Russische Routine, deutsche Deutung
Buchkritik
Die Sowjetunion war eine Weltmacht – die „andere Supermacht“ neben den USA, die Führungsmacht des „sozialistischen Lagers“. Heute ist die Russländische Föderation, größter der Nachfolgestaaten, militärisch, wirtschaftlich und politisch allenfalls eine Mittelmacht. Zudem ein Staat, dem das Ausland kaum noch Sympathie entgegenbringt. Die Euphorie der Gorbatschow-Jahre und der Optimismus der Jelzin-Ära ist durch Skepsis, Misstrauen und Desinteresse abgelöst worden. Daran ist gewiss auch die Entwicklung in Russland schuld, die die Erwartungen auf eine rasche Demokratisierung nicht erfüllt hat. Doch Russland ist immer noch ein wichtiger Partner deutscher und ein relevanter Akteur internationaler Politik. Es ist ein Nachbar geworden, ein interessanter Markt für die deutsche Wirtschaft und ein wichtiger Energielieferant Europas.
Indes tun sich in Deutschland Öffentlichkeit und Politik mitunter schwer, daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Gewiss haben Kohl und Schröder enge persönliche Verbindungen zu den jeweiligen russischen Präsidenten aufgebaut und für ihre Politik genutzt. Doch als der Außenminister im März 2004 seine „Rekonstruktion des Westens“ zur Diskussion stellte, suchte man Osteuropa und Russland in diesem politischen Entwurf vergebens. Der Osten Europas kam nicht darin vor.
Es ist wohl auch eine Reaktion auf diesen weißen Fleck, wenn Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, jetzt ein Buch vorlegt, das sich mit Russland und der Perzeption Russlands im Westen auseinander setzt. Erler will russische Gegenwartspolitik erklären. Dazu setzt er bei den Ereignissen an, über die Russland im letzten Jahr in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde – die schreckliche Geiselnahme in Beslan, der problematische Prozess gegen den Finanzmagnaten Chodorkowskij und die „Orangene Revolution“ in der Ukraine.
Die Geiselnahme in Beslan spiegelt in mehrfacher Weise Fehlentwicklungen russischer Politik wider. Die Tat selbst ist die terroristische Reaktion auf den verfehlten Versuch der russischen Führung, Tschetschenien durch einen militärischen Einmarsch in den russischen Staat zu integrieren und gewaltsam Ordnung herzustellen. Zwar wurde die militärische Kraft des tschetschenischen Widerstands gebrochen, doch wechselte dieser seine Taktik und initiierte einen Terrorkrieg, der den Kaukasus überspannt und bis nach Moskau reicht. Erler zeigt, wie der russische Präsident das Versagen der Sicherheitsorgane bei der Geiselnahme zum Anlass nahm, um das politische System zu reorganisieren. Putin setzte offenbar lange geplante politische Veränderungen in Gang, die darauf abzielten, die gesamte Macht in der Hand der Zentrale zu konzentrieren. Der Band skizziert diese im Einzelnen – die Abschaffung der Direktwahl für die Gouverneure, die Einführung eines Verhältniswahlrechts für das Parlament und die Schaffung einer „Gesellschaftskammer“, die offenbar die Bürgergesellschaft in einen Obrigkeitsstaat einbinden soll – und zeigt, wie diese das demokratische Element weiter schwächen.
Der Öl- und Finanzmagnat Chodorkowskij, der in den neunziger Jahren nicht eben zimperlich vorging, als er sein Firmenimperium zusammenraffte, wurde bekanntlich in einem rechtlich zweifelhaften Verfahren zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Der Erdölgigant Jukos, dem Chodorkowskij vorstand, wurde zerschlagen, die wichtigsten Förderregionen auf zwielichtigen Umwegen in den Besitz einer staatlichen Ölfirma überführt. Erler analysiert den Fall in seiner politischen Dimension und macht deutlich, auf welche zweifelhafte Weise so ein potenzieller politischer Rivale ausgeschaltet wurde.
Die „orangene Revolution“ in der Ukraine ist der dritte Fall, den der Autor aufgreift. Er schildert, wie die versuchte Fälschung der ukrainischen Wahlen Widerstand in der Bevölkerung auslöste, der schließlich zur Wahl des Oppositionskandidaten Juschtschenko führte. Die Regierung Putin hatte den Gegenkandidaten Janukowitsch favorisiert. Erler zeigt nicht nur, dass die russische Unterstützung für Janukowitsch von unrealistischen Voraussetzungen ausging. Er geht auch der Frage nach, warum sich die russische Führung so ungeschickt verhalten hat. Die Gründe dafür sieht er vor allem in einer historisch gewachsenen großrussischen Selbstgewissheit, verbunden mit einem vollkommenen Unverständnis für die ukrainische Situation. Und so wurden die Wahlen in der Ukraine zu einem Desaster russischer Außenpolitik.
Erler gibt eine bei aller Kürze differenzierte Darstellung der schwierigen und widersprüchlichen Situation, in der sich Russland befindet. Dabei wird die Putin-Regierung nicht geschont. Erler legt den Finger in die Wunde, wenn er die Skrupellosigkeit der herrschenden Gruppe, ihre Engstirnigkeit und ihren autoritären Charakter aufzeigt, die ursächlich sind für die politischen Fehler, die sie im Kaukasus und in der Ukraine begangen hat. Der Autor fällt dennoch kein kurzatmiges Urteil. Indem er den historischen Kontext und den schwierigen Weg beschreibt, den die russische Gesellschaft seit dem Zerfall der UdSSR zurückgelegt hat, ebnet er einer sachlichen Auseinandersetzung mit problematischen Entwicklungen in der russischen Politik den Weg. Insofern hebt sich Erlers knappe Bestandsaufnahme wohltuend von den mit Vorurteilen aufgeladenen Wertungen ab, die in letzter Zeit das westliche Russland-Bild bestimmen.
Wiederholt geht der Autor auf die Rolle des Westens ein – auf das politische Handeln der EU und das Verhalten Deutschlands. Hier hätte man sich gewünscht, dass sich der Außenpolitiker Erler klarer äußert; dass er sich konzeptionell weiter vorwagt und Grundlinien einer Ostpolitik, einer Politik gegenüber den „neuen Nachbarn“ der Europäischen Union entwirft, Elemente einer Strategie für eine aktive deutsche Politik gegen-über dem Raum jenseits der EU-Grenzen. Gerade vor dem Hintergrund der differenzierten Behandlung der russischen Entwicklung wäre dies notwendig und von großem Interesse gewesen.
Doch Gernot Erler will erklären. Er will nicht emotionalisieren, er will Russland nicht mit Etiketten versehen. Er gibt sich nicht mit einfachen Deutungen zufrieden. Ein Verweis auf das Persönlichkeitsprofil des Präsidenten oder auf seine Geheimdienstvergangenheit genügt dem Autor nicht. Was er anbietet, ist ein komplexer Zugang zu einem Land mit schwieriger Geschichte. Das ist ein mutiges Unterfangen in einer Medienwelt, in der man mit Personalisierung und Skandalisierung viel eher Aufsehen erregt.
Erler versucht russische Politik in ihren historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen darzustellen. Das ist unspektakulär. Aber es öffnet dem Leser den Blick für die Komplexität der russischen Entwicklung – die großen Fortschritte, die diese Gesellschaft gemacht hat, die Hindernisse für die Entfaltung politischer Selbstbestimmung, die Risiken und die Chancen. Auf knappem Raum entwirft der Autor in einfacher Sprache ein präzises und vielschichtiges Bild russischer Politik. Wer sich ernsthaft mit dem gegenwärtigen Russland auseinander setzen will, dem vermittelt der schmale Band einen kundigen Einstieg.
Gernot Erler: Russland kommt. Putins Staat – der Kampf um Macht und Modernisierung. Herder-Verlag, Freiburg/Basel/Wien 2005. 190 Seiten, € 8,90.
Internationale Politik 8, August 2005, S. 132 - 134