Sprotte und Makrele
Dank Keir Starmer hat Europa bei den Ukraine-Verhandlungen einen Fuß in der Tür. Um noch mehr Führungskraft zu entwickeln, sollte sich London wieder enger an die EU binden.
Der Brüsseler Pakt, das war die Sprotte“, erklärte einmal Großbritanniens erster Nachkriegsaußenminister (1945–1951), der Gewerkschaftsführer und Labour-Politiker Ernest Bevin. Vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges und der Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion schlossen sich im März 1948 das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Benelux-Staaten zu einem Verteidigungsbündnis zusammen. Diesem vorausgegangen war im März 1947 der britisch-französische Vertrag von Dünkirchen, der sich noch nominell gegen ein potenziell wiedererstarkendes Deutschland richtete, doch bereits auf die Gefahr aus Moskau gemünzt war.
Mit dieser Sprotte also, dem „Brüsseler Pakt“, „fing“ Bevin, der Hauptarchitekt der NATO, nach eigenen Worten ein gutes Jahr später die „Makrele“ – die Vereinigten Staaten, die im April 1949 in ein Bündnis kollektiver Verteidigung mit den Westeuropäern eintraten und sich per Artikel 5 des NATO-Vertrags verpflichteten, den Verbündeten beizustehen, sollte einer von ihnen angegriffen werden. Zur Gründung der transatlantischen Allianz gesellten sich Dänemark, Island, Italien, Kanada, Norwegen und Portugal hinzu, weitere Staaten folgten später, darunter die Bundesrepublik Deutschland 1955.
Für die Labour-Regierung von Keir Starmer, die seit Juli 2024 im Amt ist, ist Bevin, der bissige, bulldoggenartige Außenminister, der es zu Beginn des Kalten Krieges furchtlos mit den Sowjets aufnahm, nicht nur Ikone, sondern auch praktisches Vorbild. Außenminister David Lammy machte im September 2024 im UN-Sicherheitsrat mit einer kämpferischen Rede auf sich aufmerksam, in der er Wladimir Putins Russland unter anderem einen „Mafiastaat“ nannte und dem russischen Präsidenten mörderischen Imperialismus vorwarf: „Ich weiß, wovon ich rede. Und ich nenne es beim Namen.“
Aber das Beispiel Bevins wirkt auch, wenn es um den Erhalt des transatlantischen Bündnisses geht. Nach der öffentlichen Brüskierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch US-Präsident Donald Trump und Vizepräsident J.D. Vance im Weißen Haus am 28. Februar war es der britische Premierminister Starmer, der mit diplomatischem Geschick, aber auch mit lobenswertem Mut die für Europa potenziell desaströse Situation fürs Erste rettete.
Schon vorher hatte Starmer Großbritanniens Bereitschaft erklärt, ein wie auch immer geartetes Waffenstillstandsabkommen zwischen der Ukraine und Russland mit einer „reassurance force“ abzusichern, Landstreitkräfte („boots on the ground“) inklusive. Diese Absicht wiederholte er auf der Londoner Lancaster-House-Konferenz am 2. März, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Zuvor hatte Starmer Trump in einem Telefonat die Zusage abgerungen, sich die Pläne für die britisch-französisch geführte Truppe unterbreiten zu lassen – und auch wieder mit Selenskyj zusammenzuarbeiten.
Fuß in der Tür
Starmer geht es dabei um einen amerikanischen „backstop“ – eine US-Garantie, dass die US-Regierung, sollte Russland die Implementierungstruppe angreifen, an ihrer Seite stehen und sie notfalls militärisch absichern werde, gewissermaßen einen Mini-Artikel 5. (Auch das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt, vom Zerfall der Scholz-Regierung lahmgelegt, versuchten Anfang des Jahres, in diese Richtung auf Washington einzuwirken.)
Die europäisch geführte Truppe für die Ukraine ist gewissermaßen eine Mini-Sprotte, mit der Starmer das transatlantische Verhältnis erhalten will. Dieses hat Nachkriegs-Großbritannien geprägt wie sonst kein anderes europäisches Land. Allerdings: Trump hatte schon zuvor gesagt, er werde in dieser Hinsicht „nicht allzu viel anbieten“, und Beobachter wie der amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Wertheim von der Brookings Institution halten das Ganze für ein Missverständnis: Trump wolle schlicht keine solche Zusage geben. Dennoch, auf Trumps vagen „not very much“ baut derzeit die britische Sicherheitspolitik, um die „Makrele“ bei sich und in Sachen künftige europäische Sicherheitsordnung selbst einen Fuß in der Tür zu behalten.
Schon vor dem Brexit hatte Premierminister Cameron das Ambitionsniveau in Sachen britischer Führung heruntergedimmt
Dass Starmer im entscheidenden Moment Führung übernimmt, war nicht unbedingt zu erwarten: Schon bevor sich die britische Außenpolitik ab 2016 im Ringen um den Brexit weitgehend abmeldete, hatte der damalige konservative Premierminister David Cameron das Ambitionsniveau britischer Führung in Europa heruntergedimmt. Beim am Ende desaströsen Versuch Berlins und Paris‘, Russlands Besetzung der Krim und seinen Krieg in der Ostukraine im „Normandie-Format“ mit Kyjiw und Moskau einzuhegen, stand Großbritannien abseits.
Dafür baute es ab 2015 die Joint Expeditionary Force (JEF) mit neun nordischen und baltischen Staaten auf, die seitdem gemeinsam den Ernstfall im Hohen Norden Europas proben, eine Gruppe zunächst gemischter NATO- und EU-Staaten (Finnland und Schweden traten erst nach Putins Angriffskrieg dem nordatlantischen Bündnis bei): ein Vorgehen, das Beispielcharakter hat.
Zudem bildete Großbritannien auch schon vor Putins großangelegter Invasion zwischen 2015 und 2022 über 22 000 ukrainische Soldaten aus („Operation Orbital“) und lieferte vor Kriegsbeginn Panzerfäuste und andere Waffen in entscheidend großer Stückzahl, mit denen in den ersten Kriegsmonaten die Verteidigung der ukrainischen Hauptstadt gelang.
Nicht zuletzt die stets frühe und beherzte Unterstützung der Ukraine hat Großbritannien zurück in eine europäische Führungsrolle gebracht, für die auf dem Papier nicht mehr so viel sprach. Die British Army wurde vor dem Hintergrund der „Global Britain“-Strategie mit ihren Schwerpunkten bei der Royal Navy/Royal Marines sowie der Royal Air Force immer weiter reduziert, von über 100 000 im Jahr 2012 auf zuletzt 75 000 Soldatinnen und Soldaten; mit ihnen ließe sich nun nicht einmal mehr das Wembley-Stadion füllen.
Eine „defence review“, also eine Überprüfung der bisherigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die die Labour-Regierung gestartet hat, läuft noch. Aber die Zeichen stehen schon länger auf Trendwende: Im Februar kündigte Starmer an, die Verteidigungsausgaben bis 2028 von derzeit 2,1 auf 2,5 Prozent des BIP zu steigern und in der nächsten Legislaturperiode (voraussichtlich 2029–2034) 3 Prozent zu erreichen. Dafür soll unter anderem das Entwicklungshilfebudget noch weiter schrumpfen, wenn auch nur „temporär“. (Großbritannien war lange eines der wenigen Länder, die den UN-Richtwert von 0,7 Prozent des BIP erfüllten.) Viel fiskalischen Spielraum hat Großbritannien bei schwachem Wachstum und einer öffentlichen Verschuldung von bereits 96,7 Prozent des BIP nicht.
Ende der Sonderbeziehungen?
Wie jeder andere britische Premierminister nach 1945 hält auch Starmer an der „special relationship“ zu den USA fest; eine Entscheidung zwischen Amerika und Europa hat er stets als „false choice“ beschrieben – eine Frage, die sich gewissermaßen gar nicht stelle. Hinzu kommt: Starmer hofft auch unter Donald Trump auf eine US-Sonderbehandlung, vielleicht gar ein amerikanisch-britisches Freihandelsabkommen (der Heilige Gral der Brexit-Befürworter). Bei den ab dem 2. April wirksam werdenden US-Zöllen wurde Großbritannien dann allerdings nicht ausgenommen. Dabei gilt Trump als „Großbritannien-Fan“ mit Faible für das Königshaus; an der Westküste Schottlands, der Heimat seiner Mutter, besitzt der US-Präsident seit 2014 den Turnberry-Golfplatz.
Doch in der neuen Realität der zweiten Trump-Präsidentschaft werden die Konsequenzen für Europa an Großbritannien nicht vorbeigehen; außenpolitische Kommentatoren wie Simon Tisdall vom Observer fordern deshalb eine „graduelle strategische Entflechtung“ mit Amerika und die konsequente Hinwendung zu einem „reformierten, revitalisierten Europa“.
Größere Schritte in Richtung Brüssel hat die Labour-Regierung allerdings bislang peinlich vermieden: Kein Zurück zu EU-Mitgliedschaft, Binnenmarkt oder Zollunion, versprach Starmer den Wählerinnen und Wählern, wenngleich mittlerweile 55 Prozent von ihnen den Brexit für einen Fehler halten. Starmer möchte einen „ambitionierten Neustart“ mit der EU, aber unter diesen Bedingungen gibt es nur minimale Spielräume. Dabei würde der Wegfall der Handelshemmnisse mit der EU die Chance für den dringend benötigten britischen Wachstumsschub bieten.
Europäische Führung
Es ist wahrscheinlich, dass es die britisch-französisch geführte Ukraine-Truppe, für die es mittlerweile detaillierte, wenn auch variierende und weniger ambitionierte Planungen mit um die 30 potenziellen Beteiligten, darunter Deutschland und auch Nichteuropäer wie Australien, vorerst gar nicht geben wird: Weil Putin keinen Frieden will und es zu keinem Waffenstillstand kommt. Auch könnte sich der amerikanische „backstop“ als Chimäre erweisen – wenngleich Macron bereits davon gesprochen hat, man werde die Truppe einsetzen, selbst wenn nicht alle Partner und Verbündeten dahinterstünden.
Das Angebot europäischer Führung durch die Starmer-Regierung bleibt bestehen, die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten es annehmen. Mit dem deutsch-britischen Trinity-House-Abkommen für eine engere militärische Kooperation wurde Ende 2024 bereits die Grundlage gelegt, um die engen deutsch-französischen (Elysée/Aachener Vertrag) und französisch-britischen Beziehungen (St.-Malo- und Lancaster-House-Vereinbarungen) auf militärischer Ebene zu einem Dreieck auszubauen, das bald um Polen erweitert werden sollte.
Im Zuge von Europas massiver Nachrüstung, die das im März veröffentlichte Weißbuch der EU-Kommission zur europäischen Verteidigung skizziert hat, sollte Brüssel alles tun, um Großbritannien so eng wie möglich einzubinden. Der Weg zu einem Verteidigungspakt zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ist vorgezeichnet und sollte zu einem schnellen Abschluss gebracht werden. Dieser sollte London dann alle Möglichkeiten der Beteiligung eröffnen, nicht zuletzt der gemeinschaftlichen Finanzierung, sei es der 150-Milliarden-Euro-Fonds (SAFE) mit günstigen Krediten, seien es perspektivisch Verteidigungsbonds oder andere Instrumente. Wenn die Makrele eigene Wege geht, muss die Sprotte selbst so groß und stark wie nur möglich werden.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 52-56