Schlusspunkt

01. Sep 2011

Lokale Aufhänger

Über Paradoxien deutscher Auslandsberichterstattung

Beim ersten Zeitungspraktikum in einer Lokalredaktion lernte ich eine Kollegin kennen, deren Spezialität das „lokale Aufhängen“ von „großen“ und nicht ganz so großen Themen war. Meldete die „Tagesschau“, dass der Verfassungsschutz vor einer Zunahme linksextremer Gewalttaten warne, ging sie am nächsten Tag der Frage nach, wie es denn damit in unserer Stadt bestellt sei. Schlugen sich Landwirte am anderen Ende der Republik mit dieser oder jener Tierseuche herum, galt es herauszufinden, was die heimischen Bauern so darüber dachten.

Wer nach fast zehn Jahren im Ausland nach Deutschland zurückkehrt, wundert sich über vieles, nicht zuletzt über manche Aspekte der deutschen Auslandsberichterstattung. Das beginnt schon am frühen Morgen im Radio. Sprecher seriöser Nachrichtensendungen scheinen darauf trainiert zu sein, auch noch den letzten Funken Aufregung, den Neuigkeiten aus aller Welt entfachen könnten, mit fast schon absurd kühler Nüchternheit zu ersticken. Insgeheim wünscht man sich dann „Today“ auf BBC Radio 4 zurück, das auch schon mal live aus Washington oder Tokio sendet, wenn dort Weltbewegendes passiert, und Interviewpartner befragt, von denen man schon mal gehört hat, jenseits der Berliner Stadtgrenzen.

Ungleich verwunderlicher aber ist, dass „lokale Aufhänger“ bei der Auslandsberichterstattung offenbar den Ton angeben. Dass beim japanischen Erd- und Seebeben im März fast 16 000 Menschen umgekommen und weite Landstriche verwüstet sind, dürfte in Deutschland nicht sehr präsent sein. Japan ist zur bloßen Kulisse von „Fukushima“ geworden, das in Deutschland auf noch nicht ganz geklärte Weise den endgültigen Atomausstieg bewirkt hat und nun Godzillagleich weiter durch die deutsche Medienlandschaft stapft.

Auch kann ein rechtsextremer Massenmörder, den nicht gerade wenige zunächst mit einem Al-Kaida-Terroristen verwechselten, in Norwegen nicht zur abscheulichen Tat schreiten, ohne dass nicht doch Henryk M. Broder seine Finger im Spiel hatte. Da das „Manifest“ genannte Geschreibsel des Attentäters irgendwie Broder zitiert, musste man auch den, mit Understatement formuliert, zur Provokation neigenden Publizisten zu seiner Rolle befragen. Der verzichtete gegenüber dem Berliner Tagesspiegel dann auch erwartungsgemäß auf bußfertige Zerknirschtheit.

Und ob die Politik nicht die Hungerkrise in Somalia verschlafe, könnten Deutschlands Medien mit größerer Berechtigung fragen, wenn sie mehr als die zirka zwei übriggebliebenen Afrika-Korrespondenten beschäftigten. Sollte „Somalia“ noch Thema werden, wird sich sicher ein lokaler Aufhänger finden: In meinem Bio-Supermarkt um die Ecke wurde neulich zum Beispiel die Milch knapp.

Dr. Henning Hoff ist Editor-at-Large der IP.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 144

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