Revolution der Juristen
Wer kämpft alles gegen Gaddafi?
Das Bild der Aufständischen ist geprägt durch junge Kämpfer mit Dreitagebart, alter Kalaschnikow und überdrehter Pose. Doch das sind nicht die wahren Revolutionäre. Es sind vor allem die Anwälte, Ärzte, Beamten und Geschäftsleute, die die unerträglichen Zustände beenden wollen, koste es, was es wolle: Denn die Freiheit klopft nicht zweimal an.
Das Drama der libyschen Revolution, könnte man sagen, war ihr unglaublicher Anfangserfolg. Denn was Mitte Februar begann, hatte niemand vorausgesehen, nicht einmal die kleine Schar jener, die der Lawine ihren Anstoß gab: „Wir hatten mit einem, vielleicht ein paar Dutzend Mutigen gerechnet“, erzählte Ende Februar ein Arzt in Tobruk, der die erste Demonstration am 17. Februar mit vorbereitet hatte. In Tunesien und Ägypten hatten die Menschen gerade ihre Diktaturen gestürzt – aber das waren Staaten mit Institutionen und einer gewissen Zurückhaltung im Töten ihrer Untertanen.
In Libyen hatte in den fast 42 Jahren der Herrschaft Muammar al-Gaddafis schon der Verdacht des Ungehorsams genügt, Menschen für Jahre oder für immer verschwinden zu lassen. „Aber als wir losgingen“, erinnerte sich der Arzt noch immer mit Unglauben in der Stimme, „da kamen plötzlich von überall her Menschen aus den Häusern. Hunderte, dann tausende, die ganze Stadt schien sich uns anzuschließen.“
Was ab dem 17. Februar geschah, war kein Ringen mit dem System – sondern die Implosion des Systems. Die Kämpfe der ersten Tage, bei denen in Ostlibyen 200 bis 300 Menschen umkamen, hinterließen ein Bild, das der Wirklichkeit nicht gerecht wurde. Denn diese Kämpfe waren zwar mörderisch, aber vor allem waren sie eines: kurz. Nach Tagen liefen in Bengasi, Tobruk, al-Baida und Derna, den Städten der ostlibyschen Cyrenaica, fast alle einfach über, die Polizisten, Soldaten, Beamten, Gaddafis ganze Verwaltung inklusive vieler Geheimdienstler.
Diese Revolution war mild. Überall ließ man die Apparatschiks und Offiziere, die Gaddafi die Treue halten wollten, einfach nach Hause gehen. Einzig, wer getötet hatte und festgenommen worden war, „den werden wir vor ein ordentliches Gericht stellen“, sagte eine Untersuchungsrichterin in Bengasi über ihren Ermittlungsakten: „Sobald die Lage sich beruhigt hat.“ Fünf Afrikaner hatte sie Anfang März gerade freigelassen, „die waren irrtümlich für Söldner gehalten worden“. Eine Revolution für den Rechtsstaat. „Wir sind nicht wie die“, wie Gaddafi und seine Schergen, war eine immer wieder zu hörende Antwort auf die Frage, warum dieser Aufstand seinen Todfeinden mit solcher Nachsicht begegne.
Ein gespenstisches Patt
Der Erfolg der frühen Tage hatte die Aufständischen in eine Lage gestoßen, aus der kein Rückzug mehr möglich war – aber ein Sieg wiederum nur dann, wenn die implosive Kettenreaktion sich fortsetzen würde. Was nicht geschah.
Tripolis und Siirt waren die letzten beiden großen Städte an der Küste, die Ende Februar noch nicht übergelaufen waren. Gewarnt und hier ohnehin besser gerüstet, brachten Gaddafis Verbände die letzten Bastionen wieder vollständig unter ihre Kontrolle. Und das mit einer Brutalität, deren Ausmaß noch gar nicht bekannt ist: Scharfschützen erschossen von Dächern aus Passanten. Hunderte Verletzte wurden aus Krankenhäusern verschleppt und sind nie wieder aufgetaucht, ebensowenig wie die Leichen aus den Straßen. Familien in anderen Städten Übergelaufener verschwanden. Befehlsverweigerer wurden sofort erschossen.
Keine Stadt fiel mehr. Und in Tripolis kehrte wieder Friedhofsruhe ein. Für Tage, Wochen gab es ein gespenstisches Patt beider Seiten. Gaddafi sammelte seine Kräfte, ließ über den großen Militärstützpunkt im Wüstenort Sebha Söldner aus dem Tschad, Niger, Mali, angeblich sogar aus Mosambik einfliegen und Panzerverbände gen Osten rollen.
In Bengasi ging das Leben anfangs völlig normal weiter. Die Corniche am Mittelmeer war abends eine Lichterkette, es gab Benzin, Strom, die Öl- und Gasförderung liefen noch auf niedrigem Niveau, während anderthalb Autostunden weiter westlich wilde Milizen ihren Guerillakampf mit Panzerfäusten und Maschinengewehren zwischen Gasleitungen, Öltanks und Verladeterminals austrugen. Hatten sie wieder einmal einen Tag überstanden, feierte abends in Bengasi die Revolution auf dem Corso vor dem Gericht ihren Sieg mit einem Feuerwerk. Rot, grün, leuchtend und laut wurde der Nachthimmel gesprenkelt.
Die Militärführer der Aufständischen wussten um ihre Schwäche: „Ich war Geschwaderkommandeur“, erzählte Luftwaffenoberst Ahmed Omar in Bengasi. „Aber unsere Flugzeuge hatten seit Jahren keinen Sprit, ich besaß nicht einmal mehr eine Waffe. Gaddafi wusste, dass ein Tag wie heute kommen würde und hat die Armee ausbluten lassen zugunsten der Sondereinheiten seiner Söhne. Aber was sollen wir machen? Die Freiheit klopft nicht zweimal an. Wir müssen kämpfen.“
Dabei wollten sie gar nicht kämpfen. Zum einen, weil sie rein militärisch so hoffnungslos unterlegen waren, dass sie Journalisten nur ungern Zutritt zu ihren Militärbasen erlaubten. Zum anderen wollte niemand Bürgerkrieg und eine Teilung des Landes. Sie hofften, dass weitere Überläufer das System von innen zu Fall bringen würden. Das war die Rolle von Omar Hariri, dem ersten Vorsitzenden des Militärkomitees. Der 67-jährige Ex-Major hatte 1969 gemeinsam mit Gaddafi geputscht, aber war 1975 auf Geheiß Gaddafis zum Tode verurteilt worden und bis zur Revolution eingesperrt gewesen. Kein aktiver Truppenführer, aber ein Mann mit Rang und Namen, der zudem noch aus Gaddafis Hochburg Siirt stammt.
Tagelang verhandelte er mit Emissären und Scheichs aus Siirt, versuchte, sie zum Wechsel zu bewegen. „Wir können Siirt nicht angreifen“, erklärte ein enger Verwandter und Mitarbeiter Hariris die Lage: „Dann haben wir keine Truppen mehr für Tripolis. Erst, wenn Siirt auf unserer Seite ist, können wir Gaddafi direkt angreifen. Bis dahin müssen wir warten.“ Es funktionierte nicht. Sie hatten sich verkalkuliert. Andererseits: Wie soll man innerhalb eines sich fortschreibenden Wunders überhaupt kalkulieren können?
Siirt lief nicht über, stattdessen walzten Gaddafis Panzertruppen die Küstenstraße hoch bis in die Vororte von Bengasi – und hätten die aufständischen Städte mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zurückerobert, hätte sich nicht der UN-Sicherheitsrat am 17. März zu seiner Resolution 1973 und den folgenden Angriffen zur Durchsetzung der Flugverbotszone sowie auf Gaddafis Panzertruppen durchgerungen.
Die führenden Köpfe
Aber wer sind diese Leute überhaupt, derentwegen sich jählings neue Allianzen und Gräben in der Welt aufgetan haben und seit Ende März Kampfjets aus mehreren Nationen die schwersten Angriffe auf ein arabisches Land seit der Irak-Invasion 2003 fliegen? Kurz: Wer sind die führenden Köpfe der libyschen Revolution?
Das in tausend Variationen wiederkehrende Bild der libyschen Revolution zeigt junge Kämpfer mit Dreitagebart, alter Kalaschnikow und überdrehter Pose, wahlweise in Bengasi oder vor den Dünen von Ras Lanuf. Das hat unsere Wahrnehmung geprägt. Es täuscht. Denn es ist der fotogenste Ausschnitt einer Revolution, die getragen wird von Ärzten, Beamten, Geschäftsleuten und allen voran: von Anwälten.
Man könnte sagen, es war eine Revolution der Juristen. Mustafa Abdul Dschalil, der ehemalige Justizminister und Vorsitzende des Übergangsrats, sein Vize Hafiz Ghogah: Juristen, ebenso wie Fateh Terbel, der berühmte Anwalt aus Bengasi, dessen Festnahme einer der Auslöser der Proteste war und dessen Mandat ihr schon lange zurückliegender Anfang. Terbel vertrat Familien jener 1200 Insassen des Gefängnisses von Abu Slim, die bei einer Revolte für bessere Haftbedingungen Ende Juni 1996 umgebracht worden waren. Er tat das seit Jahren, das Regime hatte Entschädigungen angeboten, und in Bengasi blieben die Mütter der Toten unbehelligt, wenn sie sich einmal in der Woche mit den gerahmten Bildern ihrer Söhne zur stummen Anklage versammelten.
Es verblüfft, dass im Reiche Gaddafis, der Recht und Gesetz so sehr verachtete, dass er sogar die Verfassung abschaffen ließ, ausgerechnet die Juristen die geduldete Zunft einer gewissen Widerspenstigkeit bilden konnten. Aber vielleicht hielt Gaddafi die Idee des Rechts für so irrelevant, dass ausgerechnet die Juristen ein wenig mehr Narrenfreiheit genossen. Mustafa Abdul Dschalil hatte als Justizminister auf dem Volkskongress, der Simulation eines Parlaments, 2010 vor allen die Korruption und das Unrecht des Regimes kritisiert. „Wir dachten, er überlebt den Tag nicht“, erinnert sich ein reicher Geschäftsmann und Freund Dschalils, „aber Gaddafi wedelte nur mit der Hand und fragte: Wer ist das
denn?“ Nichts geschah. Dschalil blieb am Leben und Minister.
So wuchsen vor allem im Osten Libyens die Anwalts- und Richtervereinigungen, die Rechtsfakultäten der Universitäten zu winzigen Nischen der Freiheit heran, „in denen sich die Menschen überhaupt erst einmal trauten, offen miteinander zu sprechen“, wie sich eine Professorin erinnert: „Als ich Anfang Februar zu einem Kongress nach Marokko fuhr, sagten ein paar Studenten im Seminar ganz offen: Beten Sie für uns! Wir werden demonstrieren gehen!“
Die Libyer haben sich, genauso wie die Tunesier und Ägypter vor ihnen, aus eigener Kraft erhoben. Keine Spin-Doctors im Pentagon haben Gaddafi Terrornähe und Massenvernichtungswaffen angedichtet (obwohl er letztere sogar hat), keine Exilgruppen wurden bewaffnet, keine Generäle gekauft. Auch intern hatte die libysche Revolution keinen Lenin, keine Planzelle strategischer Vorbereitung – sondern überraschte selbst jene, die sie auslösten. Wie andernorts hatte die Unerträglichkeit der Zustände, der Gängelung, der Grausamkeit und der Angst, einen Aggregatzustand erreicht, dass der auslösende Funke genügte – jedenfalls für den Osten des Landes, der als historisches Zentrum der 1969 gestürzten Monarchie stets in potenzieller Opposition zu Gaddafi und seiner zentral-libyschen Heimat stand.
Rückzug des politischen Islam
Eine der frappierendsten, immer noch unterschätzten Veränderungen der Revolution in Libyen wie in Tunesien und Ägypten ist die völlig veränderte, regelrecht zerronnene Rolle des politischen Islam: Jahrzehntelang hatten Gaddafi, Mubarak & Co. im Westen die Furcht genährt, dass ohne sie die Islamisten an die Macht kämen. Doch die Wirklichkeit dieser Tage legt einen ganz anderen Schluss nahe: dass die Despoten gar nicht das Bollwerk gegen die Bärtigen waren – sondern Teil von deren Ursache. Sie ließen hassen, damit die Unterdrückten etwas hatten, was sie hassen durften. Sei es Israel, seien es die dänischen Karikaturen.
In Bengasi war die Demonstration gegen die Karikaturen am 17. Februar 2006 das erste Mal seit Ewigkeiten, dass die Menschen überhaupt gegen etwas auf die Straße durften. „Der Anlass war uns allen egal“, erinnert sich die Politologin Amal Obeidi von der Universität Bengasi, „und bald kamen die ersten Anti-Gaddafi-Rufe auf. Da hat die Polizei in die Menge geschossen und die Toten hinterher als islamistische Fanatiker dargestellt.“ Aus dem Gedenken daran wiederum entstand die Verabredung, am 17. Februar dieses Jahres wieder zu demonstrieren, für Rechte und Freiheit. Woraus die Revolution erwuchs.
Seien es die Muslimbrüder Ägyptens, die Nahda-Bewegung in Tunesien oder die Szene der früheren Dschihadisten in Libyen: Nirgends wird mehr das Primat des Islam in der Politik gefordert. Überall haben sich die Religiösen unisono den Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat angeschlossen. Anstelle einer Veränderung des religiösen Diskurses von innen heraus ist der Glauben insgesamt einfach beiseite geschobe worden. Ein Langbärtiger mit der weißen Kappe der Glaubenstreuen im Komitee der revolutionären Stadtverwaltung von Tobruk brachte es auf den Punkt: „Ich bin fromm, ja. Aber wir wollen mit Europa, mit dem Westen zusammenarbeiten!“
Der Dschihad als Daseinsform hat zweierlei verloren: seine Funktion als Druckableiter und seinen Appeal obendrein. Im Kern stellt sich jedem dieselbe Frage: Was ist ein Kampf für unklare Ziele, der mit jedem Anschlagserfolg Anhänger verlor anstatt neue zu gewinnen, im Vergleich zu den erfolgreichen Revolutionen, die Millionen Menschen für klare Ziele auf die Straße bringen? Die Antwort fällt überall so überwältigend eindeutig aus, dass der arabische Resonanzboden für Al-Kaida und jede Form eines islamisch-politischen Allmachtanspruchs sich im Prozess der Selbstauflösung befindet.
All das hielt Gaddafi und seinen Ende März geflohenen Außenminister Mussa Kussa nicht davon ab, Al-Kaida für die Revolte gegen das Regime verantwortlich zu machen. „Diese Leute haben keine echten Forderungen. Ihre Forderungen sind jene Bin Ladens“, fabulierte Gaddafi, und sein Außenminister sekundierte, Al-Kaida habe bereits ein „Emirat“ in der Stadt Derna gegründet unter Führung des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Abdul Hakim al-Hasadi.
In Wirklichkeit hatte sich in Derna wie in den anderen Städten Ostlibyens ein Komitee zur Verwaltung der Stadt gebildet, das hier aus einem Anwalt, einem Richter und einem Ex-Diplomaten besteht, alle drei Säkulare. Al-Hasadi, der zwar in Afghanistan gekämpft hat, aber nie in Guantánamo war, organisiert die Verteidigung der Stadt und lachte, als ein Reporter ihn auf die Vorwürfe ansprach: „Libyen, ein Taliban-Staat? Unmöglich! Wir brauchen doch keinen islamischen Staat hier. Hätte ich extremistische Ansichten, wären die Leute kaum auf meiner Seite.“
Doch zu jäh war die Veränderung, zu verlockend das alte Bild von den stets zur Macht drängenden Gotteskriegern. Zum einen war die fromme Hafenstadt Derna in der Tat lange Jahre einer der wichtigsten Nachschuborte für Al-Kaida-Kämpfer. Von 606 über Syrien eingereisten ausländischen Kämpfern im Irak, deren Daten US-Truppen 2007 in die Hände fielen, kamen 19 Prozent aus Libyen, davon mehr als die Hälfte aus Derna.
Zum anderen ließ sich mit der stets beliebten Nutzbarmachung der Al-Kaida-Bedrohung die eigene Zurückhaltung elegant unterfüttern. „Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, wenn der radikale Islam nur wenige Kilometer von der Haustür der Europäischen Union entfernt ist“, sagte Italiens Außenminister Francesco Franco Frattini, der Gaddafi noch im August 2010 freundschaftlich empfangen hatte und dessen Regierung sich hartnäckig gegen jede Intervention sträubte. Auch US-Admiral James Stavridis gab vor einem Senatsausschuss in Washington an, man vermute Al-Kaida-Kämpfer unter den Aufständischen, „deren Führung aber aus verantwortungsvollen Männern und Frauen besteht“.
Machterhalt mit allen Mitteln
So rauschhaft der Anfang der libyschen Revolution im Februar 2011 erschien, so ungewiss ist zwei Monate später ihr Ausgang. Die Forderungen der Menschen sind in allen drei Staaten gleich, aber im Unterschied zu Libyen gab es in Tunesien und Ägypten noch einen funktionierenden Staat. Dort konnten die Generäle ihren Präsidenten sagen, wann es Zeit war zu gehen. Der Staat funktioniert weiter, auch wenn gerade Ägyptens Armee sich massiv dagegen wehren dürfte, sobald es an ihre Privilegien
und Wirtschaftsmonopole geht. In Libyen gab es keinen Staat mehr, der diesen Namen verdient hätte, keine Verfassung, keine funktionierende Armee, sondern Sondereinheiten unter dem Kommando von Gaddafis konkurrierenden Söhnen und Söldnermilizen. Nichts, was einen friedlichen Übergang ermöglichen würde.
Wer in Gaddafi nur sein Operettengehabe sah, seine pseudo-revolutionären Auftritte vor den Vereinten Nationen und bei Staatsbesuchen oder seine verrätselten späten Texte, die von Überdruss und Weltschmerz eines abgeklärten Herrschers handeln, hat sich mit den Jahren über Gaddafis Kernkompetenz hinweg täuschen lassen: Machterhalt mit allen Mitteln.
Wäre Gaddafi nur der Quartalsirre der Weltbühne gewesen, der mit großer Geste und kleinen Gedanken unterhielt, in Zottelbart und mit Talmi-Uniform – er hätte sich kaum so lange gehalten. Und das, ohne überhaupt so recht einen Staat geschaffen zu haben. Oder vielleicht gerade deswegen. Alles war inszeniert. Gaddafi gab Geld und Posten, und nahm sie wieder. Er errichtete im ersten Kapitel seines „Grünen Buches“ – einer Art arabischer Mao-Bibel – eine neue Theorie der Volksdemokratie, in der „die bloße Existenz eines Parlaments die Abwesenheit des Volkes bedeutet, denn wahre Demokratie besteht nur durch die Beteiligung des Volkes“. Und riss im letzten Satz doch alles wieder ein: „Aber in der Realität herrscht immer der Starke.“ Daran zumindest hat er sich stets gehalten. Und die Libyer – sie verschwanden zwischen Terror und Inszenierung.
Nicht einmal die Blutrichter der frühen Jahre der iranischen Revolution, die sich rühmten, Menschen serienweise zum Tode zu verurteilen, deren Namen sie nicht kannten, haben mit solch hartnäckiger Rachsucht geflohene Dissidenten im Ausland umbringen lassen: In Libyens Nachbarstaaten, in Marokko, in Europa, selbst in Deutschland wurden in den siebziger und achtziger Jahren Exil-Libyer von entsandten Killertrupps erschossen.
Der Tod ist ein Meister aus Tripolis, und Gaddafi hat sich jahrelang vorbereitet auf diesen Tag, auf den Aufstand. Systematisch hat er die Armee ausbluten lassen, stattdessen Milizen unter dem Kommando seiner Söhne aufgebaut, sie von der britischen Eliteeinheit SAS trainieren lassen, aus Europa Waffen erworben. Mit hunderten von Millionen Dollar hat er sich Machtbasen in Mali und im Tschad geschaffen. Er hat gigantische Geldbeträge aus den Öleinnahmen von ausländischen Konten nach Libyen transferieren lassen, hat angeblich mehr als 140 Tonnen Gold eingelagert.
Alle Fäden laufen in Tripolis zusammen. Wochenlang hatten sich seit Ende Februar Fernmeldetechniker im Osten des Landes bemüht, die zentrale Kontrolle und Schaltung der Mobiltelefonnetze von Tripolis abzukoppeln – vergeblich. Im April konnte Gaddafi weiterhin nach Belieben die beiden Netze, Libyana und Madar, aus- oder anschalten lassen. Über Mobiltelefone aber kommunizieren die Aufständischen, auch die Kämpfer an den Frontlinien. Wobei der Hauptgrund, die Netze nicht gänzlich stillzulegen, darin liegen soll, dass die verbliebenen Anhänger, Spitzel und Schergen des Regimes im Osten mit Tripolis kommunizieren können.
Dabei waren es nicht nur Milde und militärische Schwäche, die die jäh zusammengewürfelten, in langen Runden ausdiskutierten Führer des Aufstands am Anfang blass und unentschlossen aussehen ließen. Es war auch die alte, stets wiederkehrende Gretchenfrage jeder Revolution: Wie schuldig ist jeder, der mit dem Regime der Diktatur paktierte? Amal Obeidi, die Politikprofessorin aus Bengasi, sah sich in manchen Runden diskreditiert, weil sie jahrelang zu jenen gehört hatte, die mit dem Regime über eine Wiedereinführung einer Verfassung verhandelt hatten. Genauer: mit Saif al-Islam, Gaddafis wohl klügstem Sohn, der sich selbst als Thronerbe profilierte. „Er kündigte 2004 Reformen an – und wir sahen das als einziges Nadelöhr, dachten uns: besser als nichts. Jetzt gelten wir als ‚Saifinisten‘, aber wäre es besser gewesen, ganz zu schweigen? Gar nichts zu tun?“
Die großen, kleinen Fragen der Revolution. Ebenso wie die Ablösung des jahrzehntelangen Gefangenen Omar Hariri als Leiter des Militärkomitees vielen als Verrat erschien. Sein Nachfolger, General Abdel-Fattah Yunis, war jahrelang Leiter einer Eliteeinheit und bis zur Revolution Gaddafis Innenminister.
Es ist unklar, was bleiben wird von der Unschuld der frühen Tage, als die Zivilisten kampflos einen neuen Staat machen wollten. Selbst wenn die Luftangriffe der NATO die Revolutionäre davor bewahren, von Gaddafis Panzertruppen vernichtet zu werden, wird der Kampf die Gewichte verschieben, wird von der Milde immer weniger bleiben. „Sie verlieren sich“, sagte schon Mitte März ein ehemaliger Offizier über die jungen Kämpfer, deren Wut und Verbitterung mit jedem Tag wuchsen.
CHRISTOPH REUTER ist Korrespondent des Stern mit Sitz in Kabul. Im Februar und März 2011 war er in Libyen.
Internationale Politik 3, April 2011, S. 70-77