Buchkritik

01. Mai 2010

Schrumpfen lernen

Buchkritik

Wie konnte eine der größten Handelsbanken der Wall Street pleite gehen? Der Fall Lehman Brothers hat die globale Finanzwelt in ihren Grundfesten erschüttert. Um die Folgen der Krise zu bewältigen, wird mehr als nur eine geringfügige Korrektur am Finanzsystem nötig sein. Drei Neuerscheinungen schildern die Ursachen und machen Lösungsvorschläge.

Lehman Brothers war einst ein glanzvolles Finanzhaus. Es unterstützte nicht nur die Einzelhandelsriesen Gimbel Brothers, F. W. Woolworth und Macy’s, sondern auch die Fluggesellschaften American, National, TWA und Pan American. Es beschaffte das Kapital für die Campbell Soup Company, die Jewel Tea Company und B. F. Goodrich. Es begleitete die Geburt des Fernsehens bei RCA, die Hollywood-Studios RKO, Paramount und 20th Century Fox. Und es brachte das Geld für die TransCanada-Ölpipeline auf.

Lawrence G. McDonald hat den vierjährigen Todeskampf der Finanzwelt des 21. Jahrhunderts hautnah miterlebt. Der ehemalige Vizepräsident im Wertpapierhandel von Lehman Brothers hat sich immer wieder gefragt, was hätte geschehen müssen, um den Dingen eine andere Wendung zu geben. Seine Überlegungen zu den Ursachen der Krise „Dead Bank Walking. Wie Lehman Brothers zusammenbrach“ zählen mit zum Besten, was bislang zu Papier gebracht worden ist. McDonald besitzt die seltene Gabe, auch dem finanzpolitischen Laien den Kern des Desasters zu erklären. Nach seiner zugleich thrillerhaft geschriebenen Analyse begann der Zusammenbruch von 2008 mit der Aufhebung eines Gesetzes 1999: Präsident Bill Clinton unterzeichnete die Gesetzesvorlage, mit der das so genannte Glass-Steagall-Gesetz aufgehoben wurde. Das hatte schwerwiegende Folgen. Um sie verständlich zu machen, geht McDonald in die Jahre der Clinton-Regierung zurück.

Der amerikanische Präsident beförderte 1993 die relativ unbekannte Politikerin Roberta Achtenberg zur Leiterin des Ministeriums für Wohnen und Städteplanung. Die Tochter eines in Russland geborenen kleinen Lebensmittelhändlers in Los Angeles teilte mit Clinton den Wunsch, Wohneigentum für Arme und Angehörige von Minderheiten zu fördern. Einen der Hauptgründe für die Banken, Mittellosen nur unter großen Vorbehalten Geld zu leihen, sah sie in rassistischer Voreingenommenheit.

In den folgenden Jahren versuchte Achtenberg die amerikanischen Banker dazu zu bewegen, auch Menschen Hypotheken zu gewähren, die nicht in der Lage waren, Eigenkapital einzusetzen und sich regelmäßige monatliche Zahlungen zu leisten. Während ihrer zweijährigen Amtszeit schuf sie ein landesweites Netz so genannter Vollzugsbüros. In ihnen sollten Staatsanwälte und Ermittler gegen Banken vorgehen, die sich bei der Kreditvergabe diskriminierend verhielten. Um die bisherigen Grundsätze der Hypothekenvergabe in den Vereinigten Staaten zu ändern, wurden Bußgelder in Millionenhöhe verhängt.

Die Banken fügten sich und vergaben bald Tausende von Krediten ohne jede Eigenkapitalleistung – eine bis dahin unbekannte Praxis. Um eine gute Bewertung zu erhalten, verstießen die Banken gegen ihre eigenen Regeln und zeigten sich gegenüber unterprivilegierten Kreditnehmern großzügig, auch wenn sie dabei das Risiko eingingen, zahlungsunfähig zu werden. Die Erfinder der locker vergebenen Hypotheken waren somit Clintons Demokraten. Von 1993 bis 1999 wurden auf diese Weise über zwei Millionen Kunden zu Hauseigentümern.

Parallel boomte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre aufgrund des günstigen Konjunkturverlaufs der amerikanische Häusermarkt. Die Preise stiegen laufend, Hypothekenausfälle waren relativ selten. Eine Absicherung gegen solche Ausfälle gab es kaum – was in der späteren Finanzkrise verheerende Folgen haben sollte. Vorsichtige Banker misstrauten der neuen Praxis und sehnten sich in die Zeit zurück, als die Banken keine Kredite vergaben, wenn die Kunden nicht nachweislich in der Lage waren, sie zurückzuzahlen.

Zwar war sich Clinton bewusst, dass er sich die Gunst vieler Afroamerikaner und Hispanics erworben hatte, die durch seine Politik zu Hausbesitzern geworden waren. Er wollte aber auch die warnenden Stimmen der Bankenlobby nicht missachten. Clinton war bereit, den Sorgen der Banker Rechnung zu tragen. Er begann sich mit einer Frage zu befassen, die Amerikas Finanzwelt in ihren tiefsten Interessen berührte. Es ging um das Glass-Steagall-Gesetz von 1933, das nach dem Börsencrash von 1929 Fusionen von Geschäftsbanken mit Investmentbanken verbot.

Das Gesetz sollte verhindern, dass Investmentbanker, die mit hohem Risiko spekulierten, Zugriff auf die Einlagen der Bankkunden erhielten. Die Geschäftsbanken hatten mit allzu leichtsinnigen Anlagen im Wertpapiermarkt wesentlich zum Zusammenbruch von 1929 beigetragen. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten unzulässigerweise eine Grenze überschritten, indem sie Aktien von Unternehmen erworben hätten, um sie ans Publikum weiterzuverkaufen. Das sei zu riskant gewesen, aber die Aussicht auf Riesenprofite habe ihr Urteil getrübt.

Als Reaktion schuf Carter Glass, demokratischer Senator aus Virginia, ehemaliger Finanzminister und Begründer des amerikanischen Federal Reserve Systems, zusammen mit dem Ausschussvorsitzenden für Banken- und Währungsfragen im Repräsentantenhaus, Henry Bascom Steagall aus Alabama, eine strenge gesetzliche Hürde, die sehr bei der Lösung der schwersten Krise half, welche die Wall Street bis heute erlebt hat. Das Glass-Steagall-Gesetz wurde in der ausdrücklichen Absicht beschlossen, die Bankeinlagen der Kunden zu schützen und zu verhindern, dass eine Krise die andere nach sich zieht, dass alles wie ein Kartenhaus zusammenbricht oder wie eine Reihe von Dominosteinen umstürzt. Ab 1933 konnten die größten Banken nicht mehr hemmungslos am Aktienmarkt spekulieren.

Eben dieses Hemmnis wollten die amerikanischen Großbanken in den neunziger Jahren beseitigt sehen. Bereits 1988 war ein solcher Vorstoß gescheitert. Doch Amerikas Banker waren gespalten: Auf der einen Seite stand die Überzeugung der großen Geschäftsbanken, dass Fusionen mit Investmentbanken den gesamten Finanzsektor stärken würden, da sie mehr Gelegenheiten für Superprofite schufen. Auf der anderen Seite standen die vielen kleinen Banken, die fürchteten, eine Aufhebung des Glass-Steagall-Gesetzes würde ihr Ende bedeuten. Daher wehrten sie sich mit allen Mitteln gegen ein System, das sie zu verschlingen drohte. 1996 scheiterten die Großbanken erneut.

Nur zwei Jahre später schien sich der Markt im Alleingang gegen die Politik durchsetzen zu wollen. Am 6. April 1998 kündete Citicorp eine Fusion mit Travelers Insurance an, einem Großunternehmen, das die Investmentbank Smith Barney besaß und kontrollierte. Durch die Fusion sollte ein riesiges Konglomerat entstehen, das sowohl im Banken- und Versicherungsgeschäft als auch im Wertpapierhandel tätig war. Aber das lief dem Glass-Steagall-Gesetz zuwider.

Das Repräsentantenhaus versuchte, ein Reformgesetz zu schaffen. Doch es scheiterte im Senat, da Clinton Bedenken hatte und mit seinem Veto zu rechnen war. Die 70-Milliarden-Dollar-Fusion zwischen Citicorp und Travelers kam dennoch zustande. Das Ergebnis war die Citigroup: der größte Finanzriese der Welt, mit der Befugnis, Wertpapiere zu verkaufen, Einlagen anzunehmen, Darlehen zu gewähren, Aktien zu garantieren, Versicherungen zu verkaufen und eine Vielzahl von finanziellen Aktivitäten zu betreiben.

Die Fusion galt als illegal. Aber die Citigroup hatte nicht nur viel Zeit, auf eine Änderung des Glass-Steagall-Gesetzes hinzuwirken. Sie hatte auch unbegrenzte Mittel. Und die setzte sie ein: Einflussreiche Banken spendeten Millionen an die Politik. Im November 1999 hatten sie Erfolg: Der Kongress verabschiedete das erforderliche Gesetz mit einer derart hohen Stimmenmehrheit, dass es gegen ein Veto des Präsidenten gesichert war. Clinton unterschrieb das neue Gesetz zur Modernisierung der Finanzdienstleistungen, mit dem das Glass-Steagall-Gesetz aufgehoben wurde.

Welt ohne Wachstum?

Der Rest dieser meisterhaft von Lawrence G. McDonald geschilderten Chronik ist längst nicht mehr nur Banken-, sondern in ihren Auswirkungen auch Weltgeschichte. Wie wird sie weitergehen? Vielleicht gar nicht, zumindest nicht im klassischen ökonomischen Sinn, könnte man Meinhard Miegel verstehen. Der Vorstandsvorsitzende von „Denkwerk Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung“ in Bonn glaubt, dass Wirtschaftswachstum zur Ersatzreligion der heutigen Gesellschaft geworden ist. Vielen gelte es als Voraussetzung für Wohlstand, persönliches Glück und ein funktionierendes Gemeinwesen.

Doch was würde passieren, wenn es kein Wachstum mehr gäbe? Was könnte, was sollte an seine Stelle treten? Dass die beispiellose Wachstumsepoche, die der Westen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zu Ende zu gehen droht, sieht Miegel als Herausforderung und Chance zugleich. Längst mehre dieses Wachstum nicht mehr den westlichen Wohlstand, sondern verzehre ihn. Es überlaste die natürlichen Ressourcen, die Umwelt und nicht zuletzt die Menschen selbst. Daher plädiert Miegel für die Achtung von Umwelt und Natur, für einen intelligenteren Umgang mit den Gütern der Erde und vor allem für ein grundlegend verändertes Verständnis der menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse.

Wie ein zukunftsfähiges Lebenskonzept aussehen könnte, spricht der Sozialwissenschaftler klar und unmissverständlich aus: „Für die Völker der frühindustrialisierten Länder bedeutet dies, dass ihr materieller Lebensstandard vorerst nicht mehr steigen, sondern eher sinken wird.“ Nur so könne ein neues Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Zahl der Menschen und ihren materiellen Ansprüchen einerseits und den Kapazitäten der Erde und den menschlichen Fähigkeiten andererseits.

Ein solches Gleichgewicht setzt Miegel aber nicht mit einem Wohlstandsverlust gleich. Vielmehr sollten die Menschen wieder lernen, was ihnen während des längsten Teiles ihrer Geschichte wohl bewusst gewesen sei: „Wohlstand und Wachstum sind keine siamesischen Zwillinge.“ Erst das Industriezeitalter habe sie dazu werden lassen.

Zwar räumt auch Miegel ein, dass Menschen Wachstum brauchen – und sei es das Wachstum in der Natur –, um ihre kreatürlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Für ihn bedeutet das aber noch keinen eigentlichen Wohlstand. Vielmehr beginne dieser erst da, wo das Wachstum ende. Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand, das sei: bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde.

Miegel zählt hierzu auch Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen. Wohlstand – das seien menschengemäße Häuser und Städte mit Straßen und Plätzen, die ihre Bewohner gerne aufsuchen, ein intelligentes Verkehrssystem, gelegentliche Stille, ein sinnenfroher Genuss, die Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst etwas anzufangen, und nicht zuletzt die Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert sei. All dies zu erkennen, wird nach Miegels provokativem Essay der große Paradigmenwechsel des 21. Jahrhunderts sein – „oder dieses Jahrhundert wird scheitern“.

Wer glaubt, dieses Denken sei weltfremd, so etwas könne nur ein Nichtökonom schreiben, der sollte zu Joseph Stiglitz greifen. Denn dort wird er eines Besseren belehrt. Der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften zeigt in seiner erhellenden Studie, dass die Bewältigung der Probleme, mit denen sein Land und die Welt konfrontiert sind, mehr als nur eine geringfügige Korrektur am Finanzsystem erfordert. In dessen Versagen sieht der Leiter der UN-Kommission zur Reform der internationalen Geld- und Finanzmärkte ein Sinnbild für ein allgemeines Versagen des Wirtschaftssystems, und in dessen Versagen wiederum tiefergehende gesellschaftliche Probleme.

Stiglitz ist jedoch kein Pessimist. Er glaubt, dass Wandel nicht nur nötig, sondern vor allem auch möglich ist. So werden zumindest in einigen Finanzbereichen die Regeln verbessert werden, um insbesondere die Auswüchse bei kreditfinanzierten Geschäften einzudämmen. Zugleich können aber die armen Länder ihre krisengeplagten Unternehmen nicht in der Weise unterstützen, wie es die reichen Staaten tun. Dies beeinflusst wiederum die Risiken, die sie eingehen können. Nicht nur mussten die Entwicklungsländer erleben, dass die Risiken der Globalisierung nicht gleichmäßig abgesichert und gestreut wurden. Auch scheinen die erhofften Reformen der Weltwirtschaftsordnung nach wie vor in weiter Ferne zu liegen.

Stiglitz führt das viel strapazierte Wort vom chinesischen Schriftzeichen für „Krise“ an, das sowohl Gefahr als auch Chance bedeutet. Für den ehemaligen Chefvolkswirt der Weltbank birgt die globale Wirtschaftskrise eine dreifache Chance: Erstens, das Gleichgewicht zwischen Markt und Staat, zwischen Individualismus und Gemeinschaftssinn, zwischen Mensch und Natur, zwischen Mitteln und Zwecken wiederherzustellen; zweitens, ein neues Finanzsystem zu schaffen, das seiner ureigenen, unverzichtbaren Funktion im Wirtschaftsleben gerecht wird, ein neues Wirtschaftssystem, das allen Menschen, die es wollen, auskömmliche und sozial anerkannte Beschäftigungschancen gibt und in dem sich die Kluft zwischen Arm und Reich verringert, statt ständig größer zu werden. Und vor allem, drittens, eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der jedes Individuum seine Lebensziele verwirklichen und seine Fähigkeiten voll ausschöpfen kann, in der sich die Bürger von gemeinsamen Idealen und Wertvorstellungen leiten lassen und die Erde mit dem Respekt behandeln, den sie ihr über kurz oder lang ohnehin werden entgegenbringen müssen.

Die eigentliche Gefahr liegt für Stiglitz daher auch nicht in der Krise selbst begründet, sondern darin, dass die Menschheit die heute vor ihr liegenden Chancen nicht ergreift. Dabei weiß Stiglitz nur zu genau, wovon er spricht. Schließlich war er Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung – damals, in den „Goldenen Neunzigern“, als der amerikanische Präsident ein neues Finanzgesetz unterzeichnete, das keine zehn Jahre später die ganze Welt an den Rand des finanziellen Ruins treiben sollte.

LAWRENCE G. MCDONALD: Dead Bank Walking. Wie Lehman Brothers zusammenbrach. Hamburg: Hoff- mann und Campe 2010. 413 Seiten, 22,00 €

MEINHARD MIEGEL: Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin: Propyläen 2010. 301 Seiten, 22,95€

JOSEPH STIGLITZ: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München: Siedler 2010. 448 Seiten, 24,95 €

Dr. THOMAS SPECKMANN ist stellvertretender Referatsleiter in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und lehrt an der Uni Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 135 - 143

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