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01. Juli 2011

Schlüsselrolle in der Schuldenkrise

Sie fällt Deutschland zu. Nicht zuletzt, weil es größter Nutznießer der EU ist

Über hundert Milliarden Euro für Griechenland, Milliarden an Krediten für Irland und Portugal: Zur Rettung der in die Schuldenkrise geratenen Länder wurde nicht nur einiges aufgewandt; präventive Maßnahmen sollen weitere Krisen verhindern. Anstatt missmutig auszuhelfen, sollte Deutschland beherzt anpacken. Es gereicht ihm nur zum Vorteil.

Als Wirtschaftsmotor der EU mit seiner exportstarken Industrie und einer ausgeprägten Stabilitätskultur zieht Deutschland besonders großen Nutzen von Binnenmarkt und Euro. Beide Errungenschaften haben protektionistische Abschottungen und vor allem die früher üblichen Abwertungen nationaler Währungen zu Deutschlands Lasten verhindert. Allerdings hat das einige der weniger wettbewerbsfähigen Partner deutlich überfordert. Jetzt, da im Zuge der internationalen Finanzkrise die strukturellen Schwächen und Fehler einiger Mitglieder der Euro-Zone aufgedeckt wurden, hat Deutschland seiner Verantwortung für Europa nachzukommen und kann damit zugleich seine nationalen Interessen verfolgen. Dabei geht es um die Bewältigung der aktuellen Schuldenkrise wie um präventive Maßnahmen zur Vermeidung künftiger Verwerfungen.

Zur Wahrung der Stabilität der Euro-Zone müssen Haushaltsstringenz, Schuldenabbau, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und funktionierende Marktmechanismen mit solidarischem Verhalten miteinander in Einklang gebracht werden. Forderungen nach einem Ausscheiden etwa Griechenlands aus der Euro-Zone sind schon aufgrund der fehlenden Rechtsgrundlage und schwerwiegender Folgen für das betroffene Land – wie Kapitalflucht, zahlungsunfähige Banken, erhöhte Belastung durch die weiter in Euro notierten Schulden, Inflationsdruck über verteuerte Rohstoffimporte – unrealistisch.

Auch der Gemeinschaftswährung, dem Binnenmarkt und den Mitgliedstaaten drohten gravierende Ansteckungsgefahren und unberechenbare ökonomische wie außenpolitische Risiken, sollte der Zusammenhalt der Euro-Gruppe ernsthaft in Frage gestellt werden. Um das zu vermeiden, bleiben Kredithilfen in Verbindung mit Reformauflagen das geringere Übel. Dabei sind der Druck der Märkte, die prekäre Lage des Bankensektors sowie der Finanzierungsbedarf der Euro-Staaten zu berücksichtigen, die ihre Alt- und Neuschulden über Anleihen an den internationalen Finanzmärkten decken müssen. Als größter Gläubiger hat Deutschland besonders viel zu verlieren.

Kredite als äußerstes Mittel

Zunächst hatten sich die Euro-Staaten mit ernsthaften Liquiditätsproblemen Griechenlands zu befassen. Unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds vereinbarten sie die Gewährung von Notkrediten, verknüpft mit harten Strukturreformen. Inzwischen wurden vergleichbare Maßnahmen auch für Irland und Portugal notwendig. Vorsorglich erwägen die Staats- und Regierungschefs im Rahmen eines „Gesamtpakets“ zur Krisenbewältigung den Kreditvergaberahmen der für diese Zwecke eingerichteten „European Financial Stability Facility“ (EFSF) von 250 auf 440 Milliarden Euro zu erhöhen. Sie einigten sich darauf, dass der den EFSF 2013 ablösende „European Stability Mechanism“ (ESM) sogar bis zu 500 Milliarden Euro ausleihen darf. Deutschland würde einen seinem Kapitalanteil an der Europäischen Zentralbank (EZB) entsprechenden Beitrag in Form von Garantien sowie einer Bareinlage von 22 Milliarden Euro leisten.

Die Kredite sollen auf deutsches Drängen und mit Rücksicht auf Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht nur als äußerstes Mittel bei Gefahr für den Euro-Raum als Ganzes sowie unter strengen Auflagen als Hebel für Reformen gewährt werden. Alles unterliegt der Einstimmigkeitsregel. Durch den gut dotierten ESM soll den internationalen Märkten die Entschlossenheit des zur Bekämpfung der Schuldenkrise befähigten Euro- Verbunds demonstriert werden. Um die Zentralbank zu entlasten, erhält der ESM die Möglichkeit eines konditionierten direkten Ankaufs von Anleihen betroffener  Euro-Staaten.

Die bislang zur Verfügung stehenden Kredite (110 Milliarden Euro für Griechenland, 85 Milliarden für Irland und 78 Milliarden für Portugal), von denen zwei Drittel auf den Krisenfonds und ein Drittel auf den IWF entfallen, werden in Tranchen nach jeweiliger Überprüfung der Umsetzung der Reformauflagen ausgezahlt. Die Höhe dieser Summen erscheint auf den ersten Blick besorgniserregend. Kritikern in Deutschland fällt es deshalb leicht, trotz der harten Konditionalität der zu verzinsenden Hilfen und trotz des schützenden nationalen Vetorechts vor „Fehlsteuerungen“ und dem Einstieg in eine „Transferunion mit unbegrenzter Haftung“ zu warnen. Auf Griechenland, Irland und Portugal würden Spanien, Italien und Belgien folgen. Für die der Kreditabsicherung dienenden – und gleichfalls zu verzinsenden – Bareinzahlung in den ESM gäbe es keine Berechtigung. Diese Kritik findet in einer Stimmungslage Gehör, die auf einer endlich „normalen“ Wahrnehmung deutscher Interessen besteht. Die Vorteile der europäischen Einigung gerade für Deutschland werden dabei für selbstverständlich erachtet oder als Resultat eigener Leistung gewertet.

Dabei verfügt die EU seit längerem über einstimmig zu beschließende und daher begrenzbare Finanztransfers zwischen stärkeren und schwächeren Mitgliedern und Regionen. Durch den jüngst beschlossenen Kreditmechanismus kommen Hilfsmaßnahmen nicht dauerhafter Natur in Form von zurückzuzahlenden und zu verzinsenden Krediten hinzu. Die drei Empfängerstaaten werden dabei durch strikte Auflagen zu überaus schmerzhaften Korrekturen ihrer fehlerhaften Politiken veranlasst. Diese „Hilfe zur Selbsthilfe“ liegt im vitalen deutschen Interesse. Wer darin lediglich eine Belohnung für Fehlverhalten zu deutschen Lasten sieht, der verkennt die Zusammenhänge. Der Euro-Raum bleibt weiter für Wettbewerb und Eigenverantwortung offen. Trotz einiger Schwachstellen erwarten Experten unter den derzeitigen Bedingungen – einschließlich der Unterstützungsprogramme für Griechenland, Irland und Portugal –, dass weder Spanien noch Italien oder Belgien zu Unterstützungsfällen werden.

Zur Bewältigung der aktuellen Krise verlangen seriöse Kritiker insbesondere für das überfordert wirkende Griechenland eine Umschuldung – zur Streckung von Schulden wie zur Zinskürzung und notfalls zu einem Schuldenschnitt. In der Tat lassen sich Griechenlands anhaltend schwache Wirtschaftskraft, unzureichende Staatseinnahmen und prekäre innenpolitische Lage nicht übersehen. Die für griechische Notkredite im Gegenzug für ein Privatisierungsprogramm vereinbarte Zinssenkung nebst Laufzeitverlängerung und die Bindung künftiger Kredite des ESM an ein bis zu drei Jahren dauerndes Schuldenmoratorium (das auch private Gläubiger wie Banken, Versicherungen, Pensionsfonds einbeziehen könnte), bezeugen, dass sich die Gruppe bereits in Richtung einer Umschuldung bewegt.

Für überschuldete Länder am Rande des Staatsbankrotts sind Rettungsschirme keine Dauerlösung. Wenn die Kapitalmärkte nicht davon überzeugt sind, dass ein Land seine Schulden zu bedienen vermag, verlangen sie ihm zu hohe Risikoprämien ab. Damit bliebe es von der finanziellen Hilfe der Euro-Zone wie des IWF abhängig. Dies alles ist gegenüber den großen Risiken und Kosten abzuwägen, die sich bei einem Schuldenschnitt nicht nur für das Schuldnerland und im Wege der Ansteckung für Länder in ähnlicher Lage ergeben. Immerhin halten auch zahlreiche noch nicht hinreichend konsolidierte private wie staatliche Banken in der EU und die EZB notleidende Staatsanleihen in erheblicher Höhe. Bei fortgesetztem Spar- und Reformdruck wird man deswegen über „sanftere“ Maßnahmen wie die von Finanzminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagene Laufzeitverlängerung griechischer Anleihen unter freiwilliger Beteiligung privater Gläubiger bis hin zu einem neuen Kreditprogramm Zeit zu gewinnen suchen. Ob oder wie lange das gut geht, hängt vor allem von Griechenland ab.

Eingeschränkte Wirksamkeit

Bei den präventiven Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Krisen geht es zunächst um eine intensivierte, weil bislang eindeutig zu kurz gekommene Koordinierung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitiken innerhalb des Euro-Verbunds. Auch dabei hat die Bundesregierung laut Finanzminister Schäuble verfassungs- und europarechtliche Grenzen zu respektieren und sie muss sich auf Instrumente der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit konzentrieren.1 Entsprechend wird die Koordinierung nach der Kooperationsmethode und dem Prinzip der politischen Selbstverpflichtung der Staats- und Regierungschefs erfolgen.

Dieses vom Europäischen Rat angewandte Konsensprinzip einschließlich Vetorecht steht im Gegensatz zu der im integrierten supranationalen Bereich angewendeten effizienteren Gemeinschaftsmethode und ihren mit qualifizierter Mehrheit getroffenen Entscheidungen einschließlich einer starken Rolle von Kommission und Europäischem Parlament. Es entspricht der Praxis bei der nicht integrierten und daher nur wenig wirksamen Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und dürftenicht zuletzt deswegen vorgezogen worden sein. Jede wirtschaftspolitische Harmonisierung ist nun einmal innenpolitisch höchst sensibel. Bei der Einführung des Euro scheiterten noch alle entsprechenden Bemühungen am deutsch-französischen Gegensatz. Der jetzt gefundene Kompromiss deckt sich mit einem Zeitgeist, der Souveränitätsübertragungen an Brüssel mit Skepsis begegnet.

Der Inhalt dieses „Euro-Plus-Pakts“ ist an Erfolgsmodellen ausgerichtet. Die makroökonomische Überwachung wird eingeleitet durch das „Europäische Semester“. Dabei überprüft die Kommission die Situation in den Mitgliedstaaten und erstellt auf der Grundlage ihrer vertraglichen Befugnisse einen Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung, indem sie aus ihrer Sicht den Mitgliedstaaten Prioritäten für deren Wirtschafts-, Haushalts- und Strukturpolitiken aufzeigt. Der Pakt enthält recht eindrucksvolle Zielaussagen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, der Beschäftigung, der Finanzstabilität wie zu „tragfähigen“ öffentlichen Haushalten, zum graduellen Schuldenabbau, zur Anpassung des Rentenalters an die demografische Entwicklung, zu einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und einer steuerpolitischen Koordinierung. Die Staats- und Regierungschefs werden sich einmal jährlich treffen, um konkrete Maßnahmen für einzelne Mitgliedstaaten im Konsens zu beschließen, die diese dann in eigener Zuständigkeit umzusetzen haben. Sanktionsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen. Auch dürfte es nicht leicht fallen, angesichts der Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten allgemein anwendbare Maßstäbe etwa bei Lohnstückkosten, Steuerfragen oder Renten zu entwickeln.

Von diesem Koordinierungsmechanismus mit seinem Einstimmigkeitsprinzip lässt sich nach strittigen Diskussionen ein besser abgestimmtes Vorgehen erwarten, eine hinreichende Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken allerdings nur bei ausgeprägtem Optimismus. Dennoch ist der neue  Mechanismus immer noch ein Fortschritt gegenüber dem bisherigen Zustand. Die Staats- und Regierungschefs werden auf ihren Gipfeltreffen wegen der Erwartungen der internationalen Öffentlichkeit wie der Märkte unter Druck stehen und ihre Positionen dementsprechend möglichst anzunähern haben.

Nicht zuletzt gehört zum präventiven Teil des „Gesamtpakets“ noch die Schärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Seine unzulängliche Anwendung war einer der Gründe für das griechische Desaster. Künftig sind neben einer strengeren Aufsicht über die Finanz- und Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten durch die Kommission raschere und härtere Sanktionen gegen Haushaltssünder bei einer Umkehr der Beschlussfassung vorgesehen. Eine qualifizierte Mehrheit muss sich nicht mehr für sondern gegen Sanktionen aussprechen, was deren Anwendung erleichtert. Außerdem sollen neben Haushaltsdefiziten auch zu hohe Staatsschulden geahndet werden. Oberhalb der 60-Prozent-Grenze des BIP liegende Schulden sind jährlich um ein Zwanzigstel zu senken. Trotz dieser Verbesserungen bleiben bei dem gesamten Entscheidungsprozess immer noch zu große Ermessensspielräume für die Regierungen, die – obwohl politisch verständlich – die Wirksamkeit des Paktes letztlich einschränken dürften. Das kritisiert auch EZB-Präsident Jean-Claude Trichet.

Risiken und Opfer, die sich lohnen

Dank des europäischen Einigungswerks verfügt Deutschland heute über ein stabiles partnerschaftliches Umfeld, wie es ihm noch nie vergönnt war. Die Bewahrung dieser politischen wie ökonomischen Erfolgskonstellation erfordert notfalls finanzielle Opfer. Bislang ist das Ganze für Deutschland über die Zinseinnahmen sogar noch ein Geschäft. Bei Zahlungsproblemen wären die Notkredite des EFSF wie des ESM bevorzugt zu bedienen. Erst soweit dies nicht ausreichen sollte, würde Deutschland in einer Weise belastet, die wegen seiner aus der europäischen Einigung weiterhin gesicherten erheblichen Vorteile immer noch gerechtfertigt wäre.

In Teilen bedarf das „Gesamtpaket“ noch des Feinschliffs und der parlamentarischen Billigung. Die Folgen der Globalisierung haben dem europäischen Nationalstaat die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Den großen Aufgaben kann nur noch im regionalen europäischen Verbund über dessen stärkere Integration begegnet werden. Eigentlich sollte das unstreitig sein und zugleich für die Annahme dieses weitgehend zwingenden, wenn auch nicht perfekten Maßnahmenpakets sprechen. Nur hat die Globalisierung auch eine starke Verunsicherung der Bürger bewirkt – begleitet von einer Hinwendung nach Innen und in das vertraute nationalstaatliche und heimatlich-provinzielle Umfeld. Wer heute in der Politik auf diesen Trend setzt, der gewinnt Zustimmung und riskiert wenig. Zwar gibt es in der Bundesrepublik neben jenen, die eine ebenso starke wie unerfüllbare Sehnsucht nach einem Deutschland als „große Schweiz“ hegen auch noch viele „wahre“ Europäer. Sie haben die besseren Argumente, stehen jedoch unter ständigem Rechtfertigungszwang. Ob Deutschland in dieser Gemengelage fähig bleibt, seine Rolle in Europa weiter verantwortungsvoll auszufüllen? Zu Libyen als Teil der GASP ist ihm das jedenfalls nicht gelungen!

In unserem trotz einer guten Wirtschaftslage und aller Erfolge seiner bisherigen Europapolitik stark verunsicherten Land sind derzeit die Vision Europa und politisch-strategische Gesichtspunkte nur noch von begrenzter Relevanz. Stattdessen betreibt man Nabelschau bis hin zu einer schleichenden Renationalisierung oder schielt auf die nächsten Wahlen. Man scheut nicht den „Sonderweg“ und ist in der Europapolitik damit für die Partner unberechenbarer geworden. Bei dem „Gesamtpaket“ dürfte Berlin es jedoch trotz allem innenpolitischen Missmut und Euroskeptizismus, den es sich dafür einhandelt, dennoch letztlich vermeiden, sich in den eigenen Fuß zu schießen. Denn hier geht es unmittelbar sowohl um die Sicherung der Währung wie des eigenen materiellen Wohlstands. Dafür dürfte eine entschlossene Politik noch eine hinreichende Mehrheit mobilisieren können. In ihrer so genannten „Gemeinsamen“ Außen- und Sicherheitspolitik erscheint die EU derzeit eher auf eine aufgewärmte „Entente Cordiale“ zwischen Paris und London reduziert. In der Finanz- und Wirtschaftspolitik hingegen wird Berlin trotz mancher Verrenkungen nicht verweigern, seine Schlüsselrolle zu übernehmen. Ob sich daraus für die Zukunft insgesamt wieder eine bessere europäische Perspektive ergeben kann, bleibt abhängig von der weisen Voraussicht verantwortungsvoller europäischer Politik und einem weniger zweideutigen deutschen Engagement.

Dr. DIETRICH VON KYAW, Botschafter a.D., war von 1993 bis 1999 Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU.

  • 1Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.1.2011.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 66-71

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