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01. Juni 2007

Putins Poker

Die derzeitige Beziehungskrise ist eher eine NATO-interne als eine west-östliche

Russlands Frustration über amerikanische Raketenabwehr- und Truppenstationierungspläne ist groß. Aber die derzeitige Krise ist bei genauerer Betrachtung eher eine NATO-interne als eine west-östliche:
Offenbar fühlen sich die neuen NATO-Mitglieder durch die Allianz nicht wirklich abgesichert. Deshalb streben sie Separatverträge mit den USA an.

Warum sollte Russland damit drohen – wie in Präsident Putins Rede zur Nation vom 26. April geschehen – einen Vertrag einzufrieren, der die Bestände großer konventioneller Rüstungsgüter in Europa kontrolliert, wenn doch die Beschränkung des Wettrüstens heute mehr im Interesse des Ostens als des Westens zu sein scheint? Während des Kalten Krieges war es die westliche Seite, die eine Obergrenze für die Bestände konventioneller Streitkräfte anstrebte, um die erhebliche Überlegenheit der Warschauer-Pakt-Staaten in diesem Bereich aufzuheben.

Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)1 wurde letztlich im November 1990 unterzeichnet und trat 1992 in Kraft. Schon damals allerdings war klar, dass sich das militärische Gleichgewicht zu Moskaus Ungunsten veränderte, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Es war nicht nur so, dass viele frühere Warschauer-Pakt-Verbündete Zentraleuropas der NATO beitraten, während nur wenige der neuen postsowjetischen Republiken gewillt waren, sich mit Moskau zusammenzutun. Die militärische Truppenstärke der Russischen Föderation selbst ist von etwa 2,7 Millionen Soldaten im Jahr 1992 auf kaum über eine Million heute gefallen. Russlands Verteidigungsetat schrumpfte bis 1998 auf weniger als die Hälfte des italienischen, und obwohl er derzeit stark ansteigt, bleibt er immer noch unter den Ausgaben (in Dollar) Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens. Selbst wenn man die Kaufkraftparität-Berechnung heranzieht, die Russland den Vorteil real niedrigerer Preise im eigenen Lande verschafft, betrugen die russischen Verteidigungsausgaben 2005 lediglich knapp über ein Achtel des amerikanischen Niveaus.

Man könnte vermuten, dass Russland Einschränkungen abschüttelt aus demselben Grund, der momentan zum Anstieg der Militärausgaben führt. Gleichwohl werden sich die zusätzlichen Gelder, die nun ausgegeben werden, erst in vielen Jahren in Form von mehr Panzern etc. bemerkbar machen. Zieht man andere Probleme in Betracht – veraltete Technologie, mangelnde Truppenqualität und -moral –, so liegt die Vermutung nahe, dass Russland, ganz so wie der Westen im Kalten Krieg, noch eine ganze Weile überproportional abhängig von der eigenen atomaren Stärke sowohl zur Abschreckung als auch in der aktiven Machtpolitik bleiben wird.

Es gibt mindestens drei andere Gründe für Moskau, den KSE-Vertrag als Symbol der gegenwärtigen strategischen Auseinandersetzung mit dem Westen zu wählen. An erster Stelle stehen die Frustrationen über den Vertrag an sich. Bereits 1996 mussten die regionalen Obergrenzen angepasst werden, da Russland sich beklagte, sie behinderten den zusätzlichen Truppenaufmarsch im südwestlichen Teil seines Territoriums, den es wegen des Tschetschenien-Krieges und weiterer neuer Konflikte brauchte. Aufgrund dieser Entwicklungen führten umfangreiche Verhandlungen zur Überholung des Vertrags und zum „angepassten“ KSE-Vertrag von 1999, der vor allem nationale statt regionaler Obergrenzen für Truppenverbände festlegte und somit den neuen Realitäten Rechnung trug. Die Erklärung des OSZE-Gipfels in Istanbul vom Dezember 1999 belegt jedoch auch Russlands Absicht, die in Georgien und Moldau stationierten Truppen abzuziehen. Die NATO-Staaten machten ihrerseits klar, dass das Prinzip lokaler Zustimmung zur Fremdtruppen-Stationierung für sie ein so zentraler Bestandteil des angepassten KSE-Vertrags sei, dass sie diesen nicht ratifizieren würden, bevor die russischen Maßnahmen abgeschlossen seien.

Da Russland seither zwar der Schließung seiner georgischen Stützpunkte, aber nicht dem Abzug aus der sezessionistischen moldawischen Teilrepublik Transnistrien zugestimmt hat, hat bisher kein NATO-Mitglied den angepassten Vertrag ratifiziert, auch wenn Russland, Weißrussland und Kasachstan dies getan haben. Russland deutet gerne darauf hin, dass die drei baltischen Staaten und Slowenien, die nach 1999 NATO-Mitglieder wurden, ohne vorher in den KSE-Prozess involviert zu sein, keine Anstalten gemacht haben, dem Vertrag beizutreten. Obwohl es nur schwer vorstellbar ist, dass Russland die Streitkräfte dieser Länder als Bedrohung ansieht, ist es rhetorisch natürlich geschickt, darzulegen, dass die einzig verbleibenden gemeinsamen Grenzen zwischen Russland und den westlichen Staaten nur auf einer Seite durch das KSE-Regelwerk erfasst werden (da das nichtverbündete Finnland dem KSE-System auch nicht angehört).

Dieser letzte Aspekt deutet auf ein ernsteres strategisches Anliegen, das der russischen Strategie zugrunde liegt. Als Deutschland als NATO-Mitglied wiedervereinigt wurde, haben die Alliierten sich unilateral dazu entschieden, die Aufstellung von Nuklearwaffen oder das NATO-System der Fremdtruppen-Stationierung (zu Friedenszeiten) nicht auf die neuen Bundesländer zu erweitern. Das gleiche Versprechen wurde auch für die Tschechische Republik, Ungarn und Polen gegeben, als diese Länder beitraten, ebenso wie 2004 für die verbleibenden „Big-Bang“-Beitrittsländer. Kombiniert mit dem KSE-System gab dies Russland eine gewisse Sicherheit, dass sich die militärische Landkarte Europas eher auf dem Papier als in der tagtäglichen Realität ändern würde. So würde weder die gesamte alliierte Truppenstärke steigen – und in der Tat haben die USA, Kanada und Großbritannien in den neunziger Jahren große Truppenkontingente vom Kontinent abgezogen – noch der kleinere Umfang der neuen alliierten Streitkräfte durch eine Verlagerung anderer NATO-Truppen gen Osten ausgeglichen. Seit dem 11. September jedoch wurden die Interessen, denen diese Abmachung ursprünglich diente – sowohl für den Osten als auch den Westen – von Veränderungen in der Bedrohungswahrnehmung und der Strategie des Westens überlagert.

Die amerikanische Stationierungspraxis verschiebt sich derzeit von dauerhaften Verpflichtungen zur lokalen Verteidigung (z.B. in Deutschland) in Richtung eines Netzes aus Stützpunkten und Durchgangseinrichtungen, das die wahrscheinlichsten zukünftigen Interventionsgebiete umgibt, nämlich den erweiterten Nahen Osten und Teile Ostasiens. Seit einiger Zeit hat Washington die Schaffung solcher Militärbasen auch in Polen, Rumänien und Bulgarien in Erwägung gezogen. Nun gibt es den Vorschlag, ein amerikanisches Raketenabwehrsystem in Polen und der Tschechischen Republik zu positionieren, um mögliche Nuklearschläge aus Iran oder Nordkorea abzufangen. Das ist der unmittelbare Anlass für Präsident Putins Wutausbrüche.

Tatsächlich handelt es sich eher um nationale amerikanische als um NATO-Pläne; es würden auch kein Personal und keine Ausrüstung benötigt, die gegen die KSE-Auflagen verstoßen würden; und der Umfang der Raketenabwehr, wie er von den USA vorgeschlagen wird, wäre für ein Nuklearwaffenarsenal von der Größe Russlands bedeutungslos. Putins Argument aber ist einfacher: Die USA haben sich entschieden, frühere NATO-Zusicherungen und Vertragsbeschränkungen zu ignorieren oder zu umgehen, indem sie plötzlich beschlossen haben, nun doch militärischen Anspruch auf Gebiete in der Nähe von Russlands Grenzen zu erheben. Warum also sollte Russland so naiv sein, sich seinerseits weiterhin an die eh fadenscheinige Substanz des KSE-Vertrags zu halten?

Natürlich ist Russland ganz und gar nicht naiv. Der dritte Grund dafür, dass Putin den KSE-Vertrag attackiert, ist seine Erkenntnis, dass in diesem heiklen Punkt die Einigkeit des Westens auf wackligen Füßen steht. Einige NATO-Mitglieder haben von Anfang an befürchtet, dass die Istanbuler Entscheidung, die allgemeinen Stabilisierungseffekte des KSE-Vertrags gegen Russlands bilaterale Beziehungen zu Tiflis und Chisinau einzutauschen, ein einseitiger Handel war und zudem eine Einflussnahme, die nicht funktionierte. Ohne militärische Stabilität und verlässliche Obergrenzen sieht die gewagte Entscheidung der NATO, das Territorium von bis zu sieben neuen Mitgliedern zu „ent-NATOisieren“, zunehmend wie ein noch größeres Glücksspiel aus, und sie schafft so Unsicherheit und Schwäche an einer Stelle, wo der Westen angesichts der russischen Aufrüstung Stärke demonstrieren müsste. Die Raketenabwehr-Episode spiegelt das potenzielle Sicherheitsdefizit an der Ostgrenze der NATO wider, da Warschau und Prag die Raketenstationierung auch deshalb zu wollen scheinen, um verlässliche Sicherheitsgarantien wenigstens von Seiten der USA zu ergattern.

Doch indem sie nach einem solchen Abkommen und sogar noch größeren Stützpunkten zur Zementierung des Vertrags streben, stellen diese neuen Alliierten nicht nur das wichtigste NATO-Grundprinzip der kollektiven Verteidigung infrage, sondern sie greifen auch auf weit zurückliegende Zeiten zurück, als vor allem Spanien und die Türkei separate Stützpunktvereinbarungen mit Wa-shington unterhielten. Die NATO würde riskieren, in den eigenen Reihen just in dem Moment auf wackligem Boden zu stehen, in dem sie ihre kollektive Reputation mit dem Festhalten an der großen und verzwickten ISAF-Operation aufs Spiel setzt.

Die gegenwärtige Krise ist möglicherweise eher eine NATO-interne als eine der NATO-Russland-Beziehungen. Es geht in erster Linie darum, wie die neuen Alliierten gesichert und versichert werden können, und allgemeiner um die Garantie, dass die neuen amerikanischen globalen Bedrohungsanalysen die Hauptaufgabe der Allianz – Stabilität und Kooperation in Europa – ergänzen und komplementieren, anstatt sie zu übergehen. Es mag sich als Bonus herausstellen, dass der derzeitige Konflikt zufällig die Frage aufgeworfen hat, ob der Westen in irgendeiner Weise weiterhin an Rüstungskontrolle glaubt und ob diese Methode auch weiterhin kostenwirksame Sicherheitsvorteile in Europa bietet. Für diese Autorin kann die Antwort nur sein: Ja, und wenn die anderen Fragen auch gelöst werden können, so hätte die NATO die richtigen Antworten parat – sowohl für Russland als auch für den Umgang mit Russland.

ALYSON J. K. BAILES, geb. 1949, war als Mitglied des britischen diplomatischen Dienstes u.a. in Ungarn, China, Deutschland, Finnland und Norwegen auf Posten. Seit 2002 ist sie Direktorin des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI).
 

  • 1Der KSE-Vertrag legt Begrenzungen für fünf Waffenkategorien fest: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, großkalibrige Artillerie, Kampfflugzeuge und Angriffshubschrauber. Das Geltungsgebiet erstreckt sich vom Atlantik bis zum Ural und umfasst 30 Vertragsstaaten: Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Island, Italien, Kanada, Kasachstan, Luxemburg, Moldawien, die Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Spanien, die Tschechische Republik, Türkei, die Ukraine, Ungarn, die USA, Großbritannien und Weißrussland. Der Vertrag beinhaltet weitreichende Verifikationsregelungen, u.a. Inspektionen und den Austausch von Informationen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 100 - 103.

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