amerikanischen Besatzern. Das Problem ist im Wesentlichen politischer und psychologischer Natur. Wenn die Iraker (von ihren lokalen Eliten) überzeugt werden können, dass die Aufstände den neuen irakischen Staat zugrunde richten, dürften den Geheim- und Sicherheitsdiensten sehr bald verlässliche Informationen über die Aufständischen zufließen. Ohne lokale politische Legitimität hingegen kann keine militärische Anstrengung das Grundproblem lösen.

Das sind die Grundsätze, die Lawrence etablierte. Sie sind der Maßstab, den wir anlegen müssen, um zu beurteilen, ob künftige Versuche des state building im Irak zum Erfolg führen oder scheitern werden.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 98 - 105.

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