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28. Febr. 2014

Dschihad im fremden Land

Welche Rolle spielt der „Islamische Staat im Irak und Syrien“?

Vor nicht einmal einem Jahr bestand der harte Kern des „Islamischen Staats im Irak und Syrien“ (ISIS) aus einer zusammengewürfelten Schar Dschihadisten. Jetzt ist aus ISIS eine schlagkräftige, brutale Truppe geworden – die aber fast alle gegen sich aufbringt und keine Ahnung hat, was überhaupt für den Aufbau eines Gemeinwesens notwendig wäre.

Der Mann klang fassungslos: „Das sind Fanatiker, völlig wahnsinnige Extremisten, die nichts als Terror verbreiten!“ Dass jemand so über den „Islamischen Staat im Irak und Syrien“ (ISIS)1 urteilt, die exzessiv brutale Dschihadistenformation in Syrien, überrascht nicht. Verblüffend ist allerdings, wer dies Anfang Februar sagte, als er nach mehrwöchigen Kämpfen zu einem Treffen über die türkische Grenze kam: ein Angehöriger des internen „Sicherheitsdiensts“ der Nusra-Front, dem offiziellen Ableger von Al-Kaida in Syrien.

Al-Kaida beklagt sich über islamistischen Extremismus – das klingt grotesk, aber hallt wider aus allen Orten des syrischen Nordens, wo seit Anfang Januar fast alle übrigen Rebellengruppen einen mörderischen Krieg gegen ISIS führen, der in einem Monat mehr als 1700 Menschen auf beiden Seiten das Leben gekostet hat. ISIS ist ein terroristisches Paradoxon, das sich geläufigen Apostrophierungen entzieht. Als Al-Kaida-Ableger kann man sie nicht mehr bezeichnen, spätestens seit deren nominelles Oberhaupt Ayman al-Zawahiri sich Anfang Februar gänzlich von ISIS distanzierte: Man habe „keinerlei organisatorische Verbindungen zu der Gruppe“, sei „nicht verantwortlich für deren Handeln“ und habe überdies schon „deren Entstehung versucht zu stoppen“.

Nach eigenen Aussagen kämpft ISIS gegen die „Ungläubigen“ und für die Errichtung eines islamischen Staates; ja, sie tritt bereits als Souverän dieses Staates auf. Das sei logisch zwingend angesichts des eigenen Namens. Doch auf der wie üblich langen Feindesliste tauchen bei den Dschihadisten vom selbsterklärten Staat die Amerikaner, Israel, Säkularisten und selbst Schiiten nur mehr als rhetorisches Beiwerk auf. Ihren rasenden Kriegszug mit Selbstmordanschlägen, Autobomben, Massenhinrichtungen, Köpfungen und Killerkommandos führt die Gruppe nun gegen jene, denen sie sich vor Monaten noch als Verbündeter empfahl: die syrischen Rebellen, das gesamte Spektrum von nationalistischen bis hin zu radikalen sunnitischen Formationen wie der Nusra-Front. Kurz: ISIS und das Regime von Baschar al-Assad bekämpfen dieselben Gegner.

„Wir sind für den Dschihad hier, nicht für die Stromversorgung!“

Und um den Reigen der Widersprüche zu komplettieren: Der harte Kern von ISIS, der militärisch geschickt taktiert und trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit mitnichten geschlagen ist, bestand noch vor weniger als einem Jahr aus einer zusammengewürfelten Schar von Dschihad-Nomaden aus zwei Dutzend Ländern. Die meisten von ihnen hatten keine militärische Erfahrung und verteilten sich auf konkurrierende Radikalenzirkel, deren „Emire“ gelegentlich die Konkurrenz-Fanatiker zu Ungläubigen erklärten. Die größte Gruppe waren (und sind) keine kampferprobten Iraker, sondern – Tunesier.

Im Gegensatz zu den konstitutiven Elementen, die sich gemeinhin mit der Idee des Staates verbinden, kamen die Männer (und wenigen mitreisenden Ehefrauen) aus einem einzigen Grund nach Syrien, das in Gesprächen mit mehreren von ihnen immer wiederkehrte: dem Kampf der Muhadschirin, der Gefährten des Propheten Mohammed. Diese hatten einst ihre Heimat Mekka hinter sich gelassen, um mit Mohammed und um Gottes Willen in den Krieg bis zum Sieg des Islam zu ziehen.

Fast wortgleich und im Tonfall der Enttäuschung erzählten ein Tunesier, ein Marokkaner und Dagestani: „Wir haben alles zu Hause hinter uns gelassen, um in Syrien für den wahren Islam zu kämpfen. Aber was tun die Syrer? Die wertschätzen unser Opfer gar nicht!“ Doch wurden diese Dschihad-Nomaden von Syrern gefragt, ob sie helfen könnten bei den ganz alltäglichen technischen Details der Staatsbildung, etwa bei der Reparatur der Stromversorgung oder der Wasserleitungen, war die Antwort stets Unverständnis: „Wir sind doch hier zum Dschihad!“

Es bedarf eines starken Motivs, ohne Not die eigene Existenz hinter sich zu lassen und zum Kampf in ein Land zu ziehen, mit dem man zuvor nichts zu tun hatte. Doch über diesen Kampf hinaus äußerte keiner von diesen Fußsoldaten des Dschihad einen Grund, warum sie nun ausgerechnet nach Syrien gekommen waren und was sie zum Aufbau eines islamischen Staates beitragen wollten – außer, ihn zu beherrschen. Es ist die hermetische Denkwelt einer Sekte, deren Jünger sich jedoch nicht auf ihresgleichen und ihre Rituale beschränken – sondern fortwährend versuchen, weitere Gebiete unter ihre Herrschaft zu bringen.

Schutzmacht für Recht und Ordnung oder brutale Unterdrücker?

Dabei wirkten die Anfänge der Dschihadisten in Syrien – zumindest im Kontext des erbitterten Krieges zwischen Syriens Regime und Rebellen – noch eher konfus. Zwar hatte es bereits zwischen Dezember 2011 und März 2012 eine Reihe massiver Bombenanschläge auf Geheimdienstzentralen in Damaskus und Aleppo gegeben, zu denen sich die Nusra-Front in aufwändigen Videos bekannte. Doch tauchten die ersten Nusra-Gruppen erst ein halbes Jahr später in Aleppo und Umgebung auf und bestritten unisono, mit den Anschlägen zu tun zu haben. Zeugenaussagen übergelaufener Offiziere und Militärärzte, Indizien wie gefälschte Totenlisten und schauspielernde Opfer im syrischen Staatsfernsehen ergänzten den Verdacht einer Inszenierung des Regimes.

Der langsam wachsenden Popularität der Nusra-Front tat das keinen Abbruch, und Anfang April 2013 trat erstmals ISIS an die Öffentlichkeit: mit dem Dekret seines Anführers Abu Bakr al-Baghdadi, dass Nusra sich mit seinen Kämpfern ihm zu unterstellen habe, da er Emir des fortan um Syrien im Namen erweiterten „Islamischen Staates“ sei. Nusra-Emir Mohammed al-­Golani, dessen Identität bis heute unklar ist, widersprach und schwor seinerseits Al-Kaida-Anführer Ayman al-Zawahiri die Treue. Doch ISIS sah den uncharismatischen Nachfolger von Osama Bin Laden schon damals nicht als oberste Instanz an, sprach von ihm nur als dem „Emir von Khorasan“, dem Führer der Ostgebiete.

Der Eklat endete im Patt: Mutmaßlich entzog ISIS die bis dato an Nusra gewährte Finanzhilfe, die Beleglage ist dürftig. Auf jeden Fall wechselten fast alle ausländischen Dschihadisten von Nusra zu ISIS. Im Frühsommer schloss sich die gemischt syrisch-internationale Dschihadistengruppe „Ansar wua al-Muhadschirun“ ISIS an, selbiges taten die vermehrt über die türkische Grenze einströmenden Radikalen. Einer der Hauptgründe: ISIS zahlte Gehälter von mehreren hundert US-Dollar im Monat, stellte Waffen, Fahrzeuge und verfügt über beträchtliche Mittel aus unterschiedlichen Quellen. Spenden reicher Sympathisanten aus den Golf-Monarchien gehören dazu ebenso wie Einkünfte aus der Schutzgelderpressung in Mosul und anderen sunnitischen Städten im Irak.

Im Juni 2013 war ISIS an vielen Orten Nordsyriens präsent, aber hielt sich zurück. Selbst im Ort Atmeh an der türkischen Grenze, dem wichtigsten Transitort der einreisenden Dschihadisten, liefen die wenigen mitgereisten Frauen zwar vollverschleiert herum und war den eigenen Anhängern das Rauchen streng verboten. Aber jenseits davon gingen Frauen in Atmeh in Jeans auf die Straße, wurde geraucht wie überall in Syrien. Ein Tschetschene, der einem Einheimischen die Zigarette aus der Hand geschlagen hatte, war Gesprächs­thema für Tage.

Ab Spätsommer aber änderte sich die Lage. Erst schleichend, dann zunehmend rabiat übernahm ISIS die Macht in verschiedenen Städten wie Al-Dana, Binish und Saraqib in Idlib, Azaz, Jarablus, Al-Bab und Teilen von Aleppo in der gleichnamigen Provinz sowie in der Provinzhauptstadt Raqqa. Alles Gebiete, aus denen die Armee des Regimes schon lange vertrieben war.

Geschickt setzte ISIS seinen Machtanspruch auf allen Ebenen durch: Erst empfahl man sich als Schutzmacht von Recht und Ordnung gegen Rebellengruppen, die zuvor Firmen, Krankenhäuser, Privathäuser geplündert hatten. Dann begann die Einschüchterung. Weder waren die ISIS-Kämpfer zahlreicher noch besser bewaffnet als die übrigen Rebellen. Doch mit einer Mischung aus zentraler Führung, Brutalität und Bestechung nutzten sie die Achillesferse der syrischen Aufständischen: deren Uneinigkeit. ISIS griff stets einzelne, schwächere Einheiten an und paktierte mit den übrigen. In Raqqa eliminierte ISIS die kleinen Rebellengruppen, eine nach der anderen – während die anderen froh waren, dass es sie nicht traf. Als die FSA-Brigade „Ahfadh al-Rasul“ (Enkel des Propheten) sich nicht fügen wollte, schickte ISIS vier Selbstmordattentäter nacheinander in deren Hauptquartier. „Sie riechen Schwäche“, sagte verbittert ein Kommandeur der Faruk-Brigade von der zerfallenden „Freien Syrischen Armee“, der im Herbst noch vergeblich andere Kommandeure vor den Dschihadisten gewarnt hatte.

ISIS versuchte zu vermeiden, als fünfte Kolonne des Regimes wahrgenommen zu werden. Gelegentlich kämpften die Männer gegen die Armee wie Anfang August, als zwei Selbstmordbomber nach zwölfmonatiger Belagerung die Eroberung des Militärflughafens Mennegh bei Aleppo einleiteten. Es war ein faustischer Handel: gerade so viel zu tun, um noch als Verbündeter wahrgenommen zu werden und das Gros der Kampfkraft dafür aufzuwenden, im Hinterland der Rebellen Orte und Landstriche unter Kontrolle zu bringen, um dort „Emirate“ zu errichten.

Als ein ISIS-Konvoi auf die Stadt Al-Bab zurollte, behaupteten die maskierten Kämpfer, nur durchfahren zu wollen zur Front nach Aleppo. Kaum waren sie in der Stadtmitte, sprangen die Vermummten von ihren Pickups und besetzten das Zentrum. „Das war wie im Film“, erinnerte sich ein Zeuge, „lauter schwarze Horrorgestalten.“ Dass die ISIS-Kommandos fast immer maskiert auftraten, hatte außer der Schreckensanmutung noch einen Vorteil: Es war kaum möglich, ihre Stärke festzustellen, da sie unerkennbar waren und einzelne Einheiten oft verlegt beziehungsweise im Ernstfall rasch Dutzende Kämpfer zusammengezogen wurden.

Hatte sich ISIS einmal festgesetzt wie in Raqqa oder Al-Bab, erließ der örtliche Emir fortwährend neue Dekrete: „Erst hieß es, Frauen dürfen nur noch in Abaya auf die Straße“, dem knöchellangen Schleiergewand, „dann durfte zu den Gebetszeiten keiner mehr draußen sein. Danach wurde das Rauchen verboten, dann die Musik. Jetzt kontrollieren sie auf den Hochzeiten, dass nichts gespielt wird. Die sind schlimmer als Assads Regime.“

In den größeren Orten wurden die Wortführer eines zivilen Staates bedroht, entführt, ermordet: Anwälte, Journalisten, Stadträte und Geistliche wie der moderate Imam der Hauptmoschee von Menbej. Bemerkenswert ist, dass ISIS überall sehr rasch detailliert wusste, welche Personen wichtig sind, wo sie wohnen, wohin sie unterwegs sind. Das überrascht insofern, als die Kerntruppe überall aus Ausländern bestand. In verschiedenen Orten der Nordwestprovinz Idlib bestanden die ISIS-Gruppen ausschließlich aus Ausländern, überall stellten sie die Mehrheit und die Emire. Lediglich in Jarablus und in Raqqa waren und sind Syrer in nennenswerter Zahl vertreten.

Anfang Dezember, wenige Wochen vor Ausbruch der Kämpfe, sollen etwa 5500 Ausländer bei ISIS gewesen sein. Dazu kamen etwa 2000 Syrer vor allem aus Raqqa. Ein Lohnbuchhalter (sic) von ISIS gab an, dass von 2650 ausländischen Kämpfern unter ISIS-Kommando im „Emirat Aleppo“ ein Drittel Tunesier seien – die größte Gruppe. Mit einigem Abstand folgten Saudis, Türken und Ägypter, dann erst Tschetschenen und Dagestanis, Europäer, Iraker, Indonesier. Auch in Idlib und Raqqa waren stets Tunesier, so Zeugen aus verschiedenen Orten, die größte Nationengruppe. Die lokalen Emire waren (oder sind) Tunesier, Saudis, Kuwaitis, Tschetschenen, Iraker.2

Wie wurde aus Dschihad-Jüngern eine erprobte Kampftruppe?

War die Machtfrage an einem Ort geklärt, spielten die Dogmen bei technischen Aspekten der Versorgung wiederum keine so große Rolle mehr: In Raqqa, der größten Stadt unter ihrer Herrschaft, durfte ein handverlesener Stadtrat sich weiter um Strom- und Wasserversorgung kümmern. In Al-Bab konnten islamische NGOs ihre Arbeit wieder aufnehmen, aber müssen wöchentlich Bericht erstatten. Und im Grenzort Jarablus forderte ISIS nur Tage nach der Rückeroberung des Ortes und einem Massaker an Dutzenden Gegnern Ende Januar internationale NGOs auf, die Versorgung der Bevölkerung wieder aufzunehmen.

Doch wie wurde aus einem Strom ausländischer Dschihad-Jünger eine derart geschickt agierende, zentral gesteuerte und flexible Kampftruppe? Die gängigste, von ISIS selbst und von US-Nachrichtendiensten kolportierte Begründung lautet, dass ISIS schlicht eine Ausgründung der irakischen Al-Kaida sei – personell, militärisch, finanziell. Doch dieser Annahme stehen die geringe Zahl irakischer Kämpfer ebenso entgegen wie der limitierte Zugang zur irakisch-syrischen Grenze: Im Süden, rund um Deir ez-Zor, konnte sich ISIS nie festsetzen, und im Norden kämpfen die kurdischen Milizen gegen ISIS. Transitland für nahezu alle ausländischen Kämpfer ist die Türkei, deren Regierung einerseits Anfang Februar ISIS-Stellungen an der Grenze beschießen ließ, andererseits die Ein- und Weiterreise von Dschihadisten kaum behindert hat.3

Ob die Einzelheiten über den engsten, nur aus Irakern bestehenden Führungszirkel von ISIS stimmen, die ein anonymer Informant unter @wikibaghdady seit Dezember 2013 über Twitter veröffentlichte, ist ungeklärt. Ein Detail aus seinen über 600 Tweets aber deckt sich mit Indizien und Aussagen des Nusra-Mannes von deren internem „Sicherheitsdienst“: Demnach habe ISIS sehr früh mit dem Aufbau einer Sondereinheit für Mordanschläge und Entführungen begonnen, die direkt der zentralen Führung unterstellt war – anders als das dschihadistische Fußvolk, das keine Kontakte zur Führung oberhalb des lokalen Emirs haben durfte. Die Einheit sei schon früh auf 100 Mann angewachsen. Laut des Nusra-Kaders der „Sicherheitsabteilung“, der übergelaufene und gefangengenommene ISIS-Kämpfer verhörte, bestehe sie aus Irakern und Tunesiern.

Diese Zweigleisigkeit würde die erprobte Fähigkeit von ISIS zu gezielten Mordanschlägen auf Rebellenkommandeure ebenso erklären wie die Diskrepanz bei den zahlreichen Entführungen von ausländischen Journalisten und Nothelfern: Seit spätestens Anfang 2013 wurden etwa 30 Amerikaner, Briten, Dänen, Deutsche, Franzosen, Schweden und Spanier entführt. Die Zugriffsoperationen verliefen rasch und professionell, doch die anschließende Bewachung der Entführten fiel oft lax aus. So gelang es mehreren Ausländern zu fliehen, unter ihnen auch drei deutschen Nothelfern der Organisation „Grünhelme“. Einer ihrer Wächter, während der Gefangenschaft befragt nach Gründen ihrer Entführung, zuckte nur mit den Schultern: Er sei nur zur Bewachung abgestellt, habe keine Ahnung, was weiter geschehen werde.

Grundsätzlich gab es keine Verhandlungen, Lösegeldforderungen oder Lebenszeichen, aber auch keine spektakulären Ermordungen von Geiseln vor laufender Kamera, kurz: nichts von alledem, wofür sonst Ausländer im Irak oder in Afghanistan verschleppt wurden. Die Geiseln werden offensichtlich als akkumuliertes Kapital zu einer späteren Verwendung festgehalten. „So etwas haben wir noch nie erlebt“, so ein deutscher BKA-Experte für Geiselnahmen. Als Anfang Januar der Angriff mehrerer Rebellenverbände auf ISIS begann, wurden die in Raqqa festgehaltenen Ausländer nach Angaben von Zeugen sofort in ein anderes Lager außerhalb der Stadt gebracht.

Ende Dezember war ISIS einfach zu weit gegangen mit seinen Entführungen und Mordanschlägen. In der Theorie haben sich zwar auch andere Rebellengruppen radikalislamisch gegeben. Doch in der Praxis hat keine andere Gruppe in den vergangenen zwei Jahren versucht, mit Terror und offenem Kampf die anderen Gruppen zu eliminieren und deren Gebiete unter die eigene Kontrolle zu bringen. Das tat nur ISIS. Viele Gruppierungen mochten uneins und zerstritten sein, aber nicht darauf aus, die anderen zu vernichten. Zudem war augenfällig geworden, dass Assads Luftwaffe nie die Stellungen von ISIS angriff, nicht einmal das markante Hauptquartier der Truppe im Gouverneurs­palast von Raqqa.

Rebellen oder verlängerter Arm des Regimes?

Die Ermordung eines prominenten Arztes und Kommandeurs einer islamistischen, bis dato mit ISIS kooperierenden Rebellengruppe war einer der Auslöser, eine breite Allianz der Rebellen am 3. Januar zum Losschlagen zu bewegen. Binnen anderthalb Wochen waren die ISIS-Verbände aus fast allen Orten vertrieben, zurückgedrängt bis auf Raqqa. Doch viele der anderswo Vertriebenen sammelten sich dort und konnten bis Anfang Februar die Städte Jarablus, Al-Bab und Menbej im Osten der Provinz Aleppo einnehmen.

Dabei zeigte sich immer wieder, dass die Streitkräfte des Regimes und ISIS wenn nicht in direkter Kooperation, so doch in gemeinsamer Stoßrichtung kämpften: Während und unmittelbar nach der Vertreibung der dortigen ISIS-Einheiten bombardierte die Luftwaffe die Orte Salqin und Al-Tarib; als ein Rebellenkonvoi der Gruppe „Suqur al-Sham“ bei Aleppo aus der Luft angegriffen wurde, erschienen keine Stunde später ISIS-Kämpfer und ermordeten die Verletzten. In der Steppe von Schaer, nordöstlich der Stadt Hama, umzingelten Armee und ISIS-Einheiten gemeinsam eine Rebelleneinheit; nachdem ISIS später sämtliche Rebellen in und um Raqqa niedergekämpft hatte, konnte die Luftwaffe Anfang Februar wieder ungehindert Versorgungsflüge per Hubschrauber zu ihrer nahegelegenen Militär­basis der 17. Division aufnehmen, die aus Furcht vor Beschuss monatelang unterblieben waren.4 Unter den befreiten Geiseln und gefundenen Leichen in den eroberten Stellungen von ISIS befanden sich keine Männer des Regimes, sondern syrische Oppositionelle und Rebellen. Am 1. Februar hingegen stürmte ISIS das größte Gefängnis der Rebellen im Ort Raii nahe der türkischen Grenze und befreite über 100 dort festgehaltene Offiziere der Armee und „Schabiha“-Milizionäre des Regimes, was zu Freudenbekundungen bei deren Parteigängern führte.

Wie weit die Nähe zwischen ISIS und dem Assad-Regime reicht, ist schwer zweifelsfrei zu belegen. Offenkundig ist ihre Symbiose: Der „Kampf gegen den Terrorismus“ ist das Mantra des Regimes, mit dem es sich dem Westen als Bastion gegen Al-Kaida empfiehlt, zuletzt bei der zweiten Konferenzrunde in Genf Mitte Februar. Die Regierungsdelegation aus Damaskus erklärte die „Terrorismusbekämpfung“ zur Priorität vor allen anderen Verhandlungspunkten.

Eine Niederschlagung von ISIS durch die Rebellen wäre ein politisches Desaster für Baschar al-Assad. Er hat ein dringendes Interesse am Fortbestand seines so nützlichen Feindes. ISIS selbst wiederum hat die Rebellen zum Hauptfeind erklärt und als „Sahwat“ tituliert nach den sunnitischen Milizen im Irak, die dort einst mit US-Hilfe gegen Al-Kaida kämpften. „Unsere Kämpfer sind hungrige Löwen, die Blut trinken und Knochen verzehren, und nichts schmeckt ihnen besser als das Blut der Sahwat“, verkündete ISIS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani. Denn die seien Agenten Amerikas. Und ohnehin alles Ungläubige, ebenso wie die Regierungen der Türkei, Katars und Saudi-Arabiens.

Der Krieg gegen ISIS sei eine „internationale Verschwörung“. Dieselben Worte benutzt Baschar al-Assad auch immer.

Christoph Reuter 
ist Reporter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, für den er seit Beginn des Bürgerkriegs regelmäßig aus Syrien berichtet.

  • 1Im Original lautet der Name „Daula al-Islamiya fial-Iraq wua al-Scham“, Islamischer Staat im Irak und in „Scham“, Groß-Syrien, was gelegentlich auch mit Levante übersetzt wird, daher die auch verwendete Abkürzung ISIL.
  • 2Aron Zelin vom Washington Institute gibt in einer aufwändig recherchierten Studie vom Dezember 2013 an („Foreign Jihadists in Syria: Tracking Recruitment Networks“), dass zwischen 3400 und 11 000 ausländische Kämpfer nach Syrien gekommen seien. Die enorme Spanne ergibt sich vor allem daraus, dass viele Kämpfer nur für kurze Zeit oder mehrmals kamen.
  • 3Noch am 27. Januar 2014 flogen ungehindert sechs Tunesier und ein Saudi über den Flughafen von Hatay bei Antakiya ein, der bereits seit 2012 zum Drehkreuz von ausländischen Dschihadisten geworden war, die völlig unbehelligt von dort ein- und ausreisten. Weiterhin war die regierungsnahe türkische Wohlfahrtsorganisation IHH mindestens bis zum Jahresbeginn 2014 hilfreich bei der Einreise von ausländischen Kämpfern nach Syrien vorbei an türkischen Grenzkontrollen.
  • 4ISIS behauptete auf einer seiner Websites zwar, die 17. Division angegriffen zu haben, aber der erste Versorgungsflug wurde von einem mitfliegenden Reporter des Senders Al-Manar gefilmt und als PR-Erfolg des Regimes ausgestrahlt.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar/März 2014, S. 38-45

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