Internationale Presse

01. März 2012

Schottlands „little Englander“

Droht dem Vereinigten Königreich nach der Isolierung in der EU der Zerfall?

2014 wird für Schottland wohl ein ereignisreiches Jahr: Die „nation“ (neben England, Wales und Nordirland eine von vier im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland) ist Ausrichter der Leichtathletikwettkämpfe Commonwealth Games, organisiert den Ryder Cup, wo sich alle zwei Jahre die besten Golfer Amerikas und Europas messen – und könnte im Herbst dann ein unabhängiger Staat werden. Denn Alex Salmond, der gewiefte Anführer der Scottish National Party (SNP) und seit 2007 als „Schottischer Erster Minister“ Chef der Regionalregierung von Edinburgh, will 80 Jahre nach der Parteigründung den alten Traum der schottischen Nationalisten wahrmachen: per Volksabstimmung ein unabhängiges Schottland herbeiführen.

Das Datum ist nicht ohne Bedacht gewählt. 2014 jährt sich die Schlacht von Bannockburn zum 700. Mal, in der Schottlands König Robert the Bruce den englischen Monarchen Edward II. 1314 vernichtend schlug – einer der wenigen großen Kämpfe in den sich über Jahrhunderte hinziehenden schottischen Unabhängigkeitskriegen, in denen sich die Schotten so eindeutig behaupten konnten. Seit der Gründung der englisch-schottischen „Union“ von 1707 geht es weniger blutig zu, zumindest jenseits der Fußballplätze. (Dort kam es noch 1977 nach einem schottischen Sieg im Wembley-Stadion zu solch wüster Randale, dass die Fußballverbände Begegnungen seitdem auf einem Minimum halten.)

Salmonds Ankündigung Mitte Januar erwischte die konservativ-liberale Koalitionsregierung von Premierminister David Cameron auf dem falschen Fuß. Denn London war noch damit beschäftigt, sich neu zu sortieren nach dem Fehlschlag beim Brüsseler EU-Gipfel Anfang Dezember, wo sich Cameron, schlecht vorbereitet und nicht ganz auf der Höhe europäischer Politik, mit seinem Insistieren auf Ausnahmeregeln für die Londoner City isoliert fand. Das Ganze war umso erstaunlicher, hatte doch der britische Schatzkanzler George Osborne schon im September 2011 von der „unbarmherzigen Logik einer Währungsunion“ gesprochen, „die von einer Einheitswährung zu größerer fiskalischer Integration“ führe – und damit nicht nur die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels vorweggenommen, sondern mit diesem Aufruf an die Adresse „des Kontinents“, sich stärker zu einen, auch das jahrhundertealte Rational britischer Europapolitik eines „divide and rule“ gewissermaßen auf den Kopf gestellt.

Dass sich nun die gut fünf Millionen Schotten – oder zumindest die schottischen Nationalisten unter ihnen – allen Ernstes vom Vereinigten Königreich (mit insgesamt etwa 62 Millionen Einwohnern) lossagen wollen, traf das Land in einem heiklen Moment. Es hat den an Sparhaushalten und einer zuletzt schrumpfenden Wirtschaft leidenden Briten den Beginn einer Selbstfindungsdebatte beschert, nicht zuletzt den Engländern. Die fühlen sich seit langem gewissermaßen als Verlierer im modernen Großbritannien, wo Schotten, Waliser und Nordiren seit den Tagen von Tony Blairs Labour-Regierung mit mehr oder weniger Autonomie ausgestattet sind und eigene Regionalparlamente wählen, in Westminster aber beispielsweise schottische Abgeordnete über die Höhe englischer Studiengebühren mit abstimmen, während die SNP-geführte Regionalregierung in Edinburgh, die einen „progressiven“ und linken, fast schon sozialromantischen, kostspieligen Kurs fährt, schottische Studenten davon ausgenommen hat (selbst wenn sie in England studieren; englische Studenten an schottischen Universitäten müssen dagegen zahlen).

Camerons versuchter Konter, das Vorhaben des SNP-Chefs sei erstens illegal, denn das Parlament von Westminster hätte da noch ein Wörtchen mitzureden, und zweitens sollte das Referendum doch sofort oder zumindest binnen der nächsten 18 Monate stattfinden, lief dann ins Leere. Salmond verbat sich diese „fast thatcheristischen“ Einmischungen, die Unabhängigkeit Schottlands sei allein schottische Sache; und überhaupt könnte England doch froh sein, wenn es einen „missmutigen Untermieter“ loswerde und dafür einen „guten Nachbarn“ bekäme. Auf die von Salmond konzipierte Volksabstimmungsfrage: „Stimmen Sie zu, dass Schottland ein unabhängiges Land werden sollte?“ antworteten bei einer repräsentativen Umfrage Anfang Februar 37 Prozent der Befragten mit Ja, 42 Prozent mit Nein, und 21 Prozent waren unentschieden. Eine überwältigende Dreiviertelmehrheit war zugleich dagegen, dass ein unabhängiges Schottland den Euro als Währung übernehmen sollte.

Ein Abstand von fünf Prozent zwischen Unabhängigkeitsgegnern und -befürwortern lässt sich in gut zwei Jahren leicht aufholen und umkehren, doch letzterer Umfragebefund deutet an, dass die schottischen Nationalisten womöglich zu spät dran sind. Vor ein paar Jahren noch konnte Salmond mit der Vision eines „nördlichen Bogens des Wohlstands“ wuchern, der sich von Reykjavik über Dublin und Edinburgh bis nach Oslo ziehen sollte – mit einem EU- und Euro-Mitglied Schottland, das sich ebenso progressiv wie integrativ vom ewig europaskeptischen England absetzen würde. Das fällt heutzutage, wo die Euro-Staaten weiterhin um eine Lösung der Schuldenkrise ringen, ungleich schwerer.

Ein Erfolg der Separatisten bei der Volksabstimmung ist dennoch möglich. „Erleben wir bald das Ende Britanniens?“, fragte die konservative Boulevardzeitung Daily Mail (30. Januar 2012) und wartete mit dem Populärhistoriker Dominic Sandbrook auf, der warnte: „Langsam aber sicher kommt die Idee Großbritanniens selbst aus der Mode. Und wenn wir nicht vorsichtig sind, werden wir etwas verlieren, das zutiefst wertvoll ist – wenn das erst einmal zertrümmert ist, lässt es sich nicht wieder zusammensetzen.“ Die Briten empfänden sich als „besondere Gemeinschaft, zusammengewürfelt auf einer kleinen, regendurchtränkten atlantischen Insel, die dennoch stets mutig nach außen schaut, ohne Furcht, sich den Herausforderungen der Welt zu stellen“, schrieb Sandbrook weiter und griff tief in die Mythenkiste: „Als sie zusammenstanden in Waterloo, Omdurman, an der Somme und in Dünkirchen, wussten die Männer Englands, Wales’ und Schottlands, dass sie ein Volk waren, verbunden durch die Bande von Geschichte, Sprache, Werten und Blut. Sie hätten für Alex Salmonds kleingeistigen, kurzsichtigen, engstirnigen Nationalismus keine Zeit gehabt.“ Man dürfte nicht vergessen: Beim Vereinigten Königreich handele es sich schlicht „um die erfolgreichste Partnerschaft der Geschichte“.

Andere wie der frühere Chefredakteur des Skandalblatts The Sun, Kelvin MacKenzie, fanden das Ganze halb so schlimm. Cameron sei doch „verrückt“, bei Salmonds Offerte nicht sogleich einzuschlagen, so McKenzie in der beliebten BBC-Sendung „Question Time“ (13. Januar 2012). Da bei Wahlen zum Westminster-Parlament zuletzt die Labour--Partei immer alle schottischen Wahlkreise gewonnen habe, sei doch dessen konservative Mehrheit in London beim Wegfall der Sitze „auf ewig“ -gesichert.

Die linksliberale Sonntagszeitung The Observer (15. Januar 2012) sah in Salmonds angekündigtem Sezessionsversuch ebenfalls eine Chance: „Je eher eine vernünftige Debatte beginnt, die Beschimpfungen aufhören und ein paar bittere Wahrheiten ausgesprochen werden, desto besser. Die Chance, die Weiterentwicklung des Vereinigten Königreichs zu erörtern, ist durchaus willkommen. Könnte es eine lose Föderation werden, in der Schottland zum Beispiel eine ‚gesicherte Autonomie‘ genießt, unabhängig in allem bis auf die Benennung des Zustands als solchen und abzüglich des Schattens, den die angebliche englische Superiorität wirft?“

Denn eine echte schottische Trennung könnte komplizierter werden als gedacht, beispielsweise in Sachen Verteidigung. Die Vorstellung, man könne die derzeit in Schottland stationierten Verbände einfach aus den britischen Streitkräften herausbrechen „wie ein Stück aus einer Tafel Schokolade“, sei „lachhaft“, erboste sich Verteidigungsminister Phil Hammond in der Tageszeitung The Scotsman (20. Januar 2012). Doch genau das hat die SNP vor. Ungleich heikler ist allerdings die Zukunft der britischen Atomstreitmacht, der auf U-Booten stationierten Trident-Raketen. Aus ökologischen, pragmatischen und Kostengründen gebe es für die aktuellen Standorte Coulport und Faslane keine Alternative, berichtete der linksliberale Guar-dian (30. Januar 2012) unter Berufung auf eine Studie britischer Atomwaffengegner der Campaign for Nuclear Disarmament. Eine Verlegung in die Vereinigten Staaten oder nach Frankreich würde einen Verstoß gegen den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag bedeuten.

Was bei all dem der SNP in die Hände spielt: Südlich des früheren Hadrianwalls hätte die Unabhängigkeit Schottlands wohl schon heute eine Mehrheit. Laut dem Thinktank Institute for Public Policy Research (IPPR) ist die Zahl derjenigen, die sich eher als Engländer denn als Briten sehen, in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Diejenigen, die sich so verstehen, neigen ungleich stärker dazu, den EU-Austritt Großbritanniens zu befürworten, als die, die sich für Briten halten.

Vor diesen Hintergrund erkannte der Economist eine unheilige Allianz der schottischen Nationalisten mit englischen Rechtsauslegern, die letztlich beide „nations“ zurück in die Vergangenheit führten (19. Januar 2012). „Der Anführer der SNP hat das Recht, für Schottlands Unabhängigkeit zu plädieren“, hieß es in der „Bagehot“-Kolumne des internationalen Magazins. „Aber dabei macht er aus Engländern Ausländer, und er versagt Millionen von Bindestrich-Briten, von den Anglo-Schotten zu den schwarzen Briten, das Land, in dem sie sich zu Hause fühlen: Großbritannien. Das ist weder progressiv noch modern.“

Der Daily Telegraph, die auflagenstärkste, in der Regel europaskeptische Qualitätszeitung und „Stimme Mittelenglands“, schloss sich dem Befund an und brachte auch noch eine Spitze gegen die EU unter (14. Januar 2012). Was sei das für eine Wahl, schrieb der frühere Telegraph-Chef-redakteur und Biograf Margaret Thatchers, Charles Moore: „Auf der einen Seite diese gewaltige, sperrige Euro-Zone, die versucht, Uniformität durchzusetzen; auf der anderen diese kleinen, monokulturellen Staaten, die vor Stammesstolz schier platzen und um ihre Geburt kämpfen“, und er fragte rhetorisch: „Sehen diese nichtbritischen Identitätsmodelle wie die Zukunft aus?“

Dr. HENNING HOFF ist Editor-at-Large der IP.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 130-133

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