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01. Mai 2004

Blick zurück in die Zukunft

Deutschlands Rolle in Europa

Die deutsche Außen- und Europa-Politik hat ihren Kompass verloren, so der frühere deutsche
Diplomat mit langjähriger Europa-Erfahrung Dietrich von Kyaw. Das Land habe sich seiner europäischen
Verantwortung zu stellen; gegenwärtig fehlten ihm dazu allerdings die wirtschaftlichen
wie die politisch-institutionellen Voraussetzungen. So sei seine Handlungsfähigkeit wegen
seines „aus den Fugen geratenen Föderalismus“ dauerhaft eingeschränkt; angesichts wachsender
Verteilungskämpfe mangele es an überzeugenden Reformschritten. Notwendig sei ein in sich
schlüssiges Konzept ebenso wie die Fähigkeit zu dessen Umsetzung.

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Erfolgreiche Europa-Politik erfordert immer wieder die  Rückschau, die Vergewisserung des Ausgangspunkts, des Fundaments, der von den Gründungsvätern gegebenen Orientierungen. Wer sich der Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses bewusst bleibt, der behält den Kompass, verliert sich nicht in geschichtslos-kurzatmigen, vom innenpolitischen Augenblick geprägten Entscheidungen.

Di europäische Einigung hat von Beginn an einen langen Atem benötigt. Nur eine längerfristig angelegte Politik wird den Geboten von Binnenmarkt und Währungsunion gerecht sowie den wachsenden Herausforderungen, welche den Nationalstaat  überfordern und von der Globalisierung über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und dem internationalen Terrorismus radikal- muslimischer Prägung bis hin zu eklatanten Entwicklungsgefällen und daraus folgender Migration reichen.

Heute pflegen interessierte Kreise die Unterstellung, die beiden Nachkriegsgenerationen hätten europäischen Visionen angehangen, während man nun endlich wie Franzosen und Briten in der EU deutsche Interessenpolitik betreibe. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich im Wahlkampf sogar eines selbstbewussten „deutschen Weges“ in der Europa-Politik gerühmt. Dabei ist die Förderung deutscher Interessen durch das europäische Einigungswerk bereits seit Konrad Adenauer ein bestimmendes Motiv deutscher Europa-Politik. Das am Boden liegende geteilte Deutschland nutzte dafür sogar die sowjetische Bedrohung bzw. den Kalten Krieg aus. Bis in die neunziger Jahre hinein gingen europäische Visionen und nationales deutsches Interesse eine bewusst gepflegte und ausgesprochen ergiebige Symbiose ein, die zu Wiederaufstieg in Freiheit, Demokratie, Frieden und Wohlstand sowie nationaler Einheit entscheidend beitrug. Heute wird diese Symbiose in Frage gestellt. Es fehlt an Politikern, die willens und fähig sind darzulegen, warum europäische und nationale Interessen weiterhin übereinstimmen, warum deutsche Interessen nur im Einklang mit dem Gemeinschaftsinteresse der EU, also denjenigen der Partner, solidarisch gewahrt werden können, warum wahrer Patriotismus sich heute zugleich europäisch zu definieren hat.

Dank Adenauer nutzte die junge westdeutsche Bundesrepublik die Gelegenheit, um die schwierige Mittellage Deutschlands in Europa mit ihren wechselnden Allianzen und zwei verlorenen Weltkriegen als Folge zu überwinden und sich endgültig als fester Bestandteil im Westen zu verankern. Deutschland sollte nicht noch einmal zwischen sämtlichen Stühlen landen. Zu dieser Westbindung gehörte neben der europäischen Integration und dem Sonderverhältnis zu Frankreich das durch einen gewichtigen Wehrbeitrag untermauerte Bekenntnis zur NATO-Allianz und zu den als vital erkannten transatlantischen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Die Partnerschaft zu Frankreich sollte entsprechend der vom Bundestag beschlossenen Präambel des deutschen Ratifizierungsgesetzes zum Elysée-Vertrag das transatlantische Verhältnis nicht in Frage stellen. Gegenüber Frankreich und den USA hatte für die deutsche Politik insoweit das Prinzip der Äquidistanz zu gelten.

Wie weise dieser damals sehr umstrittene und von Charles de Gaulle heftig kritisierte Vorbehalt als Leitlinie deutscher Außenpolitik war, zeigte sich anlässlich der deutschen Einigung. Angesichts der Vorbehalte vor allem Margaret Thatchers, aber zunächst auch François Mitterrands und anderer, war es George Bush, der mit Helmut Kohl die deutsche Einheit in Freiheit und Sicherheit einschließlich der Mitgliedschaft des ganzen Deutschlands in der NATO durchsetzte. Der amerikanische Präsident begründete seine Haltung nicht zuletzt mit der Verlässlichkeit der Bundesrepublik als Bündnispartner der USA. Nur wenige Jahre später ist den deutsch-amerikanischen Beziehungen dieses Element der Verlässlichkeit abhanden gekommen. Dafür ist Deutschland von Frankreich noch abhängiger geworden.

Der Weg des europäischen Einigungsprozesses verlief nie geradlinig, war immer wieder von zu überwindenden Rückschlägen gekennzeichnet. So gab es Frankreichs Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Politik des „leeren Stuhles“ de Gaulles sowie Thatchers zur „Eurosklerosis“ führendes „I want my money back“. Das sollte man heute nicht vergessen.

Bei den Verhandlungen um die Schaffung der Europäischen Währungsunion war aus deutscher Sicht Ziel, das Bundessbanksystem und die positiven Erfahrungen mit der „harten“ D-Mark auf Europa zu übertragen. Zur flankierenden Disziplinierung der in nationaler Zuständigkeit verbliebenen Finanz- und Haushaltspolitiken wurde um die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und den Stabilitätspakt hart gerungen. Frankreich hatte insoweit starke Vorbehalte, vermochte sich gegenüber der entschlossenen deutschen Haltung jedoch nicht durchzusetzen. Dafür wurde ihm nur wenige Jahre später von der jetzigen Bundesregierung die Unterminierung des Stabilitätspakts frei Haus geliefert – für Partner und Märkte ein fragwürdiger Beleg für die Konsistenz deutscher Europa- und Finanzpolitik.1

Mit dem Ende der Zweiteilung Europas hat sich die strategische Lage in und um das wieder vereinigte Deutschland verändert. Die mittel-  und osteuropäischen Demokratien sind inzwischen Mitglieder von NATO und EU. Damit verwirklicht sich zu aller Vorteil die europäische Vision von der Einheit unseres Kontinents. Bulgarien und Rumänien sollen 2007 beitreten. Auch die Staaten des westlichen Balkans und dort zunächst Kroatien nähern sich beiden Organisationen mit dem Ziel ihrer Vollmitgliedschaft. Der bewährte NATO-Partner Türkei ringt um den ihm nach den vielen Zusagen der letzten 40 Jahre nicht zu verwehrenden und im europäischen Interesse liegenden Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Bei entsprechendem politischen Willen braucht die EU deswegen entgegen manchen Horrorszenarien weder überfordert noch „grenzenlos“ zu werden.2 Gegenüber den neuen Nachbarn des südlichen Mittelmeer-Raumes und Osteuropas wie Marokko, Russland, Ukraine u.a. geht es dagegen um die Entwicklung von Assoziationsbeziehungen unterhalb der Schwelle eines Vollbeitritts.

Stets muss die EU der Gefahr ihrer Überforderung durch parallele Vertiefung entgegenwirken. Nur so kann sie ihrem historischen Auftrag entsprechend zur Stabilisierung des ganzen Kontinents beitragen. Sie ist nicht nur eine auf wirtschaftliche Integration ausgerichtete Gemeinschaft und eine Union, die gemeinsame politische Interessen und Werte fördert, sondern zugleich eine sich aus strategischen Gründen erweiternde Stabilitätsgemeinschaft. Daher gilt es jetzt, den insgesamt positiv zu bewertenden Vertragsentwurf für die Unionsverfassung zu verabschieden. Künftig wird man ihn dann fortzuentwickeln haben.

Strategische Veränderungen

Bis 1990 waren beide deutschen Staaten zugleich so genannte Frontstaaten von höchster strategischer Bedeutung. Seither und erst recht nach dem 11. September 2001 gibt es vor allem einen europäischen „Frontstaat“, und das ist die Türkei. Deutschland dagegen ist zu einer im Herzen von Europa gelegenen, von Partnern umgebenen Mittelmacht geworden, geschwächt durch längere wirtschaftliche Stagnation sowie demographische und andere, zum Teil hausgemachte Probleme. Bei wachsendem nationalen Selbstbewusstsein ist es mit sich selbst und seinem Reformstau beschäftigt, hin und her schwankend zwischen dem Erfordernis weltweiter Verantwortung bei vernachlässigten eigenen Kapazitäten und der Vision von einer „Zivilmacht“, einer „großen Schweiz“, zwischen föderal geprägten Vorschlägen für die EU- Verfassung und Verstößen gegen Vertragsregeln sowie Kommissionsschelte.

Deutschlands Probleme wären überwindbar, wenn sie nicht wegen seines aus den Fugen geratenen Föderalismus eine seine Handlungsfähigkeit dauerhaft einschränkende Komponente enthielten. Dabei geht es weniger um zum Teil kaum lebensfähige Bundesländer, um unkoordinierte Wahltermine oder das extensive Mitentscheidungsrecht der Bundesländer in der Gesetzgebung wie in der Europa-Politik. Deutschlands eigentlicher Schwachpunkt ist das Bundesratsmodell – im Gegensatz zum etwa in den USA gültigen Senatsmodell.3 Im exekutivlastigen Bundesrat sind die Ministerpräsidenten in der Regel nach kurzer Zeit mehrheitlich von entgegengesetzter politischer Färbung als die jeweilige Bundesregierung. Auch deshalb gibt es in Deutschland bei wachsenden Verteilungskämpfen keine überzeugenden Reformschritte mehr.

Seit 1990 hat Europa global-strategisch für die Supermacht USA an Bedeutung verloren, was in Paris und Berlin Frustrationen ausgelöst hat. Für die USA haben Asien und dort vor allem China, der Nahe Osten und die vom eurasischen Krisengürtel ausgehende Gefahr des Terrorismus als Konfliktherde Vorrang. Hier besteht, bei gewissen Meinungsunterschieden, etwa zum Vorgehen gegen „Schurkenstaaten“, eine Interessenidentität zwischen EU und USA. Denn internationaler Terrorismus wie Kriminalität, Massenvernichtungswaffen, klimatische Veränderungen oder illegale Einwanderer kennen keine Grenzen. Die Bevölkerungsexplosion im nördlichen Afrika und islamische Fundamentalisten, durch den Nahost-Konflikt zusätzlich radikalisiert, bedrohen die EU aus unmittelbarer Nachbarschaft.

1989/90 schien für Europa „das Ende der Geschichte“ erreicht. Spätestens seit den Madrider Terrorakten des 11. März 2004 weiß es nun, dass die Rote Armee als Bedrohungsfaktor durch eine noch größere, weil irrationale und sich nicht abschrecken lassende Gefahr ersetzt worden ist. Dagegen sind eine strategische Partnerschaft mit den USA und eigene Kapazitäten, etwa bewegliche Truppenverbände, die im engen Verbund mit der NATO zu schnellem weltweiten Einsatz befähigt sind, sowie eine wieder florierende Wirtschaft erforderlich. Zugleich muss sich die EU verstärkt ihrer verwundbaren Südflanke zuwenden. Das beinhaltet eine konkrete Auseinandersetzung mit den ungelösten ethnischen Konflikten des Balkans, insbesondere Kosovos, eine volle Würdigung der strategischen Bedeutung der Türkei sowie eine dynamische Nahost- und Mittelmeer-Politik. Innerhalb der EU muss für eine wirksamere Koordinierung der Antiterrormaßnahmen auf EU-Ebene gesorgt werden. Das erfordert vor allem eine wirksamere Vernetzung von Daten und Informationen, einen Europäischen Haftbefehl und operative Kompetenzen für EUROPOL bis hin zum Einsatz gemischt-europäischer Polizeiteams. „Al Khaïda“ bedeutet „Netzwerk“ und wirkt grenzüberschreitend, ja weltweit. Effizienzgesichtspunkte relativieren somit nationale Kompetenzvorbehalte, auch solche deutscher Bundesländer. Der radikal-muslimische Terrorismus  zwingt zu mehr Europa.

Der immer noch ausstehende Abschluss der Regierungskonferenz zum Verfassungsvertrag passt nicht in diese Lage. Die Europäische Union hat sich um zehn neue Mitgliedstaaten erweitert, ohne darauf institutionell vorbereitet zu sein. Bei den Blockadehaltungen Spaniens und Polens beim Brüsseler Verfassungsgipfel vom Dezember 2003 vermischten sich Statusfragen und solche der Innenpolitik mit finanziellen Forderungen. Auch andere Mitgliedstaaten wie etwa Großbritannien hatten und haben ihre Vorbehalte. In Deutschland verlangt die CDU/CSU, dass jede künftige Ausdehnung von Mehrheitsbeschlüssen sowie jede Eröffnung von Beitrittsverhandlungen (Türkei!) von der vorherigen Zustimmung des Bundestags abhängig gemacht wird. Damit würden die Funktionsfähigkeit der EU wie die deutsche Handlungsfähigkeit in ihr weiter eingeschränkt.

Der Streit vornehmlich um die Abstimmungsregeln des Verfassungsvertrags kann angesichts einer flexibleren Haltung der neuen spanischen Regierung hoffentlich bald überwunden werden. Im Gegensatz zu den Blockaden fördernden Regeln von Nizza4 ist der Vorschlag einer „doppelten Mehrheit“ fairer und vor allem geeignet, die Entscheidungsfähigkeit der Union zu stärken, vorausgesetzt die vom Konvent unterbreiteten Entscheidungsschwellen werden nicht erhöht, sondern eher verringert, und die der Einstimmigkeit vorbehaltenen Ausnahmen bleiben begrenzt. Eine Verknüpfung des Streites um den Abstimmungsmodus mit dem um die künftige Finanzierung der EU-Politiken für die Periode nach 2006 sollte jedenfalls vermieden werden. Das könnte zu einer tief greifenden Krise führen. Denn in der Union ist das Verhältnis zwischen „großen“ und „kleinen“ wie „alten“ und „neuen“ Mitgliedern als Folge des deutsch-französischen Vorgehens im Irak-Konflikt wie beim Stabilitätspakt, von Spielereien mit einer „Achse Paris-Berlin-Moskau“ und von zu „Pioniergruppen“ stilisierten Sondertreffen bereits hinreichend gestört.

Gelingt es dagegen, den Verfassungsstreit vorab zu lösen, dürfte auch der notwendige Kompromiss zum Finanzpaket für die Periode 2007–2013 eher zu erzielen sein. Bei allem Verständnis für den Brief der sechs Nettozahler5 sind die von den Regierungschefs beschlossenen EU-Politiken solidarisch zu finanzieren. Dabei werden die bisherigen Nettoempfänger schrittweise zugunsten der Neuen Verzicht üben müssen. Auch die bis 2013 festgeschriebenen hohen Agrarsubventionen der EU dürften im Rahmen eines Gesamtpakets der Welthandelsorganisation zum Abschluss der Doha-Runde über die Liberalisierung des Welthandels abzusenken sein.

Widersprüche

Es gibt manche Mitverantwortliche für die Widersprüche in der heutigen Europa-Politik. Die Neigung zu nationalen und von der Innenpolitik bestimmten Betrachtungsweisen, zu zwischenstaatlichem Handeln zu Lasten von Integration und Kommission nimmt allgemein zu. Der selbst ernannte deutsch-französische Motor der Integration stottert. Bei der Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht liegen ausgerechnet Frankreich und Deutschland mit jeweils bis zu 60 nicht umgesetzten Richtlinien am Ende der Skala sämtlicher Mitglieder. Zugleich ist der französisch-deutsche Führungsanspruch durch mit Ungeschicklichkeit gepaarte Überheblichkeit relativiert worden. Eine stärkere zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen mit dem euroskeptischen Großbritannien wird hier schwerlich Ersatz bieten können.

Eines der Probleme liegt darin, dass die deutsche Außen- und Europa-Politik ihren Kompass verloren hat vor lauter aus dem Augenblick heraus getroffenen Entscheidungen. Sie ist damit zugleich unberechenbarer geworden. Bei aller Pflegebedürftigkeit des deutsch-französischen Sonderverhältnisses darf dieses sich nicht zum Nachteil der transatlantischen Partnerschaft und des inneren Zusammenhalts der ganzen Union auswirken. Deutschland muss wieder mehr Sensibilität entwickeln gegenüber den Interessen seiner übrigen Partner, gerade auch den „kleinen“ und „neuen“ unter ihnen. Das erfordert nicht zuletzt mehr Respekt vor Vertragsregeln und der Rolle der Kommission, denn beide üben zugleich Schutzfunktionen zugunsten der „Kleinen“ aus, die mindestens 19 der 25 EU-Mitglieder ausmachen. Und was das Verhältnis zur Supermacht USA betrifft, so darf moralisierende Rechthaberei nicht den Sinn für die internationale Wirklichkeit verdrängen. Zu dieser Realität gehört auch eine stärkere sicherheitspolitische Ausrichtung der neuen EU- Mitglieder auf die USA.

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung sich inzwischen darum bemüht, zurückzurudern, und dies im Verbund mit Frankreich und unter Assistenz Großbritanniens. Die Äußerungen von Außenminister Joschka Fischer zur „Rekonstruktion des Westens“6 und eine die Türkei umfassende „strategische Dimension“ der ganzen EU leuchten ein, soweit dabei von einer künftig über den Verfassungsvertrag hinaus gehenden Vertiefung der Union ausgegangen wird. Hinter dem Gerede über ein „Kerneuropa“ hat aus integrationspolitischer Sicht nie eine echte Alternative gestanden. Ohne Gefährdung von Binnenmarkt und Währung bleibt es schwer vorstellbar, das Ganze in wichtigen Teilbereichen durch einen sich exklusiv gebärdenden Teilnehmerkreis voranzubringen. Die Gefahr, dass sich auf diese Weise die Union auseinander dividiert, ist zu groß.

Geschwindigkeiten

Seit Amsterdam sieht der Vertrag daher bereits eine Art Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten vor, die so genannte „verstärkte Zusammenarbeit“ offener und variabler Gruppierungen, dies jedoch strikt unter dem Dach der Union und bei Beachtung dafür vorgesehener Vertragsregeln. Schengen und Währungsunion sind bislang solche Anwendungsfälle und dienen einer Dynamisierung der Europa-Politik ohne Gefährdung des Ganzen. Maßnahmen des Antiterrorkampfs im Bereich der Innen- und Justizpolitik könnten ein weiterer werden. Vor allem kommt die zwischenstaatlich organisierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik dafür in Frage. Der Verfassungsentwurf geht hier über Nizza hinaus. Die vorgesehene „strukturierte“ Zusammenarbeit soll zugleich die NATO über deren europäischen Pfeiler stärken. Das schließt mehr oder weniger autonome europäische Operationen in Fällen amerikanischen Desinteresses nicht aus, sofern die europäischen und nicht zuletzt deutschen Potenziale dazu ausreichen.7

Europa ist so stark wie die Summe seiner Mitgliedstaaten. Deswegen bleibt die EU auf den vollen Beitrag des größten Mitgliedes Deutschland besonders angewiesen. Dieses aber zieht die EU heute eher herab. Deutschland hat sich somit seiner europäischen Verantwortung zu stellen. Es benötigt ein in sich schlüssiges europapolitisches Konzept und die Fähigkeit zu dessen Umsetzung. Derzeit fehlen ihm dazu die wirtschaftlichen wie politisch-institutionellen Voraussetzungen. Das trifft im Bereich von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, erst recht im Hinblick auf die Verwirklichung der reichlich ambitiösen Agenda 2010 zu.

Bei allem Anpassungsbedarf an neue Herausforderungen und veränderte strategische Rahmenbedingungen gelten die von der Bonner Republik entwickelten Grundlinien deutscher Europa-Politik weiter. Deutschlands Interessen erfordern eine starke, nach innen wie außen funktionsfähige EU, die zugleich als transatlantischer Partner der USA von Gewicht ihren Einfluss geltend machen kann.

Im Zeitalter der Globalisierung erwachsen der Europäischen Union aus ihren Erweiterungen nicht nur Lasten, sondern vor allem große geostrategische und ökonomische Vorteile. Die Union muss sich in die Lage versetzen, diese zu nutzen. Dazu gehört, dass man sich über echte Strukturreformen dem Wettbewerb stellt und zugleich unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zur weiteren Stärkung der Kompetenzen wie der Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen überall dort bereit ist, wo der Nationalstaat auf sich allein gestellt die Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zu meistern vermag. Als fester und wirksamer Handlungsrahmen bleibt die Europäische Union für Deutschland unverzichtbar. Entsprechend gefordert ist die deutsche Politik in und für Europa.

Anmerkungen

1Wie die Welteke-Affäre im April 2004 gezeigt hat, steht die Unabhängigkeit der Bundesbank in Berlin nicht immer allzu hoch im Kurs. Vgl. zum Rücktritt des Bundesbankpräsidenten Ernst Welteke u.a. Wolfgang Münchau, Scheitern einer Institution, in: Financial Times Deutschland, 13.4.2004.

2Vgl. dazu von Kyaw, Grenzen der Erweiterung. Die Türkei ist ein Teil des „Projekts Europa“, in: Internationale Politik (IP), 3/2003, S.47–54.

3Ders. in: Financial Times, 30.7.2003; vgl. das Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in: Die Welt, 10.4.2004.

4Vgl. von Kyaw, Weichenstellungen des EU-Gipfels in Nizza, in:IP, 2/2001, S. 5–12.

5Brief abgedruckt in: IP, 4/2004, S. 115 f.

6Vgl. dazu das Interview Fischers in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.2004, abgedruckt in: IP, 4/2004, S. 128 ff.

7Vgl. die Vorschläge der italienischen Präsidentschaft zur ESVP, in: IP, 4/2004, S.112ff.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 97-103

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