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01. Apr. 2005

Soll der Iran doch seine Bombe haben.

Amerikas Krieg der Ideen zwischen Konservativen und Liberalen

Hatte Bush mit seiner Irak-Politik doch Recht? Die Strategen streiten, wie es jetzt weitergeht

„Immer ist dabei zu beachten, dass diese liberalen Begriffe sich in einer typischen Weise zwischen Ethik (‚Geistigkeit‘) und Ökonomik (‚Geschäft‘) bewegen und von diesen polaren Seiten her das Politische als eine Sphäre der ‚erobernden Gewalt‘ zu annihilieren suchen, wobei der Begriff des ‚Recht‘-, d.h. ‚Privatrecht‘-Staates als Hebel dient und der Begriff des Privateigentums das Zentrum des Globus bildet, dessen Pole – Ethik und Ökonomik – nur die gegensätzlichen Ausstrahlungen dieses Mittelpunktes sind.“ So schrieb Carl Schmitt in seinem „Begriff des Politischen“ 1932 gegen die Versailler Ordnung an. Die Angelsachsen mochten sich durch das internationale Wirtschaftssystem und die rechtlichen Strukturen des Völkerbunds die Welt unterwerfen – aber nur das Reich verstand etwas vom Ernst des Lebens, vom Politischen. Die verhinderte deutsche Weltmacht sollte wieder erobern, um die ökonomische Gewalt der liberalen Mächte zu bezwingen. Dass sich auch die Amerikaner aufs Politische verstehen, erlebte Schmitt einige Jahre später selbst.

Den Deutschen bleibt heute anders als zu Schmitts Zeiten nur die Sphäre der „Geistigkeit“, der multilateralen Ideale, wenn sie der Macht Amerikas trotzen wollen. Von der intellektuellen Macht spricht Schmitt nicht. Auch sie gehört zu Amerikas Arsenal, von den besten Universitäten bis zur lebendigsten außenpolitischen Debatte der Welt. Diese Diskussion führen im Wesentlichen zwei Seiten, im klassischen ideologischen Gegensatz, der Europa im 19. Jahrhundert prägte. Die Rede ist vom Liberalismus und vom Konservatismus. Die jüngsten Ereignisse, die in vielen Gebieten des Nahen und Mittleren Ostens aufscheinenden Anzeichen der Demokratisierung, haben zu einem Feuerwerk der Ideen geführt. Anders als im alten Europa nach der Französischen Revolution sind jedoch die Konservativen die revolutionäre Kraft, während die Liberalen eher die ethisch-ökonomisch-politische Tradition verteidigen. Und anders als Europa ist Amerika, wie Schmitt wusste, seinem Wesen und seiner Geschichte nach immer schon eine liberale Macht. Es handelt sich bei dem Ideenkampf darum eigentlich um den Streit zweier Varianten des Liberalismus.

Die Neocons sind die Haupterben des Liberalismus, wenn man Tod Lindberg glaubt, der die Policy Review herausgibt. Auf deren Seiten hat er schon im Oktober erklärt, die Mission der Neocons bestehe darin, das liberale Erbe zu verteidigen und weltweit zu verbreiten. Denn nur der Liberalismus finde gewaltfreie Lösungen für eine von Konflikten geplagte Welt. Dabei lehnt Lindberg sogar die amerikanische Ausnahmestellung ab. Ein besonderes Vorrecht Amerikas gibt es für ihn nicht – es wäre unvereinbar mit den universellen Prinzipien des Liberalismus. Im Dezember ging Lindberg noch einen Schritt weiter. Er beschwor die Einheit der „atlantischen Gemeinschaft“ und stellte den amerikanischen Lesern die EU als besten Freund Amerikas vor.

Immer kehrt im Augenblick die Frage wieder, ob die Mittelost-Politik der Bush-Regierung nicht doch richtig gewesen sei. Ein Streitgespräch zwischen drei Chefredakteuren liberaler Blätter, Peter Beinart von The New Republic, Michael Tomasky von The American Prospect und Katrina vanden Heuvel von The Nation, zeigt in der Reaktion der Liberalen auf die Politik Bushs auch die inneren Bruchstellen im liberalen Lager (New York Times vom 6. März). Vanden Heuvel will im Krieg gegen den Terrorismus nicht die Kernaufgabe der Außenpolitik sehen. Seuchen, Umwelt, Armut oder „failed states“ sind ihr ähnlich wichtig. Beinart dagegen stimmt mit der Regierungsrhetorik überein, dass im Mittleren Osten zwischen Tyrannei und islamischem Fundamentalismus ein dritter, demokratischer Weg gefunden werden muss, um den Terrorismus dauerhaft einzudämmen. Beinart, Unterstützer des Irak-Krieges und Kritiker der Besatzungspolitik, wirft der Regierung allerdings vor, in Wahrheit nicht an Menschenrechte und Demokratie, sondern nur an militärische Macht zu glauben. Sonst gäbe es längst einen Marshallplan für die islamische Welt, und die liberalen Strömungen dort würden intensiver unterstützt. Hier müsse eine liberale Strategie ansetzen.

Die versucht James Fallows im Atlantic Monthly (Januar/Februar) zu entwerfen. Erstens solle der Heimatschutz sinnvoller betrieben werden. Statt riesige Gelder für unnötige Kontrollen von Flugpassagieren oder Feuerwehrgebäude in North Dakota zu verschwenden, sollten Brücken, Tunnel, Häfen und öffentliche Verkehrsmittel endlich in die Strategie einbezogen werden, schreibt Fallows. Zweitens müsse der völlig gescheiterte Krieg der Ideen in der muslimischen Welt auf neue Weise geführt werden. Gerechtigkeit, nicht Freiheit sei das höchste Ideal islamischer Gesellschaften, und darauf müsse die amerikanische public diplomacy aufgebaut werden. Wo bleiben die regelmäßigen Auftritte amerikanischer Politiker auf Al Dschasira? Wo die coffeetable books über die Verbrechen des Saddam-Regimes? Und wo die Stipendienprogramme für Studenten aus dem Nahen Osten? Den Krieg der Ideen, „strategische Kommunikation“ könne man nicht ohne Experimentierfreude führen – genau so habe man die Sowjetunion besiegt. Drittens betont Fallows das Prinzip „first things first“. Das dringlichste Problem sind immer noch ungesicherte ehemals sowjetische Atomwaffen. Würden diese in die Hände von Terroristen fallen, wäre das Ausmaß der Katastrophe nicht auszudenken – und die USA wären selbst schuld. Denn diese Gefahr könnten sie kontrollieren, es handle sich hier um das größte Versagen amerikanischer Regierungen seit langem. Stünden statt einer Milliarde 30 Milliarden Dollar im Jahr zur Verfügung, wäre das Problem in drei Jahren endgültig gelöst.

Ganz auf dieser Linie bewegt sich Peter Beinart in seiner Auseinandersetzung mit Gilles Kepel im Atlantic Monthly vom März. Sichtlich unwillig stimmt er schließlich Kepels These zu, wonach Al-Qaida auf Dauer von innen zerfiele, wenn die US-Politik dem Terrornetzwerk nicht neue Anhänger zutreiben würde. Was soll helfen? Sachkenntnis, Realismus und Verzicht auf Wunschdenken – kluges Bedrohungsmanagment statt ideologisch fundierter Großstrategien. Und dennoch verweigern Liberale wie Beinart der Bush-Regierung nicht die Anerkennung für die jüngsten Demokratisierungserfolge (New Republic vom 28. Februar und 21. März).

Bush habe die Dinge ins Rollen gebracht, heißt es da. Aber die Politik der Regierung sei fehlerhaft und unvollständig. Liberale sollten auf den Zug aufspringen und dessen Kurs korrigieren. Zur Entwicklung einer demokratischen Kultur brauche es mehr als regime change und Wahlen, wie Liberalen bewusst sei. Vor allem könnten sie die Glaubwürdigkeit der Motive Amerikas unter Beweis stellen. Nur sie könnten die Fehler Amerikas eingestehen – das häufige Versagen in der Dritten Welt, die Unterstützung von Tyrannen, die Missachtung von Allianzen, die Verletzung internationaler Standards, gipfelnd in Abu Ghraib und Guantánamo. Die Liberalen erst, so muss man dies verstehen, könnten die Politik vollenden, die Bush begonnen hat, und ihr Demokratie-Idealismus werde dabei von Selbstkritik ausgeglichen.

Den Siegeszug der Demokratie feiern konservative Stimmen viel ausgelassener. Die Herausgeber des Weekly Standard (7. März) freuen sich, dass selbst der Spiegel fragt, ob Bush nicht doch Recht hatte, und David Brooks stimmt Lobeshymnen auf den zuletzt viel gescholtenen Vater der Freiheit an, auf Paul Wolfowitz (New York Times vom 8. März). Reuel Marc Gerecht verleiht im Weekly Standard vom 14. März den Siegesparolen Substanz. Er beobachtet das Entstehen eines „muslimischen demokratischen Ethos“. Aber auch Gerecht betont, dass die Regierung nach ihren ersten Erfolgen noch über keine schlüssige Gesamtstrategie verfüge. Der Autor, anerkannter Neocon-Nahostexperte, geht darum Land für Land durch, um das weitere Vorgehen zu bestimmen. Zu Ägypten meint er, die Demokratisierung dieses Landes sei das Kernelement der amerikanischen Freiheitsstrategie: „Wenn Ägypten nicht demokratisch wird, hört der Bin-Ladenismus nie auf.“ Das bedeutet: Druck auf Mubarak – was Unterstützung in einem unmittelbar folgenden Bericht zu Ägypten von Stephen Hayes findet. Für den Irak fordert Gerecht ähnlich wie Fallows einen Fernsehkanal wie C-SPAN, der live und vollständig die Prozesse gegen Saddam und seine Schergen überträgt.

Der Libanon, wo die Demonstranten liebevoll „Ju-Ju“ (für George) rufen, steht ebenso wie Syrien, Saudi-Arabien, Algerien und Tunesien auf Gerechts strategischer Liste. Am überraschendsten ist für Europäer vielleicht, was er zum Iran sagt: Es darf keine Kompromisse mit der korrupten Führung geben. Denn sonst verrate man die Menschen und ihre demokratischen Hoffnungen. Aber wenn der Iran Atomwaffen will, dann soll er sie haben – mit einer neuen, demokratischen Regierung, die nicht mehr den Terror unterstütze, könne man darüber reden. Regime change statt Verbot von Atomwaffen ist also das Ziel. „Mit einer nuklear bewaffneten Demokratie können wir leben“, sagt Gerecht – sie könne sogar die Region stabilisieren.

Es gibt noch einen anderen Fürsprecher iranischer Atomwaffen, der häufig den Neocons zugeschlagen wird. Thomas Barnett hat eine amerikanische Karriere hinter sich – Russlandhistoriker, Wallstreetanalytiker, Professor an der Marineakademie, Pentagon-Berater. Sein Buch „The Pentagon’s New Map“ (2004) hat für einiges Aufsehen gesorgt. Es unterteilt die Welt in einen stabilen Kern aus alten und neuen Industriestaaten und in eine Krisenzone. Letztere muss stabilisiert werden, um die für alle segensreiche Globalisierung nicht zu stören. Die Mittel dazu: militärische und politisch-wirtschaftliche Macht – und eine Kombination aus beidem, nämlich eine Nation-building-Strategie. Rechtskonservativen ist Barnett ein Dorn im Auge; der American Spectator (26. November) nennt ihn einen „Tom Friedman mit security clearance“. Man unterstellt Barnett, den liberalen und neokonservativen Interventionismus zu verbinden und zum vorherrschenden politisch-militärischen Paradigma zu erheben – ohne das böse Wort „Neocon“ auch nur zu nennen.

In der Februar-Ausgabe des Magazins Esquire empfiehlt Barnett seine Strategie für die nächsten Jahre dem Präsidenten. Ihr Kern ist die strategische Partnerschaft mit China. Barnett rät zu drei Schritten: Erstens soll der Iran seine Bombe haben, dazu noch Anerkennung durch die USA finden. Der Preis dafür: Hilfe im Irak, Beendigung jeglicher Unterstützung des Terrorismus, Anerkennung Israels, Druck auf Syrien in Sachen Libanon und gemeinsam mit den USA die Garantie eines endgültigen israelisch-palästinensischen Friedensabkommens. Der Iran sei der Schlüssel zum Nahen Osten, und seine nukleare Aufrüstung werde dem Frieden und der Stabilität dienen. Die Mullahs, meint Barnett, werden jeden Deal eingehen. Denn sie wollen überleben, um jeden Preis.

Zweitens soll Amerika China, die künftige Wirtschaftsweltmacht, jetzt schon an sich binden – zu einem noch günstigen Preis. Wer auf Konfrontation gegenüber China setze, riskiere langfristig den Kollaps der Globalisierung, und das heißt nichts anderes als die globale Wirtschaftskatastrophe. Was bieten die USA für die Partnerschaft? Sie sollen die Sicherheitsgarantie für Taiwan aufkündigen. Das würde auch die Spannungen zwischen China und Taiwan entschärfen, China werde den Status quo respektieren. Robert Kagan dürfte hier heftig protestieren, verlangt er doch gerade eine intensivere Unterstützung Taiwans (Washington Post vom 10. März). Drittens beschreibt Barnett Nordkorea als den eigentlichen Ansatzpunkt seiner Strategie. Eine amerikanisch geführte Koalition, die China einschließt, soll das Regime beenden, notfalls militärisch, was möglich sei. Nordkorea werde amerikanische Drohungen ernst nehmen, das sei das Gute am Desaster im Irak – die USA scheuen den Militär-einsatz auch dann nicht, wenn das für sie üble Folgen haben kann, so die Botschaft an Tyrannen. Mehr als ein Ultimatum werde kaum nötig sein, um den nordkoreanischen Diktator zu vertreiben. Danach schaffe man eine NATO-ähnliche Struktur für Ostasien. Damit sei auch der Terrorismus am Ende. Der könne dann Amerika und China nicht mehr gegeneinander ausspielen und werde angesichts dieser Einheitsfront alle Unterstützer verlieren. Barnett fasst seine Strategie so zusammen: „Der Weg zu dauerhaftem Frieden in Jerusalem und Bagdad beginnt in Teheran, und am Ende muss er auch durch Peking führen.“

Und was sind die Vorbilder der strategischen Denker? Liberale nennen Truman, Kennan und Marshall; Neocons haben sich auf Churchill geeinigt, wie Jacob Heilbrunn zeigt (New York Times vom 27. Februar). David Gelernter bringt im Weekly Standard (7. Februar) einen weiteren Helden ins Spiel: Benjamin Disraeli. Er begründete den modernen Konservatismus als klassenlose nationale Partei und erneuerte das britische Empire. Er glaubte an den Siegeszug der Demokratie und betrieb imperiale Machtpolitik: Ein treffliches Sinnbild unserer Zeit.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 124 - 127.

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