Raketenabwehr: Schutz oder Gefahr?
Mehr Sicherheit oder neues Wettrüsten? Europa streitet über Amerikas Abwehrschirm
Um sich vor einem Nuklearschlag des Iran zu wappnen, will Washington in Polen und Tschechien ein Raketenabwehrsystem errichten. Doch Amerikas Pläne werfen kontroverse sicherheitspolitische Fragen auf: Wie soll der Westen auf eine mögliche Bedrohung antworten? Wie reagiert Moskau auf die US-Initiative? Steht die Welt vor einem neuen Wettrüsten?
Verhandeln ist gut, Abschreckung ist besser
Amerikas Raketen provozieren keinen neuen Rüstungswettlauf
Rüstungswettläufe sind zurzeit in aller Munde. Politiker von SPD, FDP, den Grünen und der Linken warnen mit Blick auf die Raketenabwehrpläne der USA in zum Teil dramatischer Sprache davor. Es ist im Prinzip richtig, Rüstungsentscheidungen daraufhin zu bewerten, was sie in anderen Ländern an Konsequenzen bewirken können. In der deutschen Debatte ist der Begriff „Rüstungswettlauf“ aber zu einer populären Leerformel verkommen – und die deutsche Politik könnte darüber den Blick für die realen Probleme verlieren.
Hinter dem Begriff des „Rüstungswettlaufs“ steht die Sorge, dass rüstungsdynamische Prozesse die Politik dominieren und sogar zum Ausbruch von Kriegen führen. Tatsächlich hat es in der Geschichte solche Prozesse gegeben. Insbesondere der Ost-West-Konflikt war durch eine komplexe Rüstungsdynamik gekennzeichnet. Allerdings hat die militärische Konkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt gezeigt, dass ein Rüstungswettlauf nicht notwendigerweise gefährlich sein muss – war er doch im Vergleich zur Aussicht auf einen realen, auch nur konventionellen Krieg die bessere Alternative. Und er war auch besser als die Kapitulation des Westens.
Im Mittelpunkt der heutigen Debatten steht die Frage, ob die Einführung von Raketenabwehr gegen aufkommende nukleare Raketenbedrohungen seitens des Iran und Nordkoreas gerechtfertig sei oder ob daraus Rüstungswettläufe resultierten. Gegen die Ambitionen des Iran und Nordkoreas sind im Prinzip vier Optionen möglich: (1) Man sucht durch diplomatisches Verhandeln beide zur Aufgabe ihrer Programme zu veranlassen; (2) man zerstört die entsprechenden Objekte, bevor sie zu einer Gefahr werden können; (3) man investiert in Raketenabwehr oder (4) man lässt die Dinge laufen.
Die Aussichten für diplomatische Lösungen sind derzeit eher trübe. Die Option der Zerstörung nuklearer Einrichtungen wird von den USA zwar noch aufrechterhalten, ist aber kaum realisierbar, und die Europäer lehnen sie ohnehin ab. Die Option der Raketenabwehr dürfte die einzige sein, die noch bleibt. Verzichtet man darauf, werden regionale Mächte eigene Maßnahmen treffen. Im Falle Nordkoreas könnte das bedeuten, dass Japan ein eigenes nukleares Abschreckungspotenzial aufbaut, im Falle des Iran muss damit gerechnet werden, dass Israel früher oder später die iranischen Nuklearträume auf seine Art und Weise platzen lassen wird. Die Furcht vor einer nuklearen Auslöschung durch den Iran – die angesichts der geringen Größe Israels schon mit wenigen Nuklearschlägen machbar wäre – ist zu groß, als dass Israel eine derartige Entwicklung zulassen könnte.
Raketenabwehr hilft somit heute das Entstehen rüstungsdynamischer Prozesse zu vermeiden; sie ist die einzige Maßnahme gegen derartige Bedrohungen, die unprovozierend ist, weil sie selber niemanden bedroht. Ihr wesentlicher Effekt bestünde darin, Investitionen problematischer Regierungen in Massenvernichtungswaffen und Raketen wertlos zu machen und das Leben von Millionen Menschen zu schützen. Natürlich werden die Raketenabwehrmaßnahmen der USA nicht ohne Konsequenzen in Pjöngjang und Teheran bleiben. Diese werden vor die Wahl gestellt, entweder ihre Anstrengungen einzustellen oder aber ihr Bedrohungspotenzial zu vergrößern, bis sie eines Tages ökonomisch erschöpft sind. Aber was wäre daran so falsch? Weder die Bürger Europas noch der USA und Ostasiens wollen von erratischen Herrschern wie Achmadinedschad oder Kim Jong Il mit Kernwaffen bedroht werden – und wenn es gelingt, beide auf diese Art und Weise scheitern zu lassen, dann dürfte der Westen vermutlich den besten Weg eingeschlagen haben. Die Verteufelung solcher Raketenabwehrsysteme gegen Staaten wie den Iran oder Nordkorea ist daher abwegig und gefährlich. Sie führt nur dazu, dass wir erpresst werden können.
Der andere Vorwurf gegen das von den USA geplante nationale Raketenabwehrsystem ist, dass es einen Rüstungswettlauf mit Russland auslösen werde. Raketenabwehr sei in Kombination mit den amerikanischen strategischen Angriffskräften eine tödliche Bedrohung für Russland. Das wäre nachvollziehbar, würden die USA in ein massives strategisches Abwehrsystem investieren, was sie aber nachweislich nicht tun. Der Alarmismus bezüglich eines neuen Rüstungswettlaufs ist damit völlig aus der Luft gegriffen.
Was Panikmache vor Rüstungswettläufen für nachteilige Konsequenzen haben kann, lehrt der Blick auf die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hitlers Eroberungsfeldzüge wurden nur deshalb zu einem Weltkrieg, weil die westlichen Mächte auf die Aufrüstungsvorhaben Hitlers viel zu lange mit Pazifismus reagierten. Winston Churchill hat später den Zweiten Weltkrieg als den „unnötigen Krieg“ bezeichnet – unnötig, weil er durch entschlossene Gegenrüstung hätte vermieden werden können. Als sich die Westmächte zu eigenen Rüstungsanstrengungen entschlossen, war es zu spät. Das Beispiel der dreißiger Jahre zeigt, dass eine Politik, die die Furcht vor einem Rüstungswettlauf geradezu panisch vor sich her trägt, die Fähigkeit beeinträchtigt, angemessen mit realen Sicherheitsproblemen umzugehen. Man macht sich zudem angreifbar für Manipulationen.
Natürlich ist die Situation heute anders als in den dreißiger Jahren, weil es keinen Hitler mehr gibt. Aber wir Deutschen könnten eines Tages aufwachen und feststellen, dass wir vom Iran in dessen verbissenem Hassfeldzug gegen Israel und die USA in nukleare Geiselhaft genommen werden. Die jüngsten Versuche Russlands, die Karte des Rüstungswettlaufs gerade in Deutschland mit Blick auf Polen auszuspielen, lassen noch eine andere Gefahr erkennen: Die Belebung der eingebildeten Angst vor einem Rüstungswettlauf kann Deutschland zum Steigbügelhalter regionaler Vorherrschaftsambitionen Russlands in Osteuropa werden lassen – und sie kann Anlass für Bemühungen Moskaus werden, einen weiteren Keil in das ohnehin schon angeschlagene atlantische Bündnis zu treiben.
Allein gegen den Rest der Welt
Ein neuer Rüstungswettlauf? Wir sind schon mittendrin!
Inmitten des Hin und Her um amerikanische Abwehrraketen und Radaranlagen in Polen und Tschechien waren besorgte Stimmen zu vernehmen, die vor dem Beginn eines neuen Rüstungswettlaufs warnen. Wacht auf, Leute! möchte man rufen: Er hat längst begonnen.
Die USA haben in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 erklärt, keinen Rivalen auf Augenhöhe kommen lassen zu wollen. Ihre Nuklearwaffen sind im Rahmen des „Prompt Global Strike“ Teil eines Kontinuums von Optionen, die offensives militärisches Handeln an jedem Punkt des Erdballs durch die jeweils geeigneten Mittel zulassen. Zu diesem Zweck werden auch Trident-U-Boote, die für das reduzierte nukleare Arsenal nicht mehr benötigt werden, auf die Fähigkeit zu zielgenauen konventionellen Schlägen mit interkontinentaler Reichweite umgerüstet. Die „Minuteman III“, die verbleibenden landgestützten Raketen, sind mit einem verbesserten Zielsystem und einem moderneren Sprengkopf ausgestattet worden. Mit der Aufkündigung des ABM-Vertrags hat die Bush-Regierung 2002 die „Handbremse“ des Rüstungswettlaufs gelöst. Man ist dabei, ein nationales Raketenabwehrsystem zu errichten, das (zunächst?) vor den relativ schwachen Offensivmöglichkeiten von „Schurkenstaaten“ schützen soll.
Russland und China haben auf diese Entwicklung reagiert. Russland hat den START II-Vertrag verlassen. Er galt als die größte Errungenschaft der nuklearen Rüstungskontrolle, verbot er doch mit den schweren landgestützten Interkontinentalraketen, die mehrere (bis zu zehn) Sprengköpfe trugen, das destabilisierendste System der wechselseitigen Abschreckung. Jetzt ist Russland dabei, sich mit einer neuen Generation solcher Raketen zu munitionieren. China rüstet in aller Ruhe, aber beharrlich auf. Auch aus dem „Reich der Mitte“ wird die Entwicklung von Mehrfachsprengkopf-Raketen gemeldet, überdies der schrittweise Aufbau einer hochseefähigen U-Boot-Flotte als Träger von Kernwaffen. Noch beunruhigender ist: Mit dem Test einer Antisatellitenwaffe vor einigen Wochen hat China die Schlussfolgerung aus seiner vieljährigen, vergeblichen Bemühung gezogen, ein Verbot von Waffen im Weltraum zustande zu bringen; dieser Versuch scheiterte (trotz russischer Unterstützung) an der amerikanischen Weigerung. Unter den Kernwaffenstaaten fühlt sich China am verwundbarsten – seine Abschreckungsmacht ist (noch) klein und relativ exponiert. Die Vorstellung, dass die USA über Raketenabwehr verfügen und den Weltraum militärisch beherrschen, ist für die Führung in Peking beängstigend. Der Test war das Signal, dass China gegenüber einer weltraumgestützten Raketenabwehr – sollten sich die USA dazu entschließen – über Gegenmittel verfügt.
Aber sind das nicht angestaubte Überlegungen? Schließen nicht die guten Beziehungen und die gemeinsamen Interessen unter den Großmächten einen kriegerischen Konflikt aus? Aus der Sicht Moskaus oder Pekings ist die Lage nicht so rosig. Sie verstehen die Nationale Sicherheitsstrategie der USA als erklärte Absicht, keinen Rivalen herankommen zu lassen. Russland hat sich noch nicht damit abgefunden, dass – aus russischer Sicht absprachewidrig – die USA die NATO bis zu den Grenzen der Föderation ausgedehnt hat. Jetzt betreiben die Amerikaner auch den Beitritt der Ukraine und Georgiens. Sie verfolgen, dass Washington im Kaukasus und in Zentralasien ein neues „großes Spiel“ betreibt, zu dem sowohl eine militärische Präsenz gehört als auch der Versuch, den Transport der dortigen Energieressourcen um Russland herumzuleiten. Nicht nur bei unverbesserlichen Stalinisten verfestigt sich der Eindruck einer Umzingelungsstrategie, die darauf abzielt, Russland den Großmachtstatus zu verweigern. In China betrachtet man die Dinge ähnlich: Die chinesische Marine ist durch die amerikanischen Stellungen in Japan und Südkorea und die Schutzmachtfunktion der USA in Taiwan und Südostasien de facto eingekesselt. Die USA stehen in Pakistan und Afghanistan sowie in Zentralasien an chinesischen Grenzen. Die neue Indien-Politik der USA zielt darauf ab, Indien als „Festlandsdegen“ Amerikas zum Ausbalancieren der chinesischen Macht einzusetzen.
In diesem Gesamtmosaik ist die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Ostmitteleuropa nur ein kleines Steinchen. In der Gesamtlage passt es jedoch in eine Entwicklung, die Russland (und eben auch China) beunruhigt, weil ihre Sicherheitsprobleme verschärft werden. Denn in den -beiden Hauptstädten kann man auch die Einlassungen amerikanischer Analytiker lesen, die in der asiatischen Großmacht den nächsten Hauptrivalen der USA sehen, nimmt man zur Kenntnis, dass Senator McCain – immerhin ein möglicher Präsidentschaftskandidat – letztes Jahr zum Boykott des G-8-Gipfels in St. Petersburg aufgerufen hatte, dass sich das Klima zwischen Washington und Moskau deutlich abgekühlt hat. Man beobachtet das Wachstum des amerikanischen Verteidigungshaushalts auf nahezu eine halbe Billion Dollar, stellt das zielstrebige Vorantreiben der „Revolution in militärischen Angelegenheiten“ fest, die die konventionelle Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte ständig erweitert, registriert, dass die USA ihre Nuklearstreitkräfte modernisieren, soweit dies ohne Testexplosionen möglich ist. Der symbolische Verzicht auf Ziellisten dient kaum mehr als vertrauensbildende Maßnahme. Denn das Konzept des „Prompt Global Strike“ ist darauf angelegt, im Krisenfall schnell beliebige Koordinaten in die Zielcomputer einzufüttern. Die im Moskauer Vertrag festgelegte Oberzahl von amerikanischen Sprengköpfen – 2500 – ist im Rahmen des Global Prompt Strike groß genug, um die entscheidenden militärischen Ziele in Russland abzudecken.
Russland und China rüsten, um diese vermeintliche Bedrohung zu reduzieren. Vom Wachstum des chinesischen Kernwaffenarsenals geht ein Impuls für das indische aus und wirkt von dort aus auf das pakistanische weiter. Im Windschatten des Rüstungswettlaufs zwischen den „drei Großen“ modernisieren auch Großbritannien und Frankreich ihre Nuklearstreitkräfte. Da die Atommächte ihrer Abrüstungsverpflichtung aus dem Nichtverbreitungsvertrag aus Sicht der meisten Nichtkernwaffenstaaten nicht nachkommen, zerfällt dessen Wirkung als normative Barriere gegen den atomaren Ehrgeiz Dritter. Dass dieser Ehrgeiz mit dem Verhalten der Kernwaffenstaaten nichts zu tun habe, sondern ausschließlich in regionalen oder nationalen Besonderheiten begründet sei, ist ein Ammenmärchen. Erstens gibt es keine Sicherheitsregion der Welt, die nicht wenigstens von einem der Kernwaffenstaaten beeinflusst wäre. Zweitens hat das Modell der Starken und Erfolgreichen immer auf das Verhalten der Ehrgeizigen eingewirkt. Die traurige Folgerung: Wir stehen nicht am Beginn eines neuen Rüstungswettlaufs. Wir sind mittendrin.
Prof. Dr. JOACHIM KRAUSE, geb. 1951, ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften und Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.
Prof. Dr. HARALD MÜLLER, geb. 1949, ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der HSFK und Professor für Internationale Beziehungen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M.
Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 84 - 88.