Im ersten, zweiten, dritten Kreis der Hölle
Zwischen Gewalt und Gesetzlosigkeit: Eine virtuelle Reise durch den Irak
Oberflächlich betrachtet scheint die amerikanische Truppenverstärkung zu wirken: Das Morden nimmt ab, Bagdad wird ruhiger. Aber hinter dieser Fassade bereiten sich zahllose Milizen – zum Teil von den Amerikanern bewaffnet – auf den Kampf nach dem Abzug der US-Armee vor. Im Irak wächst ein weiteres zerfallenes Staatsgebilde heran.
Die irakische Millionenstadt drohte in Anarchie und Gewalt zu versinken. Milizen verschiedener Fraktionen beschossen einander auf offener Straße, sie hatten die Polizei unterwandert, raubten und mordeten ungehindert. Um der Lage Herr zu werden, schickte die Besatzungsmacht tausende zusätzlicher Soldaten. Sie sollten auch die irakischen Sicherheitskräfte endlich in die Lage versetzen, für Recht und Ordnung in der Stadt zu sorgen.
Und tatsächlich: Kaum war jedes Viertel, jede Straßenkreuzung bewacht, ging die Gewalt zurück. Schulen, Brücken und Straßenlaternen wurden repariert. Die Bewohner trauten sich auch abends wieder auf die Straßen, von denen die Pickups der Milizen jählings verschwunden waren. Schließlich schien der Irak-Feldzug der „Coalition Forces“ doch noch ein Erfolg zu werden. Der „Wendepunkt“ sei nun erreicht, sagte ein hoher Offizier bereits nach Wochen: Bald könne mit dem endgültigen Truppenabzug begonnen werden.
Nach knapp einem halben Jahr zog das aufgestockte Kontingent wieder ab. Es dauerte keinen Monat, da waren alle Milizen zurück. Nun brachten sie um, wen sie in der Zwischenzeit als Kollaborateur ausgemacht hatten und bekriegten sich wieder untereinander, so heftig wie zuvor. Mittlerweile sieht es aus, als ob die Kämpfer der „Rache Gottes“, der „Badr-Brigaden“ und der „Fazila-Partei“ der „Mahdi-Armee“ unterliegen, von der wiederum niemand weiß, wer diese Miliz letztlich kontrolliert. Die Rede ist von Basra, Iraks zweitgrößter Stadt nahe dem Persischen Golf. Hier versuchten die britischen Truppen von September 2006 bis Februar 2007 mit der „Operation Sinbad“ das zu erreichen, was die US-Armee mit dem „surge“ seit Anfang 2007 in Bagdad tut: mittels Truppenaufstockung, der Ausbildung zusätzlicher irakischer Ordnungskräfte und finanzieller Aufbauhilfe für Befriedung zu sorgen. Tatsächlich ist Bagdad erheblich ruhiger geworden. Doch sind die ausländischen Truppen der alleinige Grund? Handelt es sich um eine Friedensperspektive oder einen befristeten Waffenstillstand? Und welche Rolle spielt das Geschehen in Bagdad noch für den Rest des Landes?
Dank der fortschreitenden Fragmentierung des Irak bedarf es nicht mehr unbedingt des Abwartens, um die Zukunft zu erleben – es reicht der Blick in einen anderen Landesteil. Basra bietet da das beste Modell für die kommende Entwicklung. Denn hier fand nicht nur die Truppenaufstockung früher statt, hier existieren zudem Probleme wie die ethnisch-konfessionelle Zerrissenheit des Irak gar nicht: Basra ist fast homogen schiitisch, Al-Qaida hat hier nie Fuß fassen können. Die britischen Truppen haben hier weit zurückhaltender agiert als die Amerikaner in Bagdad, es gab keine Massenverhaftungen, kaum zivile Opfer der Besatzungstruppen. Dafür den Hafen, die Aussicht auf steigende Ölexporte, Handel, einen rasanten Wirtschaftsaufschwung. Saddam hatte die Stadt systematisch zugrunde richten lassen, nachdem hier 1991 der große schiitische Aufstand im Gefolge des gescheiterten Kuwait-Feldzuges ausgebrochen war. Präsident Bush sen. hatte zu diesem Aufstand aufgerufen, war den Schiiten dann aber nicht zu Hilfe gekommen. Mithin hatte Basra wenig zu verlieren.
Doch statt zu einem Ort des Friedens ist die Stadt zu einem Abgrund des alltäglichen Terrors geworden. Die zuvor unbehelligte kleine christliche Gemeinde ist fast vollständig geflohen. Frauen trauen sich nur noch verschleiert aus dem Haus, nachdem zwischen September und November 2007 mehr als 40 ermordet worden sind. Die Killerkommandos der Mahdi-Armee warten all-abendlich am Hayaniya-Platz ungestört neben ihren Toyota Saloons mit den großen Kofferräumen auf Arbeit (sie nehmen auch Fremdaufträge an). Die Stadt, die Ordnungskräfte, die Ölförderanlagen, die Verladeterminals werden beherrscht von fünf, sechs großen Milizen. Eine fragile Waffenruhe halten sie nur deshalb ein, um den Ölschmuggel nicht zu gefährden, ihre Haupteinnahmequelle. Die Briten haben die Stadt Mitte Dezember vollständig verlassen und sich in ihre letzte Bastion am Flughafen zurückgezogen.
Die neue „Ordnung“: Ein Spiegelkabinett
Auf den ersten Blick erscheint die Lage in Basra widersinnig, denn die bekannten Gründe für das Abgleiten des Irak in den diffusen Kriegszustand fehlen hier. Gerade dies aber offenbart den Fassadencharakter der neuen irakischen Ordnung: All die Insignien des Staates, die gewählte Regierung, das Parlament, die neu geschaffene Polizei und Armee sowie die Verfassung gewährleisten das Funktionieren dieses Staates nicht – selbst dann nicht, wenn sie keinerlei ethnischen Konflikten, Widerstandskämpfern und Al-Qaida-Terroristen gegenüberstehen.
Die Wirklichkeit des heutigen Irak ließe sich am ehesten in einem Drei-Schichten-Modell darstellen: Die Oberfläche – oder Fassade – spiegelt das Bild einer leidlich funktionierenden Regierung vor. Die müsse sich, so wird es von Washington wie vom irakischen Premier Nuri al-Maliki kommuniziert, lediglich gegen Aufständische durchsetzen, um das Land in geordnete Verhältnisse zu überführen. Dieses Bild wird auch vom Pressestab des US-Oberbefehlshabers im Irak, David Petraeus, „eingebetteten“ Journalisten präsentiert, die diese Einschätzung häufig eins zu eins übernehmen.
Auf der Ebene darunter wogt der halboffen geführte Bürgerkrieg, in dem die schiitisch dominierte Regierung und ihre Milizen versuchen, ihre Herrschaft über den Irak unumkehrbar zu festigen. Sie tun das mittels Vertreibung, Mord, dem Ausschluss von Sunniten aus dem Staatsapparat. Kurdistan im Norden, ohnehin de facto selbstständig, spielt nur am Rande eine Rolle. Erst darunter – oder zeitlich gesehen, erst dann, wenn der Blick nicht mehr durch die Illusion einer ausbaufähigen Regierung und durch die ethnischen Konflikte verstellt ist –, wird auf der untersten Ebene der Wirklichkeit die wahre Zerrüttung der irakischen Gesellschaft sichtbar: der fortwährende Zerfall selbst gerade erst entstandener Zusammenschlüsse; der Sieg der Fliehkräfte von Korruption und Kriminalität über jedwede Bindungskräfte, seien es religiöse, nationale oder politische Ideologien. Basra eben.
Der Irak hat keinen inneren Zusammenhalt. Das Land ist nicht gewachsen, sondern von britischen Kolonialbeamten aus drei Provinzen der Konkursmasse des Osmanischen Reiches am Reißbrett zusammengesetzt worden. 1921 wurde der Irak unabhängig. Aber er wurde nie zu einem Gemeinwesen aller Iraker, sondern von seinen wechselnden Herrschern stets nur als Beute betrachtet, die es mit aller Gewalt gegen den Rest der Bevölkerung zu verteidigen galt. Es gab nur die beiden Extreme Allmacht (unter Saddam Hussein auf die Spitze getrieben) oder Ohnmacht. Die USA haben Saddam gestürzt und mit der Auflösung von Baath-Partei und Armee auch die gesamte alte Ordnung zerstört – aber sie haben keinen Ersatz geschaffen, sondern lauter Kräfte entstehen lassen, die jede für sich nicht mehr stark genug sind zur Allmacht, aber allesamt auch weder fähig noch geneigt zum Kompromiss.
Dazu kommt, dass der Irak seit 2003 nicht nur politisch vollkommen umgewälzt worden ist, sondern auch sozial und demographisch. Die Zahlen von zwei Millionen Auslands- und weiteren zwei Millionen Binnenflüchtlingen mögen leicht übertrieben sein, aber große Teile der alten, bürgerlichen irakischen Mittel- und Oberschicht haben vor allem Bagdad verlassen. Und tausende von Mitgliedern der alten technokratischen Elite – Ärzte, Professoren, Piloten, Verwaltungsexperten – wurden Opfer gezielter Mordkampagnen.
Die Fiktion von „legitimer“ Macht versus „illegitimen“ Aufstand
Die existierende Regierung überdeckt nur die extreme Zerrüttung des Landes. Die Machtblöcke der irakischen Regierung repräsentieren die Ordnung ebenso sehr, wie sie sie unterminieren. Schiitische Todesschwadronen des Innenministeriums betreiben ethnische Säuberungskampagnen gegen Sunniten. Selbst nach amerikanischen Angaben verüben Schiiten, qua Regierung weitgehend mit den USA verbündet, in Bagdad die meisten Angriffe auf US-Truppen. Die kurdischen Koalitionspartner der Bagdader Regierung wiederum liegen mit ihr auf direktem Konfrontationskurs, was die Oberhoheit über die Ölförderung angeht. Und beide Seiten berufen sich auf die neue Verfassung.
Insofern geht schon die Grundannahme fehl, es stünden sich im heutigen Irak eine „legitime“ Regierung und „illegitime“ Aufständische gegenüber – und man müsse ersterer nur noch intensiver helfen, um mit letzteren fertig zu werden. In Wirklichkeit existiert im Land ein hochkomplexes, sich andauernd veränderndes Gebilde verschiedenster Machtgruppen mit unscharfen Rändern, unklaren Loyalitäten und oftmals klandestiner Agenda. Aus der Distanz wirkt es, als würden die drei großen Gruppen Sunniten, Schiiten und Kurden um die Macht im Lande ringen. Aus der Nähe werden jedoch zahllose weitere Bruchlinien sichtbar, unterscheiden sich die Machtverhältnisse von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt.
Der Süden, fast rein schiitisch, versinkt immer tiefer in innerschiitischen Konflikten der verschiedenen Parteien, und in jeder Stadt sieht das jeweilige Machtgefüge anders aus. Nassriya, nordwestlich der Provinzgrenze Basras, steht unter der Herrschaft des Irakischen Islamischen Hohen Rates (Supreme Islamic Iraqi Council/SIIC), einer der großen Schiiten-Parteien der Bagdader Regierungskoalition. Der SIIC stellt den Gouverneur und hat in den Kämpfen mit der Mahdi-Armee des Schiitenführers Muqtada al-Sadr bislang die Oberhand behalten. Die Provinz Maysan weiter östlich hingegen wird gänzlich beherrscht von der Mahdi-Armee, die sich hier aber in verfeindete Gruppen spaltet, da der Gouverneur mit Premier Nuri al-Maliki verwandt ist, der die Sadristen andernorts bekämpfen lässt.
Kompliziert ist auch das Machtgefüge in den drei heiligen schiitischen Städten Kufa, Nadschaf und Kerbala. Kufa, die kleinste, ist fest in der Hand Sadrs. Nadschaf, Sitz der meisten Großayatollahs, unter ihnen des Vordenkers Ali al-Sistani, untersteht den Ayatollahs in Allianz mit dem SIIC. Um Kerbala wird seit Monaten offen gekämpft: Die Dawa-Partei von Premier Nuri al-Maliki hat hier starken Rückhalt, den sie aber nur in Allianz mit dem SIIC umsetzen kann, da sie über keine eigene Miliz verfügt. Gegner ist die Mahdi-Armee; es geht um die Macht über dieses Epizentrum des Glaubens, aber auch um die Kontrolle der Spendenmillionen an den Grabschrein des Imam Hussein. Zuvor flohen Menschen aus Bagdad nach Kerbala, nun geht der Strom in die entgegengesetzte Richtung.
Zwischen den heiligen Städten und Bagdad ließ Saddam einst Sunniten ansiedeln, um einen Sperrriegel zwischen die Schiiten des Südens und Bagdads zu ziehen. Die ohnehin angespannte Lage dort eskalierte bereits 2004. Orte wie Yusufiya und Mahmudiya wurden Zentren des sunnitischen Widerstands gegen die US-Truppen, Schauplatz blutiger Massaker an Schiiten und Hochburgen der selbsternannten irakischen Al-Qaida. Ab 2005 wendeten schiitische Kämpfer das Blatt: Nun ermordeten und vertrieben sie die Sunniten, die heute im Wesentlichen nur noch Yusufiya beherrschen. Sie haben dort – wie weiter im Westen und Norden – die Seiten gewechselt: Statt mit Al-Qaida gegen die Amerikaner kämpfen sie nun mit den Amerikanern gegen Al-Qaida. Vor allem aber hoffen sie auf Schutz, um nicht vollends von schiitischen Milizen überrannt zu werden.
In diesen konfessionell gemischten Gebieten südlich von Bagdad sowie in den rein sunnitischen Provinzen westlich und nördlich der Hauptstadt haben sich die lokalen Stämme zu Allianzen des „Erwachens“ zusammengeschlossen. Aus einst erbitterten Feinden der US-Truppen wurden deren neue Verbündete. Die Eigendynamik der irakischen Al-Qaida hat dabei den US-Truppen in die Hände gespielt: Die einstige Speerspitze des sunnitischen Aufbegehrens, finanziell und personell besser aufgestellt als andere irakische Gruppen, hat reihenweise Verbündete ermordet, sobald diese sich ihrem absoluten Führungsanspruch widersetzten. Das missfiel den Stammesführern sehr.
Dieselben Motive haben auch die sunnitischen Stämme im „sunnitischen Dreieck“, der Provinz Anbar im Westen, in Saddams Heimatprovinz Salahedin im Norden sowie in Diyala im Osten Anfang 2007 dazu bewegt, sich zu „Erwachens“-Allianzen zusammenzuschließen. Aus erbitterten Feinden der US-Truppen wurden auch hier deren neue Verbündete. Mosul, Iraks drittgrößte Stadt an der Grenze zum autonomen Kurdengebiet, ist weiterhin Kampfgebiet sunnitischer Radikaler. Dort kämpfen sunnitische Dschihadisten unter dem ominösen, Al-Qaida nahestehenden „Islamischen Staat des Irak“ sowohl gegen schiitische Regierungstruppen wie gegen kurdische Soldaten. Die unterstehen zwar nominell Bagdad, verteidigen aber de facto die kurdischen Viertel und den Machtanspruch der kurdischen Regierung.
Kirkuk, die multiethnische Ölmetropole im Nordosten, wird gegen den Widerstand der dortigen turkmenischen und der arabischen Minderheit von den Kurden beansprucht, die Stadt und Ölfelder ihrem Herrschaftsgebiet eingliedern wollen. Deren Autonomiegebiet ganz im Norden, regiert von Erbil aus von der „Kurdischen Regionalregierung“ (KRG), hat mit dem restlichen Irak immer weniger zu tun: Gesichert durch schwerbewachte Checkpoints und ein dichtes Spitzelnetz haben die Kurden es vermocht, Terroranschläge und die ansonsten allgegenwärtige Entführungskriminalität weitgehend aus ihrer Region fernzuhalten. Die KRG, eine Allianz der beiden traditionellen Clans mit Parteiemblem (der KDP in Erbil und der PUK in Sulimaniye), ignoriert weitgehend alle Anweisungen der Zentralregierung. Die irakische Flagge weht nirgends, Kurdisch ist Amtssprache und arabische Flüchtlinge aus dem Zentralirak werden nur noch mit (mühsam zu erhaltender) Genehmigung geduldet. Die sichere Lage hat im Nordirak einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht.
Warum ist Bagdad ruhiger geworden?
Bagdad schließlich, das alte Herz des erbarmungslosen Zentralstaats unter Saddam Hussein, hat in den letzten Monaten die augenfälligste Veränderung durchgemacht. Die Angriffe auf US-Truppen sind auf das Niveau von 2005 zurückgegangen, ebenso die Morde unter Irakern. Kein Ende des Krieges, aber zum ersten Mal ein Innehalten der bisherigen Eskalation. Cafés, Restaurants und Märkte haben wieder in größerer Zahl geöffnet, die Menschen trauen sich in manchen Vierteln sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße. Hauptgrund dafür ist der „surge“, die amerikanische Truppenaufstockung. Rund 20 000 von 30 000 zusätzlichen Soldaten sichern seit der ersten Jahreshälfte Bagdad. Umkämpfte Viertel wie Dora im Süden sind mittels meterhoher Betonmauern und Checkpoints in Freiluftgefängnisse verwandelt worden – mit Zustimmung ihrer Bewohner, die nach Jahren des Terrors nun wenigstens in ihren Häusern halbwegs sicher sind.
Doch es gibt weitere, eher zynisch klingende Gründe für diese erste Trendwende nach vier Jahren der Eskalation: Die erste Konsolidierungsphase der ethnischen Säuberungen ist abgeschlossen. In fast allen Stadtvierteln Bagdads sind die Machtverhältnisse inzwischen geklärt. Bagdad, einst Zentrum der sunnitischen Macht, ist eine schiitische Stadt geworden; der Anteil schiitisch dominierter Viertel ist von etwa 30 auf 75 Prozent gestiegen. Der schiitische Bevölkerungsanteil dürfte ebenfalls gestiegen sein, da vor allem die Minderheiten (Christen, Mandäer) und Sunniten aus der Stadt geflohen sind. Ging es den schiitischen Milizen bis 2006 im Wesentlichen darum, ihre Vormacht auf der Ostseite des Tigris auszubauen, so haben sie mittlerweile auch weite Teile des Westens der Stadt unter ihre Gewalt gebracht.
George W. Bushs Regierung profitiert damit ein Dreivierteljahr nach Beginn der Truppenaufstockung paradoxerweise vom vollständigen Scheitern ihrer ursprünglichen Prognosen. Die Iraker haben trotz Demokratie-Workshops und (weitgehend versickerter) Milliardenhilfe, trotz Verfassung und Wahlen keinen demokratischen Staat mit israelischer Botschaft und US-firmenfreundlichem Ölgesetz hervorgebracht – sondern einen Alptraum. In diesem Inferno aber sind die USA seit Ende 2006 in die Mittelposition gerutscht, sie sind quasi zum kleineren Übel geworden – für die Sunniten im Kampf gegen Al-Qaida und die schiitische Regierung, für manche Schiiten, weil die sich inzwischen vor der Gewalt ihrer „eigenen“ Milizen fürchten.
Die seit 2003 neu entstandenen Feinde der US-Besatzung, all die Todesschwadronen, Terrorgruppen, Milizen und „Armeen“ religiöser Gruppierungen haben sich damit selbst durch ihre maßlose Brutalität und ihre inneren Gewaltexzesse zu unfreiwilligen Helfern der Amerikaner gemacht. Trotz aller Massenverhaftungen, Kollateral-Erschießungen und Gefängnisfolter erscheinen die US-Truppen vielen Irakern mittlerweile als eine halbwegs zivilisierte Ordnungsmacht – jedenfalls im Vergleich zu den eigenen Landsleuten.
Das Tückische an der momentanen Beruhigung der Lage ist jedoch, dass keiner der großen Konflikte des Landes gelöst ist und auch nirgends Ansätze dazu sichtbar sind:
- Die Rehabilitierung niederer Kader der Baath-Partei, Saddam Husseins alter Machtbasis, ist Ende November von der schiitisch-kurdischen Parlamentsmehrheit abgelehnt worden. Damit bleiben Sunniten weitgehend von Regierung, Verwaltung und Militär ausgeschlossen – auch wenn die USA massiv versuchen, Armee und Polizei auch für Sunniten zu öffnen, was von Malikis Regierung ebenso nachhaltig hintertrieben wird.
- Das Gesetz zur Regulierung der Ölförderung und Einnahmenverteilung wird immer wieder angekündigt, aber – trotz massiven Druckes aus Washington – weiterhin verschleppt. Während den Sunniten mangels bekannter Ölvorkommen in ihren Wohngegenden gar nichts anderes übrig bleibt, als auf die traditionelle zentrale Staatskontrolle zu setzen, beanspruchen die Kurden das Gegenteil und wollen ihre neu erschlossenen Felder unter eigener Oberhoheit ausbeuten. Die Schiiten sind uneins, sie teilen sich in Zentralisten und Föderalisten. Die KRG hat im August 2007 ihr eigenes Öl-gesetz verabschiedet und seither 15 Explorationsabkommen mit ausländischen Firmen abgeschlossen, die im November vom Ölminister der Zentralregierung, Hussein Shahristani, allesamt wieder für null und nichtig erklärt wurden – woraufhin die KRG ihrerseits Shahristanis Intervention als verfassungswidrig ablehnte.
- Das auf kurdischen Druck in die Verfassung aufgenommene Referendum, ob Kirkuk und Teile der nördlichen Zentralprovinzen dem Herrschaftsgebiet der KRG zugeschlagen werden, sollte im Dezember 2007 stattfinden. Es ist aber vorläufig verschoben worden. Der Verfassungsartikel 140, in dem von der „Normalisierung“ der demographischen Verhältnisse die Rede ist, wird von den Konfliktparteien äußerst unterschiedlich interpretiert.
In allen drei Fällen gilt: Keine Seite ist bereit zu einem Kompromiss, solange die Machtfrage nicht geklärt ist. Die aber lässt sich nicht klären, solange die US-Truppen im Land das Geschehen zwar nicht kontrollieren, aber doch soweit beeinflussen, dass keine Seite die andere eindeutig besiegen kann. Das erklärt die momentane Ruhe – aber es bietet keinerlei Aussicht auf nachhaltigen inneren Frieden. Im Gegenteil: Die Machtfrage wird nicht jetzt geklärt, gerade weil sie später geklärt werden wird. Der Verdacht liegt nahe, dass die derzeitige Ruhe nur im Junktim mit der Anwesenheit von rund 164 000 US-Soldaten gilt: Werden die – spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen Ende 2008 – reduziert oder gar weitgehend abgezogen, dürfte danach die bis dahin ungeklärte Machtfrage unter den Irakern vehement ausgetragen werden.
Aus der Perspektive der Milizen wäre es nicht zweckdienlich, sich jetzt schon an der auf Rekordhöhe gebrachten US-Militärpräsenz aufzureiben, die in einem Jahr ohnehin massiv schrumpfen wird. Klüger ist es, abzuwarten und sich in der Zwischenzeit von den Amerikanern aufrüsten zu lassen. Dabei fürchten sich sowohl Sunniten wie Schiiten, beide Gegner einer dauerhaften US-Präsenz, vor einem allzu raschen Abzug der Amerikaner. Sunniten haben Angst, dann endgültig von den Schiiten überrannt zu werden; Schiiten fürchten die Rückkehr der militärisch besser ausgebildeten, herrschaftsgewohnten Sunniten. Jeder zittert vor der anderen Seite. Mit Recht.
Die gängige amerikanische Doktrin lautet, man müsse die Regierung nur mit anhaltendem Druck zum Frieden bewegen und in der Zwischenzeit die irakischen Sicherheitskräfte so lange trainieren, bis diese selbst die Kontrolle übernehmen könnten. Washington hat wieder und wieder „benchmarks“ gesetzt, Testmarken, als gelte es, einen bockigen Prüfling zur Räson zu bringen. Es hat gelobt, belohnt und gedroht. Aber vergebens.
Irrtümer, falsche Prämissen, Illusionsketten
Denn diese Haltung fußt auf Irrtümern wie der Annahme, dass es lediglich die Unfähigkeit der Regierung und der neu geschaffenen Armee und Polizei seien, die sie an der Erfüllung ihrer oktroyierten Aufgaben hinderten. Das ist eine Illusion von großer Hartnäckigkeit. Aus ihr hat sich gleich die nächste Illusion entwickelt, man habe es letztlich mit nur zwei Parteien zu tun: der „guten“ Regierung und den „bösen“ Aufständischen. Aus diesem fundamentalen Missverständnis nährte sich wiederum die Folgeillusion, dass doch noch ein „Sieg“ der Koalitionstruppen möglich sei. Diese Illusionskette geht jedoch von falschen Prämissen aus und verleitet zu falschen Annahmen. Vor 2003 gab es im Irak eine gefürchtete Armee inklusive schlagkräftiger Luftwaffe (bis 1991), Infrastruktur, Stromversorgung, letztere selbst nach dem Krieg 1991 binnen Jahresfrist wiederhergestellt – trotz Embargos und ohne milliardenschwere US-Hilfe. Es kann die genuine Unfähigkeit der Iraker also nicht sein, die die Situation von heute so hoffnungslos macht.
Das Land ist gelähmt von der ungeklärten Lage. Einen inneren Antrieb, gespeist aus einem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl, hat es im Irak noch nie gegeben. Den äußeren Druck von Saddam Husseins Regime gibt es auch nicht mehr. Und eine Klärung der Machtverhältnisse hat Washington bislang verhindert durch den Versuch, die Reihenfolge des Prozesses umzukehren: Bevor die innerirakische Machtfrage geklärt ist, sollten alle Kontrahenten mit Kompromissen dazu beitragen, den Staat zu konsolidieren. Dem aber stehen die immensen Machtansprüche aller Parteien und die generelle politische Mentalität im Irak entgegen. Die Sunniten fühlen sich, obschon sie kaum ein Viertel der Bevölkerung stellen, nach Jahrhunderten der Vorherrschaft immer noch im Recht, selbige für sich zu beanspruchen. Die Schiiten, mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, wollen ebenfalls die ganze Macht, und zwar im gleichen, exklusiven Maße wie früher die Sunniten. Die Kurden beanspruchen einfach ein Machtgebiet, das doppelt so groß ist wie ihr ursprüngliches.
Die USA im Irak stecken in einem Dilemma: Militärisch sind sie mächtig genug, anhaltende offene Kampfhandlungen zu unterbinden oder zu ihren Gunsten zu entscheiden. Aber sie sind zu schwach, den Terror, die Vertreibungen, die grassierende Kriminalität zu verhindern und ihre eigenen politischen Vorstellungen zu verwirklichen – wobei durchaus fraglich bleibt, ob sie überhaupt je ein kohärentes Nation-building-Modell durchsetzen wollten.
Prägnantes Beispiel ist die im Oktober 2005 auf Druck Washingtons verabschiedete irakische Verfassung: Sie ist nicht einmal der kleinste gemeinsame Nenner der verfeindeten Volksgruppen, sondern eine Ansammlung einander widersprechender Positionen, deren einziger Zweck darin bestand, mehrheitsfähig zu sein. Die Vereinten Nationen, so ein hoher UN-Vertreter aus Bagdad, seien zu den entscheidenden Beratungen gar nicht mehr hinzugezogen worden. Die Verfassung regelt nicht, welches Anrecht die Zentralregierung hat auf Steuern, Zölle, Ressourcen – und welche Rechte die „föderalen Regionen“ haben, ohne deren Einwilligung die Staatsregierung nicht einmal Truppen dort stationieren darf. Die kurdischen und schiitischen Fraktionen schrieben ihre Forderungen einfach in das Abschlussdokument hinein; die Sunniten boykottierten den gesamten Prozess ohnehin.
So eilig hatte es Washington, die Verabschiedung der Verfassung zu seinen zeitlichen Konditionen verkünden zu können, dass ein widersinniges Dokument dabei herausgekommen ist: Es fördert weder das friedliche Zusammenwachsen des Irak, noch genießt es den Respekt, der sich nach landläufiger Auffassung mit einer solchen Grundlage des Staatswesens verbindet. In der Verfassung stehen Frauenrechte, Religions- und Pressefreiheit – aber unverschleierte Frauen können sich trotzdem kaum noch auf die Straße trauen, Christen werden gejagt, und in keinem anderen Land der Welt sind in den vergangenen Jahren so viele Journalisten ermordet worden wie im Irak.
Die US-Regierung brauchte Erfolge, die dem Publikum im eigenen Land zu vermitteln sind. Dafür eignete sich die übereilte Verabschiedung der neuen, wohlklingenden Verfassung gut – selbst wenn diese die Lage vor allem verkompliziert hat. Seit nunmehr zwei Jahren berufen sich alle Konfliktparteien auf jeweils „ihren“ Passus in der Verfassung und blockieren so erst recht jede Einigung. Ebenso braucht Washington die oben beschriebene Illusionskette von der Regierung, die man nur leiten und den Terroristen, die man nur vernichten müsse. Diese Annahme wird von Malikis Regierung rhetorisch mitgetragen, aber nicht aus innerer Überzeugung, sondern aus pragmatischem Kalkül: Man kann die Amerikaner nicht besiegen, aber man kann sie benutzen.
Malikis stete Obstruktion wird als Unfähigkeit dargestellt, und es bleibt amerikanischen Militärs im Irak vorbehalten, die Realität zu schildern. Wie es sieben couragierte Unteroffiziere der 82nd Airborne Division jüngst in einem Kommentar in der New York Times taten:1 Die politische Debatte in Washington nennen sie „surreal“, denn anstatt Seite an Seite mit loyalen irakischen Verbänden gegen Aufständische zu kämpfen, würden sie von allen Seiten gleichzeitig benutzt und bekämpft. In einem „zusehends unübersichtlichen Feld erklärter Feinde und fragwürdiger Verbündeter“ sei es „irreführend“, etwa von der Verlässlichkeit irakischer Armeeoffiziere zu sprechen: „Selbst wenn ein Bataillonskommandeur guten Willens ist, hat er keinen Einfluss auf die Tausende unter seinem Kommando, die in Wirklichkeit nur loyal zu ihren Milizen sind.“ Ein aus ihrer Sicht typischer Anschlag auf ihre Kameraden habe sich in Bagdad zwischen einem Armeeposten und einer Polizeisperre ereignet. Deren Besatzungen hätten, so spätere Zeugenaussagen, gemeinsam die Attentäter eskortiert und ihnen geholfen, den Sprengsatz zu platzieren. Die schiitisch dominierte irakische Regierung habe schlicht andere Ziele als Washington. Die Klärung der Machtverhältnisse im Land werde nach irakischen, nicht nach amerikanischen Maßstäben oder Wünschen stattfinden: „Uns bleibt nur zu wählen, auf welche Seite wir uns stellen.“
Genau da aber öffnet sich gerade eine Lücke zwischen Regierungsverlautbarungen und militärischer Praxis: Nominell bleibt die irakische Regierung Hauptverbündeter. De facto aber bewaffnet und finanziert das US-Militär im Irak mittlerweile jeden Stamm und jeden Milizkommandeur, der die Herrschaft über ein Gebiet, und sei es nur ein Stadtviertel, sicherstellen kann und mit den Amerikanern kooperiert. Von den Sunniten sind bislang rund 200 Milizen mit ca. 60 000 Kämpfern aufgestellt worden, vordergründig zur Bekämpfung von Al-Qaida. Diese Milizen, etwas irreführend als „concerned local citizens“ (CLC), betroffene Bürger, bezeichnet, sollen in die regulären Streitkräfte eingegliedert und künftig von der irakischen Regierung bezahlt werden. Doch sunnitische CLC und die schiitischen Polizeieinheiten stehen sich feindselig gegenüber. Die sunnitischen Kommandeure der „betroffenen Bürger“-Milizen erklären offen, sich langfristig für den Kampf gegen die Schiiten zu rüsten. Malikis Regierung hat im Gegenzug deren Auflösung gefordert mit der Begründung, diese Verbände „operieren außerhalb der Regierungskontrolle (...) unter ihnen befinden sich Terroristen (...) die sich der Entführungen, Morde und Erpressung schuldig gemacht haben“. Letzteres ließe sich allerdings auch über die schiitischen Sondereinheiten des Innenministeriums behaupten. Wahlloses Morden, kriminelle Gier
Den politischen Kampf aber, so verdeckt er zum Teil geführt wird, prägt seinerseits ein anderer, vielfach unterschätzter Faktor. Unterhalb der Ebene konfessionell bestimmter Manöver und Kämpfe zeichnen sich wachsende Fliehkräfte ab, die von Malikis Regierung bis hin zu Al-Qaida fast alle irakischen Akteure erfasst, fragmentiert und schwächt. Der Mangel an Loyalität, die gegenseitige Überbietung an Brutalität und die Gier höhlen Parteien und Milizen von innen aus – mit Ausnahme der kurdischen KRG, die zwar ebenfalls von zwei korrupten Familienclans beherrscht wird, aber dies in einem weitaus stabileren Umfeld.
Al-Qaida hat durch wahlloses Morden und kriminelle Gier die Unterstützung der Stämme verloren – und durch interne Korruption viele der eigenen Anhänger. Malikis Regierung hat den Irak auf einen der allerletzten Plätze in der Korruptionsstatistik von Transparency International gebracht. Der Antikorruptionsbeauftragte der Regierung, Richter Radhi Hamza Radhi, hat kürzlich in den USA um politisches Asyl ersucht, nachdem 31 seiner Ermittler ermordet worden waren. Malikis Büro habe die Untersuchung von Korruptionsfällen in Milliardenumfang verhindert, der Premier persönlich eine Untersuchung von Unterschlagungen seines Cousins blockiert. Der ist Transportminister. Auch die Loyalität der neu gegründeten sunnitischen Milizen reicht nicht weit: Als der sunnitische Vizepräsident Tariq al-Haschimi im Oktober den sunnitischen Stadtteil Amriya besuchen wollte, stießen seine Leibwächter auf Kommandeur Abu Abed und seine „Ritter von Amriya“ – eine jener US-gesponsorten Milizen „betroffener Bürger“ mit schweren Waffen und eigenen Folterräumen. Abu Abed herrschte al-Haschimis Leibwächter an: „Wisst ihr, wer ich bin? Macht den Weg frei!“ Der Chef der Leibgarde erwiderte: „Wir wissen, wer du bist, Abu Abed. Aber das hier ist der Vizepräsident des Irak!“ Abu Abed: „Das hier ist Amriya, nicht Irak! Hier herrsche ich!“ Sprach’s und schubste den Offizier zur Seite.
Alles zerfällt von innen, auch jene Formationen, die erst nach Saddams Sturz gewachsen sind. Selbst die Mahdi-Armee, die seit 2003 stetig aufgestiegen war zur originären Macht der schiitischen Massen. Angeführt wird sie von einem gänzlich uncharismatischen Mittdreißiger ohne größere Bildung, dessen Name aber alles überstrahlt: Sadr. Muqtada al-Sadr, Sohn des bruchlos verehrten, von Saddam ermordeten Großayatollahs Mohammed Sadeq al-Sadr.
Lange Zeit sah es so aus, als würde Sadrs Mahdi-Armee unaufhaltsam mächtiger, politisch raffiniert plaziert auf der Scheidelinie zwischen Kooperation mit und Widerstand gegen Amerika; eine Mischform aus Todesschwadron, Nachbarschaftswehr, politischer Partei und Mafia. Die Mahdi-Armee war bei sunnitischen Irakern wie britischen und US-Militärs gleichermaßen gefürchtet für ihre Unterwanderung der Polizei und anderer Institutionen. Doch mittlerweile wird die Mahdi-Armee ihrerseits unterwandert von halbwüchsigen Killergangs, Kriminellen, die unterschiedslos Sunniten wie Schiiten niedermetzeln und sich den Hass jener Klientel zugezogen haben, zu deren Schutz sie doch angetreten waren: der Schiiten. „Früher versorgten sie uns mit Kochgas, Lebensmitteln und Schutz vor den Sunniten“, fasst es ein Bewohner von Sadr-City, Bagdads größtem Schiiten-Slum, zusammen: „Heute töten sie eine ganze Familie für den Gegenwert einer Telefonkarte!“ Als
Ende Oktober 2007 das Hauptquartier der Sadristen im einst gemischten, von Sadristen schiitisierten Bagdader Stadtteil Hurriya in die Luft flog, vermuteten viele einen sunnitischen Racheakt. Doch es waren – Sadristen, die das Sadristen-Büro gesprengt hatten. Das Geschäft mit den Häusern, Autos und sonstigen Hinterlassenschaften vertriebener Sunniten war so lohnend geworden, dass einfach eine zweite Sadristengruppe ihr Büro in Hurriya eröffnet hatte, um sich ihren Teil des Kuchens zu sichern. Seither herrscht Krieg zwischen den Sadristen beider Seiten, die einander beschießen, entführen, bombardieren und beide über Verbündete in den Führungsrängen verfügen.
Hier schließt sich der Kreis, zurück nach Basra, in die Zukunft: Die Macht, kaum politisch konsolidiert, wird schon wieder zerrieben von den Fliehkräften der Gier, bevor sie auch nur die Grenze des Stadtviertels überschritten hat. Die Anfänge der Nach-Saddam-Zeit waren noch geprägt davon, dass Iraker sich überhaupt organisierten, wenn auch eher in Milizen als in Parteien (oder in Zwitterformen). Doch mittlerweile scheint der Wille zur Bereicherung stärker zu werden als jener, dem eigenen Lager zur Macht zu verhelfen. Dies erschwert politische Prognosen. In den vergangenen Jahren sah es so aus, als ob die konfessionelle Arithmetik der schiitischen Mehrheit ihnen den Durchmarsch zur Macht garantieren würde – neben einem mehr oder minder souveränen Kurdistan. Doch wenn diese Arithmetik nicht mehr eisern gilt, wenn das Spektrum der Machtgruppen sich weiter atomisiert, könnten die gewaltsamen Konsolidierungsbewegungen nach dem weitgehenden Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen gänzlich unerwartete Richtungen einschlagen. Zentralisten könnten sich gegen Föderalisten verbünden, antiiranische Schiiten mit Sunniten gegen proiranische Schiiten, Kurden mit jenen Schiiten und Sunniten, die ihnen die Unabhängigkeit garantieren. Auch die Rolle der Vereinigten Staaten ist unvorhersehbar geworden: Ob ihre jetzige Verfahrensweise der „counter-insurgency“, nämlich alle Seiten zu bewaffnen, ihnen langfristig Verbündete einbringt oder eher den Hass aller Seiten, ist heute durchaus offen.
Vor jeder echten Konsolidierung kommt erst die Zukunft. Oder Basra, so wie es heute schon ist.
Land ohne Wirklichkeit
Um die Lage im Irak beurteilen zu können, bedarf es verlässlicher Informationen darüber, was dort geschieht. Daran aber mangelt es, der Nachrichtenflut über Anschläge zum Trotz. Das hat verschiedene Gründe. US-Militärs liefern, nicht erst seit den Folterungen in Abu Ghraib, oft falsche Versionen von Ereignissen. Sie geben tote Zivilisten als Aufständische aus, kategorisieren Gefangene ohne jede Grundlage als Terroristen, vertuschen willkürliche Erschießungen und beschreiben eher ihre Wunschvorstellungen der Lage im Land als die wirkliche Lage. Aber auch die irakische Seite verbreitet Falschmeldungen und haarsträubende Übertreibungen.
Jenseits opportunistischer Motive liegt dem eine spezifisch irakische Tradition zugrunde: Saddam und seine Geheimdienste kultivierten Verschwörungstheorien. Lügen, Täuschungen und Gerüchte waren für die Bevölkerung in der mörderischen Diktatur überlebensnotwendig. Bis heute gelten sie nicht als per se verwerflich. In kaum einem Land des Nahen Ostens finden Wahngebilde wie die Vorstellung einer „zionistischen Freimaurer-Weltverschwörung“ derart viele Anhänger. Und vor Saddams Sturz gab es außerhalb Kurdistans keine frei berichtenden Medien. Die Wirklichkeit und ihre getreue Übermittlung haben also einen geringen Stellenwert. Dazu kommt, dass Journalisten zunehmend ins Visier aller politischen und militärischen Gruppierungen geraten, die auf jede kritische Berichterstattung mit Drohungen und Mord reagieren. Um wenigstens eine Keimzelle des Qualitätsjournalismus zu etablieren, bildet seit Herbst 2003 das britische „Institute for War & Peace Reporting“ (IWPR) im Irak Journalisten aus. Von ihnen stammen die folgenden exzerptierten Texte (siehe Kästen S. 25, S. 27 und S. 29).
US-Militär: Unbesiegbar, aber nützlich
Am Anfang schien alles klar. Muaffak al-Rubaii, „Sicherheitsberater“ der irakischen Regierung, bat am 28. Januar 2007 aufgeregt das US-Oberkommando in Bagdad um Hilfe: Hunderte von Al-Qaida-Terroristen seien in Zarqa eingekesselt worden beim Versuch, schiitische Pilger in der nahegelegenen heiligen Stadt Nadschaf anzugreifen. Die US-Militärs fragten nicht weiter, bombardierten und töteten knapp 300 der angeblichen Terroristen. Präsident George W. Bush lobte: „Endlich beginnen die Iraker, aktiv zu werden!“ Tags darauf war die Lage bereits unklarer: Man hatte keine sunnitischen Terroristen, sondern Schiiten bombardiert, eine kaum bekannte Sekte namens „Soldaten des Himmels“. Doch auch diese Gruppe habe Anschläge verüben wollen, beharrte der Gouverneur von Nadschaf auf seiner Version: Die Kämpfer seien plötzlich aufgetaucht und erst in letzter Minute entdeckt worden.
Diese Version fand ihren Weg in die internationalen Medien. IWPR-Reporter kamen nach wochenlangen Recherchen zu einem anderen Ergebnis: Die „Soldaten des Himmels“ hatten seit Jahren, manche mit ihren Familien, an dem Ort gelebt, an dem sie angegriffen wurden. Anwohner und Polizeiquellen bestätigten, dass die Sektierer wiederholt aufgefordert worden waren zu verschwinden. Einen Angriffsplan habe es, bestätigte schließlich sogar der Vizegouverneur, nie gegeben: Man sei schlicht beunruhigt über die religiöse Konkurrenz gewesen, habe das Lager räumen wollen und den (bewaffneten) Widerstand der Sektierer unterschätzt. Weshalb die US-Luft-waffe gerufen wurde, um das Problem zu lösen.
Ethnische Vertreibungen als Geschäftsidee
Schon frühzeitig recherchierten IWPR-Reporter, welches enorme Ausmaß die ethnischen Auseinandersetzungen vor allem in Bagdad annahmen – und mit welch bizarren Auswüchsen. So beschrieb die Reporterin Zaineb Naji schon Ende 2006 ein florierendes Geschäftsmodell von Bagdader Immobilienmaklern: den Häusertausch von Vertriebenen. Sunniten ziehen in rein sunnitisch gewordene Viertel, Schiiten in schiitische Viertel. Ein zitierter Makler gab an, allein binnen Monaten mehr als 100 solcher Tauschaktionen gegen Gebühr arrangiert zu haben. Um das Geschäft zu erleichtern, führe er Listen mit Wohnungsgröße und -lage. Die meisten Parteien nähmen ihre Möbel mit, das Ganze werde vertraglich fixiert und gelte so lange, bis die Sicherheitslage sich wieder beruhigt habe. Wobei allerdings kaum jemand ernsthaft mit seiner Rückkehr in früher gemischte Viertel rechne, da auch die Milizen begännen, die Vertreibung als ein hochprofitables Geschäft zu betreiben. Sie verschachern die Häuser und sonstigen Hinterlassenschaften der Vertriebenen – ganz ohne Tauschangebote.
Stadt ohne Bilder
Als General David Petraeus als Kommandeur der 101. US-Luftlandedivision 2003/2004 die nordirakische Millionenstadt Mosul regierte, überboten sich die Zeitungen: „Keiner hat mehr getan, die Hirne und Herzen der Iraker zu sichern“, schrieb Newsweek. Andere berichteten, Petraeus sei von den Irakern „König David“ getauft worden, sein Vorgehen beispielhaft. Als Petraeus im Mai 2004 abzog, versank die Stadt im Terror konkurrierender Milizen. Daran hat sich wenig geändert. Über Mosul wird selten berichtet – auch, weil es lebensgefährlich ist, dort zu recherchieren. Für IWPR schrieb nur die lokale Journalistin Sahar al-Haydari. Sie berichtete, wie radikalsunnitische Milizen einander überboten im Fanatismus. Sie untersagten Frauen das Sitzen auf Stühlen, weil es sie errege, und Männern das Musikhören, weil es zu Homosexualität führe. Im Sog dieser Tyrannei wurden so viele Fotografen ermordet, dass Mosul zur Stadt ohne Bilder geworden ist. Selbst auf Hoch-zeiten wird nicht mehr fotografiert. Die „Islamische Regierung des Irak“ verhängte ein Bildnisverbot für alle Fotos bis auf Passbilder. Schließlich habe der Prophet ja auch keine Kamera besessen. Die Stadt ohne Bilder war eine von Sahar al-Haydaris letzten Recherchen – am 7. Juni 2007 wurde sie von einem Killerkommando der Radikalen vor ihrem Haus erschossen.
Wer hebt den irakischen Ölschatz?
„Kein Blut für Öl“, war der gängigste Slogan der Kriegsgegner 2003. Sie meinten, dass die US-Regierung unter Vizepräsident Dick Cheney und Präsident George W. Bush Saddams Regime stürzen wollte, um sich der irakischen Ölvorräte zu bemächtigen.
Das ging schief. Die laufende Förderung hat trotz Aufhebung des Embargos bis heute noch nicht wieder Vorkriegsniveau erreicht, von der Erschließung neuer Quellen ganz zu schweigen. Ein neues Ölgesetz, das die rechtliche Basis für Investitionen wäre, wird von der irakischen Regierung aus verschiedenen Gründen seit Jahren verschleppt. Aber stimmte der Verdacht trotzdem? Dokumente und Zeugenaussagen belegen einerseits, dass die US-Regierung tatsächlich Macht über die Ölvorräte erlangen wollte. Andererseits zeigen sie, dass es keinen Plan gab, auf welchem Wege dies geschehen sollte. Ein Muster, das sich derzeit mit dem Ölgesetz wiederholt. Der amerikanische Entwurf sieht vor, ausländischen Konzernen einen weitaus größeren Einfluss zuzugestehen als in allen Nachbarstaaten. Aber die irakische Regierung verabschiedet das Gesetz nicht, und Washington kann schlecht einen Putsch inszenieren.
Dabei ist das irakische Öl einer der größten ungehobenen Schätze der Welt. Die bekannten Reserven von ca. 112 Milliarden Barrel bringen den Irak auf Platz drei der Weltrangliste hinter Saudi-Arabien und Iran. Ein oft unterschätzter Faktor kommt hinzu: Die enorme Verbesserung der Prospektierungsmethoden ist am Irak weitgehend vorübergegangen. Wegen der Kriege und des späteren Embargos wurden seit den achtziger Jahren kaum noch neue Quellen erschlossen, anders als in friedlichen Förderländern, die ungehinderten Zugang zu US-Technik haben. Experten veranschlagen die unbekannten Vorräte auf 45 bis über 100 Milliarden Barrel. Das irakische Öl ist, anders als etwa das in Schiefersanden gebundene oder unterseeische, extrem billig zu fördern. Der Anreiz für ausländische Kräfte, diese Ressourcen zu kontrollieren, ist immens. Aber das wäre untrennbar an eine Bedingung geknüpft, die kaum erfüllbar scheint: vollständige politische und militärische Kontrolle des Landes. Ölanlagen sind hochsensibel für Anschläge, und kaum etwas ist in den Ölländern so populär wie die Verstaatlichung der Förderung, wie 1972 im Irak geschehen – betrieben von Saddam Hussein.
CHRISTOPH REUTER, geb. 1968, Reporter des stern, hat den Irak seit 1990 immer wieder besucht. Von Anfang 2003 bis Sommer 2004 hielt er sich kontinuierlich im Land auf. Zusammen mit Susanne Fischer schrieb er das Buch „Café Bagdad (2005). Seit Anfang 2007 bildet er irakische Journalisten im Nordirak aus.
- 1„The War as We Saw it“, New York Times, 19.8.2007.
Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 14 - 31