Putins Paukenschläge
Wie Russland sich vom "strategischen Partner" zum Risikofaktor wandelt
Warum hat Präsident Putin in der Außen- und Sicherheitspolitik eine so harte Linie eingeschlagen? Verschiedene Theorien sind im Umlauf, die sich bemühen, diese Entwicklung zu erklären. Am plausibelsten ist die Interpretation, dass die für die russische Innenpolitik geltenden Ordnungsvorstellungen auf die russische Außen- und Sicherheitspolitik übertragen werden – wenn auch mit zweifelhaften Erfolgsaussichten.
Im zweiten Satz von Joseph Haydns Sinfonie Nr. 94 in G-Dur („mit dem Paukenschlag“) werden eventuell dösende Zuhörer mit einem plötzlichen, lauten Fortissimo-Akkord des gesamten Orchesters geweckt. Treffend daher der englische Beiname „Surprise Symphony“ für das Werk. In der internationalen Politik war am 10. Februar 2007 ein derartiger „Paukenschlag“ zu hören: die Rede von Präsident Wladimir Putin auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheits-politik.1 Seitdem spielt das Orchester des russischen außen- und sicherheits-politischen Establishments die Akkorde forte und fortissimo in verschiedenen Kompositionen und Variationen nach. Unabhängig von der Tonlage richten sich nahezu alle dem Paukenschlag nachfolgenden Sätze -kritisch an die USA und die eng mit ihnen verbundenen und verbündeten europäischen Staaten.
Kernpunkt der Kritik sind die US-Pläne zum Aufbau einer Radarstation in Tschechien und einer Raketenabwehrstellung in Polen. Der Kreml und russische Generäle haben argumentiert, dass sich die amerikanischen Stationierungspläne nicht gegen den Iran, Nordkorea oder andere mögliche Problemstaaten richteten, sondern gegen Russland. Sie haben die Pläne der USA mit der Aufstellung sowjetischer Raketen in Kuba im Jahre 1962 und der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen (Pershing-2 und Marschflugkörper) in Europa nach 1983 verglichen und gewarnt, dass ihre Verwirklichung unweigerlich zu einem neuen Wettrüsten führen würde.
Zu derartigen Akkorden martialischer Musik gehören verschiedene Maßnahmen in der militärischen Wirklichkeit: Die russischen Luftstreitkräfte haben die nach dem Kalten Krieg eingestellten Langstreckenflüge strategischer Bombenflugzeuge über atlantische und pazifische Seegebiete in Richtung USA wieder aufgenommen – ein Schritt, den Putin damit begründet hat, dass der unilaterale Stopp der Flüge nach dem Ende der Sowjetunion Russlands Sicherheit beeinträchtigt habe. Die Strategischen Raketentruppen haben erfolgreich eine neue Version der modernsten landgestützten Interkontinentalrakete, der RS-24 („Topol-M“), die Marine die seegestützte Variante („Bulawa“) getestet; beide Raketen können bis zu zehn nukleare Sprengköpfe tragen. Die Flotte soll in den nächsten 20 Jahren mit sechs neuen Flugzeugträgern ausgestattet werden. Wie in Sowjetzeiten soll wieder ein Geschwader der Marine im Mittelmeer stationiert werden und sich dabei auf eine Flottenbasis in Latakia in Syrien stützen. Im Sommer 2007 fanden die bisher größten Militärmanöver der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) auf russischem Territorium – in der Nähe von Tscheljabinsk im Ural-Gebirge – statt. In Anwesenheit von Putin und des chinesischen Staatschefs Hu Jintao nahmen daran fast 6000 Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, Raketen, Hubschrauber und Fallschirmspringer teil. Für den Zeitraum von 2007 bis 2015 hat das Verteidigungsministerium ein Programm für die Modernisierung der russischen Streitkräfte aufgelegt, das rund fünf Billionen Rubel (197 Milliarden Dollar) kosten soll.
Zu der von Putin und seinen Generälen aufgebauten Kulisse militärischer Maßnahmen und Drohungen gehört auch das „Moratorium“ – de facto der Ausstieg – aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) mit allen seitdem vorgenommenen Anpassungen. Und schließlich sind dazu auch die Drohungen Moskaus zu rechnen, das sowjetisch-amerikanische Abkommen zur vollständigen Abrüstung nuklearer Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) aufzukündigen.
Wenn auch die Kritik an den USA und den politisch besonders eng mit ihnen verbundenen europäischen Ländern im Vordergrund der Drohkulisse steht, richtet sich diese auch gegen internationale Organisationen. Dies gilt vor allem für die NATO, deren Osterweiterung Putin in München als „ernste Provokation“ bezeichnete. Auch die EU ist von einer verhärteten Haltung Russlands betroffen. Beispiele dafür sind die immer noch entgegen internationalem Recht erhobenen Transitgebühren für Flüge europäischer Fluggesellschaften über russisches -Territorium nach Asien und die trotz aller von der EU-Kommission unterbreiteten Kompromissvorschläge beharrliche Weigerung Moskaus, das Importverbot von polnischem Fleisch und anderen landwirtschaftlichen Produkten aufzuheben, mit dem Ergebnis, dass die Verhandlungen über eine Anpassung oder Neufassung des seit Dezember 2007 im Prinzip abgelaufenen Partnerschafts- und -Kooperationsabkommens immer noch nicht begonnen haben.2
Gegenüber der OSZE hat Moskau deutlich gemacht, dass sie wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aufgaben vernachlässigt habe und sich zu sehr mit Menschenrechtsfragen befasse; vor allem hat es das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte und die von ihm durchgeführten Wahlbeobachtungen immer wieder scharf angegriffen. Dieser Haltung entsprechen auch Bemühungen Moskaus, die Flut von Klagen russischer Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzudämmen; derzeit sind dies mehr als 20 000, die meisten davon wegen Menschenrechtsverletzungen durch russische Truppen in Tschetschenien.
Im postsowjetischen Raum betreibt Moskau eine hemdsärmlige Politik, in der nicht nur Öl- und Gaspreise sowie das dazugehörende Leitungsnetz als Knüppel eingesetzt werden, sondern auch andere wirtschaftliche Instrumente wie Importstopps und -beschränkungen. Wie die Beziehungen mit den autoritär bis autokratischen Regimen in Weißrussland und den zentralasiatischen Staaten deutlich machen, spielen die dortigen inneren Verhältnisse für Moskau keine oder nur eine unwesentliche Rolle für seine Politik. Bemessungsgrundlagen sind die Einstellung dieser Regime zu Russland, der Grad politischen Einflusses und Kontrollmöglichkeiten, die der Kreml noch hat, sowie wirtschaftliche Vorteile, die er erlangen kann. Ein weiteres Kennzeichen russischer Politik im postsowjetischen Raum ist die kompromisslose Haltung, die Moskau bei den so genannten „eingefrorenen Konflikten“ (Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Nagorno-Karabach) gegenüber den Kontrahenten einnimmt, die sich an NATO und EU orientieren.
Der Kreml hat auch bei wichtigen internationalen Streitfragen Positionen bezogen, die der Politik der USA und der mit ihnen eng verbundenen europäischen Staaten entgegenstehen. Der Atomstreit mit dem Iran liefert dafür ein wichtiges Beispiel. Es trifft zwar zu, dass Russland an einem nuklear bewaffneten Iran kein Interesse haben kann und im UN-Sicherheitsrat einigen Sanktionen zugestimmt hat. Diese haben jedoch eher symbolischen Charakter und konnten das Regime Achmadinedschads nicht dazu bewegen, die Urananreicherung aufzugeben. De facto trägt Moskau durch seine Zusammenarbeit mit Teheran dazu bei, Irans nukleare Programme voranzubringen. Es betreibt regen Handel mit der Islamischen Republik, redet mit Präsident Achmadinedschad einer (tendenziell gegen westliche Interessen gerichteten) „Gas-OPEC“ das Wort, liefert Waffen wie beispielsweise Tor-1-Raketen, die für den Schutz der Atomanlagen vor Luft- und Raketenangriffen geeignet sind, weigert sich, den Iran als einen Staat zu betrachten, der eine destabilisierende Politik im Nahen und Mittleren Osten betreibt und stilisiert ihn sporadisch als „strategischen Partner“. Diese Politik legt den Schluss nahe, dass auf Russland auch bei konkreten Beweisen für eine militärische Ausrichtung des iranischen Atomprogramms kein Verlass wäre. Die tatsächliche Verhinderung der iranischen Atomwaffe durch Zwangsmaßnahmen mit allen seinen möglichen katastrophalen Konsequenzen im Nahen und Mittleren Osten blieben den USA und Israel überlassen. Wie bei den Problemen Afghanistan, Pakistan, Irak und dem arabisch-israelischen Konflikt könnte sich Moskau aus der Schusslinie verbaler und terroristischer Angriffe islamistischer Staaten und nichtstaatlicher Kräfte heraushalten.3
Russlands Haltung in der Kosovo-Frage ist ebenso wenig hilfreich gewesen. Die vorbehaltslose Unterstützung des Kremls für Serbien bis hin zur Ablehnung der vom UN-Vermittler Martti Ahtisaari vorgelegten Vorschläge für ein unabhängiges Kosovo unter internationaler Kontrolle hat dazu beigetragen, die Ablehnungsfront in Belgrad zu stärken. Sollte es zu verschärften Spannungen und bewaffneten Konflikten auf dem Balkan kommen, würde wiederum den USA und den sie unterstützenden europäischen Staaten dafür die Verantwortung aufgebürdet. Interpretationen russischen Verhaltens
Die russische Haltung wirft wichtige Fragen auf, die systematisiert und folgenden Interpretationsmustern zugeordnet werden können:
Theaterdonner. Eine der möglichen Interpretationen lässt sich als Theaterdonner charakterisieren: Bei der Drohkulisse handele es sich tatsächlich um eine Kulisse, keine reale, ernst zu nehmende Wende in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Allerdings bleibt diese Sicht der Dinge die Erklärung dafür schuldig, wozu die verschärfte Rhetorik dienen und welchen Interessen damit gedient werden soll.
Innenpolitische Instrumentierung. Diese Interpretation geht davon aus, dass man sich zu viel Gedanken über grundsätzliche sicherheitspolitische Absichten Moskaus macht. Im Grunde genommen gehe es gar nicht um Außenpolitik, sondern um russische Innenpolitik. Im Gegensatz zu dem vom Kreml sorgsam gepflegten Image politischer Stabilität, eines reibungslosen Übergangs von Präsident Putin zu Präsident Dmitrij Medwedew (mit Putin als putativem Regierungschef) und überwältigender Zustimmung zur Person, Partei (Einheitliches Russland) und Politik Putins könnte die Kreml-Administration doch der Ansicht sein, das entstandene System Putin brauche zumindest für die Umbruchphase bis zu und kurz nach den Präsidentschaftswahlen im März 2008 eine breitere Legitimationsbasis und noch vorbehaltlosere Zustimmung der Bevölkerung. Der Herstellung derartiger Bedingungen könnte das Anheizen ohnehin vorhandener antiwestlicher und insbesondere gegen die USA und die NATO gerichteter Stimmungen dienen.
Linkage. Diese Erklärungsvariante geht von der in jedem politischen System bestehenden engen Verbindung zwischen Innen- und Außenpolitik aus. Konkret auf die Frage angewandt, was der derzeitigen Verschärfung der russischen Rhetorik und Politik zugrunde liegt, könnte die Verbindung darin bestehen, dass die Abkehr Putins von Demokratie und Marktwirtschaft mit fairem Wettbewerb, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft und die Rückkehr zu autoritären und zentralistischen Steuerungsmechanismen in der russischen Innenpolitik auf die russische Außenpolitik mit negativen Konsequenzen für das Verhältnis zum Westen übertragen worden sind.
Modernisierung der nuklearstrategischen Streitkräfte. Als Basis für ihren Großmachtanspruch und um mit Washington auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können, hat die Moskauer Machtelite seit der Chruschtschow-Ära neben ihrem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat auf annähernde Ebenbürtigkeit mit den USA bei den nuklearstrategischen Waffen gesetzt. Nach Auflösung der Sowjetunion hat Russland militärisch fast ausschließlich von dem Kapital gezehrt, das es von ihr geerbt hat. Dieses ist aber in jeder Hinsicht veraltet, und auch unter Putin haben weder eine Militärreform im westlichen Sinne noch eine umfassende Modernisierung der Streitkräfte stattgefunden.4 Die fortschreitende Überalterung der nuklearstrategischen Systeme und der Verlust von Frühwarnsystemen auf postsowjetischem Territorium außerhalb der russischen Grenzen haben in den USA zu Wahrnehmungen geführt, dass von Ebenbürtigkeit der beiden Mächte auf strategischer Ebene keine Rede mehr sein könne. Mit der Modernisierung des amerikanischen Potenzials und dem Verfall des russischen „ist [jedoch] die Ära der gegenseitig gesicherten Verwundbarkeit zu Ende gegangen und hat die Ära der [nuklearstrategischen] Überlegenheit der USA begonnen“.5
Daraus könnte gefolgert werden, dass es Ziel der von Putin und den Generälen aufgebauten Drohkulisse sei, nicht länger den Schein nuklearer Ebenbürtigkeit mit den Vereinigten Staaten zu wahren, sondern die verloren gegangene nukleare Parität als Realität wieder herzustellen. Für diese Auslegung russischer Absichten spräche, dass die Erholung der Wirtschaft und die enormen Einnahmen aus Energieexporten jetzt umfangreiche Investitionen in den Rüstungssektor und die Modernisierung der Streitkräfte möglich machen.
Neuregelung europäischer Sicherheit. Dieser Erklärungsansatz geht davon aus, dass es sich bei den Warnungen und Drohungen, dem angedrohten oder bereits erfolgten Ausstieg aus Rüstungskontrollvereinbarungen und der Kritik an NATO, EU und OSZE nicht nur um Kulisse handelt, sondern um tatsächliche Veränderungen der russischen Politik, die auf Veränderungen der europäischen Sicherheitsarchitektur abzielen. Für diese Interpretation spricht, dass Putin in München nicht nur die mögliche Stationierung von Komponenten des US-Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien, sondern auch die NATO-Osterweiterung und amerikanische Militärpräsenz in Ostmitteleuropa scharf kritisiert hat. Der russische Präsident und seine Generäle haben ebenfalls den Aufbau einer US-Militärpräsenz in Rumänien und Bulgarien kritisiert. Und schließlich geht es bei dem von Putin verfügten Ausstieg aus dem KSE-Vertrag nicht nur darum, dass die NATO-Staaten diesen Vertrag ratifizieren und die baltischen Staaten ihm beitreten, sondern um die Revision der 1999 in Istanbul vereinbarten Vertragsanpassungen zugunsten Russlands.
Nutzung einer Position der Stärke. Zu diesem Erklärungsansatz passt die These, dass der Kreml auf einer Woge gestärkten Machtbewusstseins reitet und sich als einer der wichtigen Pole in einer multipolaren Welt versteht und infolgedessen versucht, sich weltweit Geltung zu verschaffen. Zumindest sind Anschauungen in der Moskauer Machtelite weit verbreitet, dass die Sowjetunion unter Gorbatschow und die Russische Föderation unter Jelzin – also in einer Zeit der heute so im Kreml wahrgenommenen Schwäche – sich auf Verträge und Vereinbarungen zum Schaden der russischen Sicherheit eingelassen haben, und dass es jetzt, in einer Periode der Stärke, an der Zeit sei, diese zu revidieren. Der Status quo könne, so die Auffassung im Kreml, mittels Nutzung westlicher, vor allem europäischer Wahrnehmungen der „Abhängigkeit“ von russischem Öl und Gas und gewachsenen Einflusses Moskaus nachhaltig zugunsten des Landes verändert werden – in dem Sinne: Kein wichtiges Problem der internationalen Politik kann ohne Russland gelöst werden. Diese Motivation der Moskauer Machtelite könnte durch die Ansicht Auftrieb erhalten haben, dass das von Putin nach 9/11 durchgesetzte Einschwenken auf eine gemeinsame Linie von Washington nicht honoriert worden und ein schärferer Kurs ihm gegenüber angebracht sei. Künftig, so möglicherweise die Grundstimmung in Moskau, müsse Washington für russische Konzessionen einen Preis entrichten. Nutzung eines „windows of opportunity“. Dieser Erklärungsansatz besteht darin, dass westliche Anschauungen über das „Großmacht-“ oder sogar „Weltmacht“-Bewusstsein der Kreml-Administration und der Regierung übertrieben sind. Die politische und militärische Führung seien sich durchaus bewusst, dass es um Stabilität und Stärke Russlands nicht so gut bestellt sei, dass sein wirtschaftlicher Aufschwung und Einfluss in der Weltpolitik sich im Wesentlichen auf den unsicheren Faktor Öl- und (damit) Gaspreis gründe. Sie wüssten, dass trotz aller der Energiemacht abzugewinnenden außenpolitischen Einflussmöglichkeiten Russlands ökonomische Basis für erfolgreiche Weltpolitik zu dünn sei. Ihnen sei auch bekannt, dass das Bruttoinlandsprodukt Russlands nach Wechselkursen berechnet auf der Weltrangliste an 15. Stelle hinter Spanien, Mexiko, Indien, Korea, Brasilien und den Niederlanden liegt und kaufkraftbereinigt an zehnter Stelle hinter Frankreich, Italien und wiederum Brasilien liegt und sein Anteil an den Weltimporten lediglich 2,4 Prozent und 1,2 Prozent an den Weltexporten beträgt. Und nicht nur russische Ökonomen dürften Zweifel daran haben, ob die angestrebte Modernisierung und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft bei den katastrophalen demographischen Trends und dem Vordringen der staatlichen Bürokratie erfolgreich sein können.6 Infolgedessen könnte es sich bei der vom Kreml vorgebrachten Mischung aus Drohungen und Forderungen darum handeln, jetzt Chancen zu nutzen, ehe sich internationale Wahrnehmungen wieder in ihr Gegenteil verkehren und Russland statt als aufstrebende Weltmacht lediglich als regionale oder Mittelmacht auf der Weltrangliste betrachtet wird.
Nun stellt sich die Frage, welche dieser sich zum Teil ausschließenden, zum Teil sich ergänzenden Interpretationen die plausibelste Erklärung für die gegenwärtige russische Außen- und Sicherheitspolitik ist. Russische Motive und Motivationen
Beim Bemühen, auf diese Frage eine Antwort zu finden, sollte der Fehler vermieden werden, einen einzigen Bestimmungsfaktor identifizieren zu wollen. Auch die russische Außen- und Sicherheitspolitik ist zu vielschichtig, um sich für monokausale Erklärungen zu eignen. Zuerst sollte aber eine Interpretation ausgeschlossen werden: der Gedanke, dass sich der Kreml und die russischen Generäle tatsächlich von Systemelementen amerikanischer Raketenabwehr in Europa bedroht fühlen und der Auffassung sind, dass diese das strategische Kräfteverhältnis maßgeblich zu Ungunsten Russlands verändern könnten.
Dafür sind folgende Gründe maßgeblich:
- Die Flugbahnen russischer land- oder seegestützter Interkontinentalraketen würden bei einem Einsatz gegen die USA nicht über Europa, sondern über die Polkappe führen. In Ostmitteleuropa stationierte Abfangraketen könnten aus Zentralrussland oder dem Nordmeer abgefeuerte ballistische Flugkörper nicht erreichen.
- Die für eine Stationierung in Polen vorgesehenen Systeme sind keine Angriffswaffen, die für einen Erstschlag gegen russische Raketen verwendet werden können. Sie besitzen auch keinen nuklearen Sprengkopf, noch nicht einmal einen konventionellen, sondern sollen feindliche ballistische Flugkörper allein durch den Aufprall zerstören. Dies wird auch von russischen Generälen eingeräumt. So hat der Kommandeur der russischen Luftstreitkräfte, General Wladimir Michajlow, die potenziellen US-Systeme in Europa als für Russland „ungefährlich“ dargestellt, zumal diese „stationär“ seien und es sich „nicht um Angriffswaffen“ handele.7
- Russland verfügt über redundante Offensivfähigkeiten, die bei einem Einsatz von weniger als einem Dutzend Abfangraketen unwesentlich beeinträchtigt würden. Auch dies wird von russischen Generälen zugegeben. So hat der Kommandeur der Strategischen Raketentruppen, General Nikolaj Solowzow, erklärt: „Die Stationierung von Elementen des amerikanischen Raketenabwehrsystems [in Polen und Tschechien] wird sich nicht wesentlich auf unsere strategischen Komponenten auswirken.“
- Falls Moskau tatsächlich wegen amerikanischer Raketenabwehr besorgt wäre, müsste sich der Schwerpunkt der russischen Kritik nicht gegen den potenziellen Aufbau von Abwehrsystemen in Europa, sondern gegen den Ausbau der bereits in Fort Greely in Alaska und Vandenberg in Kalifornien stationierten Raketenabwehrsysteme richten.8
- Die von Putin und dem Militär angedrohten „Gegenmaßnahmen“ sind nur schwer oder überhaupt nicht als Antwort auf die amerikanischen Raketenabwehrpläne in Europa zu werten. Das trifft für den erfolgten Ausstieg aus dem KSE-Vertrag zu.9 Das ist für den angedrohten Ausstieg aus den INF-Verträgen richtig.10 Und dies gilt auch für die Modernisierung des russischen nuklearstrategischen Potenzials.11
Zu folgern ist, dass die russische Kampagne unter anderem dem doppelten Zweck dient, einen ohnehin begonnenen Rüstungsschub zu legitimieren und gleichzeitig die USA dazu zu überreden, das START-1-Abkommen (das Ende 2009 ausläuft) durch einen neuen Vertrag zu ersetzen, der die einsatzfähigen russischen und amerikanischen Bestände weit unter die im Vertrag über die Reduzierung strategischer Offensivwaffen (SORT) vom Mai 2002 vereinbarte Grenze von 2200 strategischen Atomsprengköpfen und auch deren Lagerbestände reduzieren würde. Übergeordnetes Ziel ist und bleibt dabei die Wiederherstellung zumindest des Scheines nuklearer Parität mit den USA in der Annahme, dass dadurch die beiden Mächte auf politischer Ebene „auf gleicher Augenhöhe“ miteinander verkehren.
Weiterhin ist zu schließen: Soweit Moskau tatsächlich Beeinträchtigungen russischer Sicherheitsinteressen im Zusammenhang mit der Stationierung von Systemelementen einer amerikanischen Raketenabwehr sieht, trifft dies für den Aufbau jeglicher militärischer Infrastruktur und militärischer Präsenz der USA und der NATO in den ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und Republiken der ehemaligen Sowjetunion zu – in einer breiten Zone, die sich von der Ostsee bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer (und nach Zentralasien) erstreckt.
Dies führt zu einem weiteren Bestimmungsfaktor: dem offensichtlich in Moskau ungebrochenen Denken in Einflusssphären, Kräftekorrelationen und Nullsummenspielen. So hat Putin festgestellt, es könne in den internationalen Beziehungen „kein Vakuum“ geben. „Würde sich Russland einer aktiven Politik in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) enthalten oder dort sogar eine unbegründete Pause einlegen, würde das unweigerlich zu nichts anderem führen, als dass dieser politische Raum von anderen, aktiveren Staaten energisch ausgefüllt würde.“12 Dabei sind keineswegs nur militärische und sicherheitspolitische, sondern auch wirtschaftliche Fragen gemeint. Schon zu Beginn der Putin-Ära wurde die EU mit den Worten gewarnt, Moskau lehne „,Sonderbeziehungen‘ der EU mit einzelnen Ländern der GUS zum Schaden russischer Interessen“ ab und werde „jeglichen Anstrengungen Widerstand entgegensetzen, die die wirtschaftliche Integration in der GUS beeinträchtigen“.13
Dieser Bestimmungsfaktor wiederum steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der russischen Innenpolitik (linkage). Die Verschärfung des Tones und der Inhalte russischer Politik gegenüber den USA und den „neuen“ Europäern kann als eine logische Konsequenz der inneren Entwicklung angesehen werden: als Übertragung der im System Putin geltenden Werte- und Ordnungsvorstellungen auf den postsowjetischen Raum. Besonders deutlich wurde dies nach den Farbevolutionen in Georgien und der Ukraine mit den nahezu panikartigen Reaktionen in Moskau, die offensichtlich von der objektiv unbegründeten Furcht des Kremls bestimmt war, oppositionelle Kräfte könnten das politische System auch in Russland in Gefahr bringen.
Die in der russischen Innenpolitik zur Herrschaftssicherung angewandten Mittel werden auf die Außenpolitik übertragen. So findet die Niederknüppelung von kleinen Häuflein von mit dem System Putin „nicht Einverstandenen“ ihre Entsprechung in Strafmaßnahmen, die von Handels- und Wirtschaftssanktionen, Stopp des Post- und Bankenverkehrs und Ausweisung von Staatsbürgern bis hin zu von der Staatsmacht tolerierten Botschaftsblockaden reichen.14
Derartige Handlungen zeugen nicht davon, dass das Moskauer Establishment auf einer Woge von neuem Machtgefühl reitet und mit dem Bewusstsein agiert, eine – wie China und Indien – aufstrebende, dynamische Großmacht zu sein, die den Status quo in Europa und weltweit mit Drohungen und Forderungen verändern könnte. Es sieht eher so aus, als bemühte sich der Kreml, Veränderungen des Status quo zu seinen Ungunsten zu verhindern – wenn auch mit Mitteln, die nicht dazu geeignet sind.
Prof. Dr. HANNES ADOMEIT, geb. 1942, ist Professor für Osteuropastudien am College of Europe, Natolin (Warschau) Campus. Davor war er langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter der SWP, Professor für Internationale Politik an der Fletcher School of Law and Diplomacy in Boston und Fellow am Harvard Russian Research Center.
- 1 Die wichtigsten Auszüge der Rede sind abgedruckt in IP, März 2007, S. 140 f.
- 2Solange keiner der Vertragspartner das Abkommen kündigt, bleibt es weiterhin gültig.
- 3Ausführlich hierzu Hannes Adomeit: Russlands Iran-Politik unter Putin, Politische und wirtschaftliche Interessen und der Atomstreit, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Studie S 8, April 2007.
- 4Vgl. Hannes Adomeit: Putins Militärpolitik, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Studie, S-16, April 2003, Aleksandr Gol’c: Armija Rossii: odinazat’ poterjannych let (Die russische Armee: Elf verlorene Jahre), Moskau 2004.
- 5Keir A. Lieber und Daryl G. Press: The Rise of U.S. Nuclear Primacy, Foreign Affairs, März/April 2006, S. 42–54.
- 6Vgl. Hannes Adomeit: Rückkehr auf die Weltbühne. Moskaus Ambitionen sind größer als sein politisches Gewicht, Internationale Politik, Juli 2006, S. 6–13; Rajan Menon und Alexander Motyl: The Myth of Russian Resurgence, The American Interest, März/April 2007, S. 96–101, Michael McFaul und Kathryn Stoner-Weiss: The Myth of the Authoritarian Model: How Putin’s Crackdown Holds Russia Back, Foreign Affairs, Januar-Februar 2008, S. 68–84.
- 7Rossija ne nushno bojat’sja ob’’ektov amerikanskoj PRO v Evrope [Russland muss sich nicht vor der amerikanischen Raketenabwehr in Europa fürchten], Echo Moskvy, 19.4.2007; desgl. Vzor „Russkich AVAKSov“ (Blick der „russischen AWACS“), Voenno-promyschlennyj kur’er, 25.4.2007.
- 8Interfax (Moskau, russ.), 16.3.2007.
- 9Der russische Generalstabschef, General Jurij Balujewskij, hat bestritten, dass die von Putin Ende April angekündigte Aussetzung des KSE-Vertrags im Zusammenhang mit den US-Raketenabwehrplänen stehe. Die beiden Vorgänge stünden in keinem Verhältnis zueinander; Interfax (russ.), 8.5.2007. Der russische Präsident hat dagegen in seiner Rede zur Lage der Nation am 26.4.2007 die Aussetzung des Vertrags auch mit den Raketenabwehrplänen der USA gerechtfertigt.
- 10Die Produktion und Stationierung von Mittelstreckenraketen würden lediglich Vorstellungen verwirklichen, die schon seit Jahren im russischen Verteidigungsministerium und mit den USA im Zusammenhang mit Bedrohungen aus dem Süden diskutiert worden sind.
- 11Einzelheiten zur nuklearstrategischen Modernisierung bei Hannes Adomeit und Alexander Bitter: Russland und die Raketenabwehr, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Aktuell, Nr. 23, April 2007.
- 12In seiner Rede auf der Konferenz der russischen Botschafter am 12.7.2004, www.kremlin.ru/texht/appears/2004/07/74399.shtml.
- 13Laut „mittelfristiger Strategie“ Russlands gegenüber der EU. Putin übergab die Antwort der EU-Troika im Oktober 1999 in Helsinki in seiner Eigenschaft als russischer Regierungschef. Russischer Text: Strategija razwitija otnoschenij Rossijskoj Federacii s Ewropejskim Sojusom na srednesrotschnuju perspektivu, Diplomatitscheskij vestnik, November 1999. Mit „mittelfristig“ ist der Zeitraum bis 2010 gemeint.
- 14Gemeint sind verschiedene gegenüber Georgien nach der Verhaftung von russischen Offizieren des militärischen Geheimdiensts im August 2006 und gegenüber Estland im April 2007 nach der Verlegung eines sowjetischen Kriegerdenkmals getroffene Maßnahmen.
Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 53 - 62