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01. Okt. 2005

Der Fisch stinkt vom Kopfe her

Und vom Kern: Wege aus der Krise der Europäischen Union

Das vereinigte Europa krankt an schwachem Führungspersonal, vor allem in den Kernstaaten der EU. Daher werden die Probleme nicht entschlossen angegangen, die verunsicherten Bürger nutzen EU-Referenden, um ihren Unmut über nationale Regierungen auszudrücken, es herrscht Verwirrung über Weg, Ziel und Sinn der Union. Doch der Druck, Europa – auch ökonomisch – wieder fit zu machen, wird zunehmen. Zur fortgesetzten Vertiefung wie Erweiterung der EU gibt es keine Alternative.

Kein Zweifel, das europäische Einigungswerk befindet sich in einer Krise. Optimisten verweisen darauf, dass es solche auch früher gegeben hat: etwa bei der Ablehnung der Euro-päischen Verteidigungsgemeinschaft durch Frankreich, bei de Gaulles Politik des „leeren Stuhles“ gegen die von der Kommission unter Walter Hallstein verfolgte supranationale Linie oder während der jahrelangen „Eurosklerose“ als Folge von Maggie Thatchers Politik des „I want my money back“. Bei der Bewältigung dieser Krisen half indirekt die Bedrohung durch die Sowjetunion. Die befassten Politiker hatten den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt. Auch war die Zahl der EG-Mitglieder kleiner, die Gemeinschaft homogener.

Heute dagegen ist das sowjetische Imperium zerbrochen, Europa wächst zusammen, es mehren sich – bei demnächst bis zu 30 Mitgliedstaaten – die Fragen nach den Grenzen, der Finalität und dem Zusammenhalt der Union. Je rascher diese sich der Verwirklichung ihres vertraglich festgelegten historischen Zieles nähert, nämlich der Einigung aller europäischen Völker unter ihrem Dach, desto größer wird der Zwang, die Union weiter zu vertiefen und weitere Kernzuständigkeiten nationaler Souveränität auf die Brüsseler Institutionen zu übertragen. Gegen beides wächst in Mitgliedstaaten der Widerspruch.

Der Zwang zu immer mehr – die nationale Substanz berührendem –Souveränitätsverzicht in Bereichen, in denen der Nationalstaat seine Lösungskapazität verloren hat, wird von der heutigen Generation nicht hinreichend erkannt; das verbreitete historische Kurzzeitgedächtnis vernachlässigt den stabilitäts- und friedenssichernden Charakter des europäischen Einigungswerks; auch die Herausforderungen unserer globalisierten Welt werden nicht genügend beachtet. Zu positiver Führung bereite Persönlichkeiten sind unter den Politikern Europas – jedenfalls in den großen Mitgliedstaaten – derzeit nicht zu erkennen. Großbritannien hat unter Tony Blair den insular bestimmten Nationalismus einer ehemaligen Weltmacht nicht abgelegt. Deutschland, durch negative demographische und wirtschaftliche Entwicklungen geschwächt, ringt mit seiner durch exzessiven Föderalismus geförderten Reformunfähigkeit und Provinzialität; französische Wähler verweigern sich angesichts eines immer deutlicher werdenden Niedergangs ihren außenpolitisch weiterhin zur Selbst-überschätzung neigenden Eliten.

Mit ihrem Unvermögen, angesichts der unausweichlichen Kräfte der Globalisierung die erforderlichen internen Anpassungen vorzunehmen und den europäischen Zusammenschluss als einziges Mittel zur effektiven Wahrung gemeinsamer Interessen überzeugend zu vermitteln, tragen die politischen Klassen in den EU-Mitgliedstaaten zur allgemeinen Verunsicherung bei. In den Demokratien europäischer Prägung wird es immer schwieriger, Probleme des Gemeinwohls zu erkennen und zu lösen. Um vom eigenen Versagen abzulenken, stempeln nationale Politiker die Brüsseler Institutionen gern zum „Sündenbock“. Über das Ergebnis solcher populistischen Politik – Ablehnung der EU bei den Bürgern – sollte sich allerdings niemand wundern.

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo Deutschland demographisch wie ökonomisch „schrumpft“, seine Arbeitslosigkeit offiziell bei zwölf Prozent liegt, die staatliche Verschuldung Rekorddimensionen erreicht hat und die Bundeswehr an mangelhafter Ausstattung leidet, proklamierte der deutsche Bundeskanzler den „deutschen Weg“ einer selbstbewussten Mittelmacht, die endlich gelernt habe, „aufrecht“ zu gehen. Was darunter zu verstehen sei, wurde Europa dann bei der innenpolitisch motivierten Demontage des Stabilitätspakts demonstriert. Dieser grobe, den Stabilitätskonsens in der Währungsunion untergrabende, von Frankreich und Italien eigennützig unterstützte Auftritt trug zur niederländischen Ablehnung des Verfassungsvertrags bei.

Die heutige, zu sehr an internem Machterhalt ausgerichtete  Politikergeneration in den EU-Mitgliedstaaten  greift nur zu bereitwillig auf das Instrument des Referendums zurück. Angeblich soll durch direkte Demokratie größtmögliche „Bürgernähe“ hergestellt werden. In Wirklichkeit jedoch wird politische Verantwortung – wie beim zur „Verfassung“ hochgejubelten Verfassungsvertrag – abgeladen, um im Falle eines Nein unbeschadet weiter regieren zu können. Diese betont unverbindliche Praxis fordert das unreflektierte Abreagieren des diffusen Unbehagens der Wähler geradezu heraus. Es zeugt von erheblicher Verantwortungslosigkeit, den überaus komplexen und von Kompromissen zwischen 25 Mitgliedstaaten bestimmten „Verfassungsvertrag“ einer unvorbereiteten Wählerschaft auszuliefern. Das konnte nicht gut gehen, und das wird es auch künftig nicht bei so vielen Mitgliedstaaten – es sei denn, man veranstaltet ein einheitliches Referendum, das gleichzeitig in der gesamten Union abgehalten wird. Das jedoch ist derzeit schwer vorstellbar.

Wie soll es nun weitergehen?

Zur Verdeckung von Ratlosigkeit und Meinungsunterschieden hat sich die europäische Politik zunächst eine „Denkpause“ auferlegt. Die ist sicher überfällig. Aber was genau soll dabei herauskommen?

In Deutschland könnte es nach den Wahlen zu neuen Impulsen auch in der Europa-Politik kommen. Doch der Vorzugspartner Frankreich wird unter Führung von Staatspräsident Jacques Chirac, diesem von den Wählern delegitimierten „Vabanque-Spieler“ zu Lasten Europas, bis zu den Wahlen 2007 eher in alten Gleisen verharren. Der sich um Chiracs Nachfolge bemühende Innenminister Nicolas Sarkozy möchte das deutsch-französische Tandem um weitere „Große“ wie Spanien, Großbritannien und Italien erweitern. Dabei besteht die EU aus immerhin 19 „kleineren“ und nur sechs „größeren“ Mitgliedstaaten! Sarkozy vertritt traditionelle gaullistische Vorstellungen vom Wesen der Europäischen Union und hat unter deutscher Beteiligung bereits bewirkt, die Zusammenarbeit der EU-Innenminister durch eine „G-5“ der „Großen“(ohne Polen) zu belasten. Hinter seinem Handeln stehen überholte Vorstellungen von einer „Avant-garde“, einem nach der zwischenstaatlichen Methode zur Führung berufenen „Kerneuropa“.

Dabei haben doch gerade zwei Urmitglieder der EG, nämlich Frankreich und die Niederlande, den Verfassungsvertrag abgelehnt! Insbesondere in Frankreich haben ökonomische und soziale Gesichtspunkte die Protestwahl mitbestimmt. Die „Kernstaaten“ Deutschland, Frankreich und Italien haben in den vergangenen Jahren durch unzulängliche Reformen anhaltend schlechtes Wirtschaftswachstum verursacht und damit die Schwächung der EU wie die Ängste ihrer Bürger befördert. Der europäische Fisch „stinkt“ von seinem Kopf her – aber auch von seinem „Kern“. Hier für Abhilfe zu sorgen, muss vorrangiges Ziel des deutsch-französischen Tandems werden.

Was die Bürger wollen

Die wirtschaftliche und soziale Malaise einerseits, die wachsende Furcht der Bürger vor Globalisierung und Osterweiterung andererseits, führen zur Erkenntnis, dass die Krise der europäischen Politik weniger mit Hilfe größerer Transparenz und Bürgernähe zu überwinden ist, als viel mehr durch eine zielstrebige, europäisch abgestimmte Förderung von wirtschaftlichem Wachstum. Mehr Deregulierung und Flexibilisierung tun Not, ebenso verstärkte Anstrengungen bei Forschung, Innovation und Bildung. Die Umsetzung des Lissabonner Programms zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit – neben weiteren Liberalisierungsschritten insbesondere im Dienstleistungsbereich – muss schwerpunktmäßig mit mehr Druck („peer pressure“) und transparenter Rechenschaftspflicht gegenüber den Mitgliedsstaaten betrieben werden. Die EU-Bürger erwarten von der europäischen wie nationalen Politik, dass ihre Probleme entschieden angegangen und gelöst werden. Sie verlangen Bereitschaft zu konkretem Handeln, sie durchschauen zunehmend das tatenlose Gerede der Politiker. Trotz wachsender Skepsis gegenüber Europa waren die beiden verlorenen Referenden weniger eine Absage an Europa als ein negatives Urteil über die jeweilige nationale Politik. Europas Zusammenschluss bleibt stark von der Wirtschaft und von sozialen Aspekten her bestimmt – da hat Tony Blair Recht.

Ganz nach dem Willen britischer Euroskeptiker und französischer „Souveränisten“ versuchen nun manche, den Verfassungsvertrag für tot zu erklären. Damit erweisen sie sich nicht nur als schlechte, weil vorgestrige Europäer, sondern auch als fragwürdige Demokraten. Denn immerhin haben bereits mehr als die Hälfte aller Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert, und nach einer kürzlichen „Eurobarometer-Umfrage“ sprechen sich 61 Prozent der befragten EU-Bürger weiterhin für einen Verfassungsvertrag aus.

Jean-Claude Juncker, dieses selten gewordene Exemplar eines europäischen Ministerpräsidenten mit Mut und Weitblick, hat gezeigt, worauf es in Europa weiter ankommt: Je mehr Mitgliedstaaten den Vertrag ratifizieren, desto größer ist die Chance des Inkrafttretens wesentlicher Elemente zu einem geeigneten späteren Zeitpunkt. Es bleibt auszuloten, ob das dann über fortgesetzte Ratifizierungen einschließlich wiederholter Referenden geschehen kann, über zwei getrennte Ratifizierungsvorgänge zu den „verfassungsrelevanten“ Teilen I und II  und dem eher „technischen“ Teil III, über Ausnahmeregelungen („opt outs“) wie beim Vertrag von Maastricht im Falle Dänemarks, über die Aushandlung eines „neuen“ Vertrags oder lediglich über Ergänzungen des Vertrags von Nizza. Jedenfalls ist die erweiterte EU auf der Basis des Vertrags von Nizza nicht funktionsfähig. Sie bleibt angewiesen auf die Übernahme der institutionellen Bestimmungen des Verfassungsvertrages – einschließlich einer doppelten Mehrheit bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in weiteren Bereichen sowie auf die Verfestigung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Für die Akzeptanz bei den Bürgern sind die Bestimmungen zum Subsidiaritätsprinzip und der Grundrechtskatalog wichtig.

Der Druck, Europa wieder fit zu machen, wird zunehmen. Dazu werden die Kräfte der Globalisierung und transnationale Gefährdungen wie der internationale Terrorismus, der Aufstieg Asiens und der wachsende Wettbewerb mit den USA, Russland, China, Indien, Japan, Brasilien u.a. beim Welthandel wie bei der Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung beitragen. Die EU muss im ureigensten Interesse nach innen den Binnenmarkt sowie den wirtschaftspolitischen Rahmen für die gemeinsame Währung, den Euro, festigen; nach außen muss sie den europäischen Kontinent und dessen benachbarte Regionen stabilisieren. Wie leicht die Union von ihren Nachbarn her bedroht werden kann, hat die Jugoslawien-Krise gezeigt. Der Balkan wie der Nahe Osten bleiben labil, die osteuropäischen Staaten sind nicht nur in ihrer Energieversorgung von einem Russland abhängig, dessen Präsident die Orientierungs-losigkeit der russischen Gesellschaft durch autoritäres Handeln zu kompensieren sucht.

Ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung dieser Instabilitäten sind die Attraktivität und die „soft power“ der EU. Sie gilt es bei erneuertem Schulterschluss mit den USA – und soweit möglich ohne Konfrontation mit Russland – zu erhalten. Die derzeitige, von Selbstzweifeln genährte Europamüdigkeit muss überwunden werden. Denn ohne die realistische Aussicht auf Verwirklichung der in Art. 49 des Vertrags von Nizza vorgesehenen Möglichkeit des Vollbeitritts für sämtliche hinreichend vorbereiteten „europäischen“ Staaten wird sich die EU selbst sicherheitspolitisch wie ökonomisch ernsthaft beschädigen. Die Kandidaten würden die Kraft verlieren, ihre schmerzhaften Reformkurse zur Umsetzung europäischer Standards fortzuführen.

Ähnlich groß wie die Gefahr einer Überdehnung der EU ist die ihrer Destabilisierung von den Rändern her. Dem kann die EU bei aller Sorgfalt und notfalls Tempodrosselung in den Beitrittsprozessen nur durch fortgesetzte eigene Vertiefung und Steigerung der Effizienz ihrer Institutionen begegnen. Die Europa-Politik eignet sich denkbar schlecht für verträumtes Wunschdenken oder intellektuelle Hochreckübungen. Denn sie ist vor allem eine sehr reale Angelegenheit gemeinsamer Interessenförderung. Die Umsetzung konkreter Politiken sollte verbessert werden, aber ihre erprobte prinzipielle Ausrichtung darf sich nicht ändern.

 Gemäß dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ müssen gegebene Zusagen zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, wenn die Kandidaten die Voraussetzungen erfüllen, eingehalten werden. „Grenzen“ wie „Finalität“ der EU ergeben sich aus den vertraglichen Bestimmungen und dem politischen Willen der Regierungen der Mitgliedstaaten. Wenn Mitgliedstaaten der EU sich gegenüber Kandidaten auf mangelnde Aufnahmefähigkeit berufen, zeigen sie damit an, dass sie sich die Erledigung ihrer Hausaufgaben nicht zutrauen.

So hätten ohne eine realistische Beitrittsperspektive für den westlichen Balkan Soldaten aus der EU dort noch länger ihren gefahren- und kostenträchtigen Dienst zu leisten. Wer die Türkei entgegen gegebenen Zusagen mit einer (bereits weitgehend bestehenden) „privilegierten Partnerschaft“ anstelle einer Vollmitgliedschaft abspeisen will, der verletzt  diesen verlässlichen, demokratischen und strategisch unersetzlichen Partner; zudem stürzt er ihn in eine Identitätskrise und stößt ihn von Europa weg in Richtung Iran und Russland sowie in die Arme des islamischen Fundamentalismus. Die Front des Antiterrorkampfs würde ausgerechnet an einer Nahtstelle des Krisenbogens, der heute von Marokko bis Nordkorea reicht, geschwächt; und der islamischen Welt würde signalisiert, dass selbst eine säkulare Republik Türkei trotz all ihrer Reformschritte in Richtung Westen von einer wortbrüchigen, sich „abendländisch-christlich“ gebärdenden EU zurückgewiesen wird.

Eine solche Entwicklung würde die EU über ihren  „weichen Unterleib“ zum Mittelmeer hin zusätzlich gefährden. Und wer der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten die Perspektive nimmt, eines Tages beitreten zu können, der hätte sich auf ein wieder entstehendes „Großrussland“ mit allen geostrategischen Folgen einzustellen.

Es wird Zeit, dass Europas nationale  Politiker wieder strategischer denken und den Mut aufbringen, ihren Bürgern die Wahrheit über Rolle und Bedeutung der EU zu sagen. Letztlich vermag kein EU-Mitgliedstaat der Erkenntnis auszuweichen, dass mittel- bis langfristig der Prozess einer schrittweisen Ausdehnung der Union auf den ganzen Kontinent – einschließlich der Türkei, aber mit Ausnahme Russlands – unausweichlich bleibt. Die Union hat sich darauf institutionell vorzubereiten, aber auch budgetär durch eine angemessene Finanzvorausschau für die Jahre 2007 bis 2013. Reformen der Agrarpolitik und des „Britenrabatts“ sind unerlässlich. Nettozahler und -empfänger müssen Kompromisse eingehen.

Wer meint, sich den dargelegten Zwängen der Union entziehen und das europäische Rad neu erfinden zu können, der irrt. Die Folge solcher Experimente wären eine gravierende politische und ökonomische Schwächung der EU, ihre Renationalisierung, eine Destabilisierung des westlichen Balkans wie Osteuropas und große sicherheitspolitische Risiken.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 91 - 95

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