Spürsinn für Relevanzen
der Schlüssel der Parteien zu den Wählerstimmen heißt Vertrauen
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Für die demokratische Willensbildung sind Parteien unverzichtbar, für den Wahlakt unersetzbar, für die Regierungspraxis essentiell. Volksparteien sind die fortschrittlichste Organisationsform politischer Willensbildung in einer Demokratie. Die Systemleistung der Parteien liegt darin, dass sie mehrheitlich akzeptable Konzepte für das Gemeinwohl erarbeiten und verwirklichen wollen, die über die Vertretung spezifischer ökonomischer, sozialer und ökologischer Interessen hinausgehen. So weit – so gut. Doch Theorie und Empirie passen schon lange nicht mehr zueinander. Die Parteien wissen das. Sie agieren dennoch weitgehend wie autistische Subsysteme. Medial und inszeniert leben sie telegene Allmachtsansprüche aus, die sie aber gegenüber den Bürgern nicht annähernd einlösen können.
Auf kommunaler Ebene hingegen – abseits der Medienagenda – haben die Parteien vielfach resigniert, wenn ihre Präsenz überhaupt noch vor Ort erkennbar ist. Respekt gegenüber dem politischen Personal existiert nur noch in Ausnahmefällen. Zutreffend sagte der Kanzleramtschef Thomas de Maizière – befragt nach potenziellen Reformmaßnahmen – dass es zunächst vor jeder Reformidee darum ginge, um „Vertrauen für die Politik zu werben“. Ohne Vertrauen in die Sphären der Politik, in den politischen Raum, sind jegliche Veränderungschancen gering. Parteien erscheinen unter solchen Voraussetzungen als völlig nutzlos.
Was ist aber nötig, damit politische Parteien eine Aura des Nutzens zurückerwerben? Die Reformüberlegungen der Parteien tendieren in drei Richtungen: plebiszitär (Alle Macht dem Volke!), basisdemokratisch (Alle Macht den Mitgliedern!), elitär (Alle Macht den Funktionären!). Doch vor den Richtungsentscheidungen für Umstrukturierungen der Willens- und Entscheidungsbildung sollte etwas anderes betont werden: Am Anfang steht der Nutzen für die Bürger im vorpolitischen Raum. Graswurzelparteien sind, wie Selbsthilfeorganisationen, immer problemlösend und hilfsbereit vor Ort. Die Parteien sollten nicht auf Gäste warten, sondern sich selbst einbringen, wo immer aktueller Bedarf besteht. Gerade angesichts ideologischer Unbekümmertheit geht eine Faszination vom wichtigen Ansprechpartner, einem Problemlotsen vor Ort aus, völlig unabhängig von parteipolitischen Zuordnungen.
Solche geduldigen Missionare beeindrucken durch den Rückzug auf das Wesentliche, durch eine Programmatik des Sichzurücknehmens, der Reduktion. Die Kümmerer vor Ort sind Problemlöser pur. Wenn Parteien wieder diesen Nutzen erreichen, steigt die Attraktivität. Mit der Lösung von Alltagsproblemen wächst automatisch das Reservoir an Wählerstimmen. Doch wo findet man solche Multitalente? Wer sich umschaut, hat solche Bürger durchaus vor Augen. Die Sozialkapitalforschung kann die Größenordnungen vermessen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen bauen auf sie. Die Faszination solcher mitreißenden Multitalente lebt aus der Parteiferne. Doch gerade deshalb könnten sich die Parteien darum bemühen, in solchen Netzwerken mitzumachen, um Vertrauen von unten wieder aufzubauen. Bis daraus eine Fanmeile für die Parteien wird, ist noch ein langer Weg. Das Erschließen neuer Netzwerke bedeutet die Öffnung der Parteien für neue Ideen und Unterstützergruppen und verspricht neues Potenzial für Mitgliederwerbung. Erhalten die Mitglieder gleichzeitig erweiterte Mitbestimmungsrechte, können sie durch die erhöhte Wirksamkeit inhaltlicher oder formaler Partizipation zu stärkerer Mitarbeit motiviert werden.
Parteibindung und Parteiengagement haben eine entscheidende Vorbedingung: Vertrauen. Dies erwerben Parteieliten durch die Formulierung von umfassenden Sinnbotschaften. Wenn Parteibindungen nicht mehr durch schicht- und milieubedingte Sozialisationsprozesse entstehen, müssen sie durch an Wertvorstellungen und Kausalannahmen orientierte Politikangebote erarbeitet werden. Sinnbotschaften sind der politische Kompass, der Mitglieder und Wähler durch den Dschungel der Tagespolitik führt. Orientierung bedeutet dabei auch, dass Wähler und Mitglieder wissen, wo sie die Parteien im politischen Wettbewerb verorten können. Parteibindungen setzen also ein Mindestmaß an unverwechselbarem Profil voraus. Daher das augenblickliche Bemühen der Volksparteien, neue Grundsatzprogramme zu entwickeln. Woaber eine wahlsoziologisch diffuse „Mitte“ zum allseits umworbenen heiligen Gral des Parteienwettbewerbs mutiert, werden Parteidifferenzen zwangsläufig unsichtbar. Parteibindungen können aber nur dann entstehen, wenn Prioritäten und Alternativen sichtbar bleiben. Gerade dem harten Wettstreit, der Dialektik von Mobilisierung und Gegenmobilisierung verdankten die großen Parteien ihre enormen Mitgliederzuwächse. Davon ist besonders in Zeiten der Großen Koalition nichts zu spüren. Inhaltliche Profilierung statt undeutlicher Event-Oberflächlichkeit wäre auch eine Antwort auf die Krise.
Die aktuellen Auseinandersetzungen über Wirtschafts- und Sozialpolitik und die bereits eingeleiteten Reformen bedeuten eine nachhaltige Zäsur für die Struktur sozialer Sicherheit in Deutschland und damit auch für die zukünftige Verteilung von individuellen Chancen und Risiken. Es müssten eigentlich hoch politisierte, polarisierende Zeiten sein, die Parteien für Partizipationshungrige neue Attraktivität verleihen könnten. Doch die Begründungs- und Kommunikationsstrategien der Parteien erschöpfen sich in den Verweisen auf alternativlose Sachzwänge wie die vermeintlichen Imperative der ökonomischen Globalisierung und des demographischen Wandels.
Bei aller wissenschaftlich begründbaren Skepsis gegenüber der Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften durch Politik kann nur ein von den Parteien betontes Primat der Politik auch Attraktivität für Parteien wecken. Warum sollte man sonst mitmachen? Nur wer glaubt, innerhalb einer Partei im Sinne seiner politischen Anliegen Einfluss nehmen zu können, ist für Mitgliederwerbung erreichbar. Dazu ist auch organisatorisch sicherlich eine punktuelle Schwerpunktsetzung zwingend erforderlich. Nicht an jedem Ort kann jede Partei alles anbieten. Wer Marktverluste im Kerngeschäft erleidet, kann nur gegen den Trend wachsen, wenn er seine Stärken anpreist. Warum nicht unterschiedliche Kernkompetenzen in verschiedenen Landesverbänden ausprägen? Riskantes Denken entsteht nicht flächendeckend. Spürsinn für Relevanzen können Parteien nur bieten, wenn Betroffenheit existiert. Was die Zukunftschancen angeht, sind diese Betroffenheiten in Deutschland längst äußerst heterogen ausgeprägt, ohne dass sich dies bislang in Parteiorganisationen niederschlagen würde.
Prof. Dr. Dr. KARL-RUDOLF KORTE, geb. 1958, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und leitet die Forschungsgruppe Regieren. Gerade erschienen ist „Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen seit 1990“, Wiesbaden 2006 (mit M. Florack und T. Grunden).
Internationale Politik 9, September 2006, S. 82‑83