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01. Juli 2006

Rückkehr auf die Weltbühne

Moskaus Ambitionen sind größer als sein politisches Gewicht

Auf internationalem Parkett tritt Russlands Präsident, beflügelt durch
hohe Energiepreise, wieder mit großem Selbstbewusstsein auf. Aber die
russischen Supermacht-Allüren stehen auf tönernen Füßen: Seine
bisweilen ruppige Interessenpolitik schmälert den Einfluss des Landes
als globaler Akteur – Russland, so die Diagnose, mangelt es an Soft Power.

Zu Beginn seiner Amtszeit Anfang 2000 hatte Präsident Wladimir Putin sich das Ziel gesetzt, Macht und Größe Russlands wieder aufleben zu lassen und verloren gegangenen Einfluss im postsowjetischen Raum wieder zu gewinnen. Jetzt vermitteln er und das Moskauer außen- und sicherheitspolitische Establishment den Eindruck, als seien sie diesem Ziel nahe gekommen: Russland hat derzeit den Vorsitz in der Gruppe der Acht (G-8), der führenden Industrienationen der Welt, und im Europarat. Dies bedeutet neues Prestige, zusätzlich zu seinem Sitz mit Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es hat Erdöl- und Erdgaslieferungen und die dazu gehörenden Rohrleitungen zu einem wichtigen Instrument seiner Außen- und Sicherheitspolitik gemacht. Es wird weithin als Energie-Großmacht behandelt und tritt selbst als Garant internationaler Energiesicherheit auf.

Putins Ziel, den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum wieder herzustellen, scheint ebenfalls erfolgreich zu sein. Die Gefahr einer Ausbreitung der Orangenen Revolution der Ukraine auf andere Regionen dieses Raumes ist nach den Wahlen im März 2006 und den offensichtlichen innenpolitischen Problemen Georgiens geringer geworden. Die Konflikte in Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Nagorny-Karabach bleiben zugunsten Moskaus eingefroren; Veränderungen können nur mit dessen Zustimmung stattfinden. Aufgeschreckt durch die „bunten“ Revolutionen in Europa und die Unruhen in Kirgisien sowie Usbekistan lehnen sich die zentralasiatischen Regime in ihrem Kampf gegen den „Terrorismus“ wieder stärker an ein Russland an, das ihnen keine Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen macht.

Die neue Weltgeltung leitet der Kreml auch aus den verschiedenen strategischen Partnerschaften ab, welche er mit den wichtigsten internationalen Akteuren entwickelt hat – mit den USA, der EU, China und Indien. Putins Jahresbotschaft 2006 macht deutlich, dass Russland an dem Ziel festhält, bei den nuklearstrategischen Waffen mit den USA auf gleicher Augenhöhe zu liegen. Mit der NATO arbeitet es als scheinbar gleichberechtigtes Mitglied im NATO-Russland-Rat zusammen. Mit der EU hat es gemeinsame Räume und Wegekarten erarbeitet und will über eine Neufassung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA) – einen ganz neuen Vertrag oder ein Assoziierungsabkommen – eine neue Qualität in den Beziehungen herstellen. Als Mitglied der Balkan-Kontaktgruppe, das immer noch einigen Einfluss in Belgrad hat, kann Moskau vom Bemühen, strittige Fragen auf dem Balkan zu lösen, nicht ausgeschlossen werden; das betrifft derzeit vor allem die Festlegung eines neuen Statuts und Status für das Kosovo.

Auch im Nahen und Mittleren Osten sind Russlands Anstrengungen unverkennbar, einen Teil des nach der Auflösung der Sowjetunion verloren gegangenen Einflusses wieder zu gewinnen. Es hat zusammen mit den UN, den USA und der EU (Nahost-Quartett) die Roadmap zur Friedenslösung ausgearbeitet und nach eigener Darstellung die Initiative ergriffen, die von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestufte Hamas in den Friedensprozess einzubinden. Mit Algerien sind Verträge über die Lieferung russischer Waffen in Höhe von 7,5 Milliarden Dollar vereinbart worden; der russische Gasgigant Gazprom und das algerische Gegenstück Sonatrach wollen bei der Ausbeutung von Öl- und Gasfeldern enger kooperieren. Im Atomstreit mit dem Iran wird Moskau als permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrats von Washington umworben, um Sanktionen gegen die Islamische Republik mit zu tragen, falls die Vermittlungsbemühungen scheitern. Ähnlich verhält es sich im Streit mit Nordkorea – Moskau nimmt teil an den internationalen Anstrengungen, Pjöngjang vom Aufbau einer Atommacht abzuhalten.

In Zentralasien ist Moskau mit Hilfe der dortigen autoritären Regime dabei, die militärische Präsenz der USA zu beseitigen und ihren politischen Einfluss einzudämmen. Als eines der Gegengewichte dient Moskau dabei die Organisation für den Vertrag kollektiver Sicherheit (OVKS), der Leben eingehaucht werden soll. Ein anderes ist die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). China, das Gründungsmitglied der SOZ ist, und Indien nehmen seit Jahren die ersten beiden Plätze unter den Importeuren moderner russischer Waffen ein, und im vergangenen Jahr fanden sowohl russisch-indische als auch zum ersten Mal russisch-chinesische Militärmanöver statt.

Machtprojektion, so Putin und andere Anhänger der realistischen Schule der internationalen Politik, könne nur auf einer soliden materiellen Basis und mittels geordneter innenpolitischer Verhältnisse erfolgen. Eine derartige Basis hat der russische Präsident nach eigener Bewertung nunmehr hergestellt. Er hat die Machtvertikale gestärkt, die Gewaltenteilung praktisch abgeschafft. Die Gouverneure werden trotz gewisser Beschönigungen wieder vom Präsidenten ernannt – mit der Konsequenz, dass die Regionen wieder auf Kreml-Linie liegen.

Auch in Tschetschenien sieht es so aus, als habe Moskau das Heft wieder fest in der Hand. Die strategischen Sektoren der Wirtschaft – die Öl- und Gasindustrie und das mit ihr verbundene Pipeline-Netzwerk sowie der militärisch-industrielle Komplex und die zivile Flugzeugindustrie – sind staatlicher Kontrolle unterworfen, die privatwirtschaftlichen Oligarchen entmachtet und ihr Einfluss auf Gewährsmänner des Kremls übertragen worden. Diese Entwicklungen werden von Präsidialadministration und Regierung als heilsame Überwindung der unter Präsident Boris Jelzin herrschenden chaotischen Zustände dargestellt. Die neu geschaffene Stabilität sei auch international vorteilhaft, weil sie Russland für seine Partner berechenbarer mache.

Aber hat sich Moskau wirklich zu einem verlässlichen Partner für die Lösung internationaler Konflikte gewandelt – oder ist es selbst oft Teil des Problems? Nimmt es tatsächlich zusammen mit anderen Mächten internationale Verantwortung wahr – oder verfolgt es Sonderinteressen? Traditionell gab es in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik eklatante Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Sind diese nun beseitigt worden oder bleiben sie bestehen?

Russisch-amerikanische Beziehungen

Am deutlichsten offenbaren sich Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den russisch-amerikanischen Beziehungen. Der Begriff der strategischen Partnerschaft für die Charakterisierung dieser Beziehungen wird in Washington nicht mehr gebraucht. Das noch aus dem Kalten Krieg stammende Jackson-Vanik-Amendment, das diskriminierende Handelsbeschränkungen gegen die Sowjetunion verfügte, ist immer noch in Kraft und wird demonstrativ nicht zurückgenommen. Im Senat und im Repräsentantenhaus wird Russlands Mitgliedschaft in der G-8 mit der Begründung in Frage gestellt, dieses Land sei weder eine führende Industrienation noch eine Demokratie. Es habe zudem noch, wie der republikanische Senator John McCain auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2006 in einer Rede sagte, in der er auch zu einem Boykott des G-8-Gipfels in St. Petersburg im Juli aufrief, einen Weg eingeschlagen, „der nicht unser Weg ist“.

Dieses Argument findet sich in einer unter Federführung des einflussreichen amerikanischen Council on Foreign Relations verfassten und im März 2006 publizierten Studie mit dem Titel „Russia’s Wrong Direction“ wieder. Gestützt auf die Theorie des demokratischen Friedens wird die These entwickelt, in Russland vollziehe sich ein Prozess der Entdemokratisierung. Die innenpolitischen Strukturen des Landes seien autoritär geprägt, korrupt, ineffizient und intransparent, was seine Fähigkeit untergrabe, mit den USA gemeinsame Sicherheitsinteressen in der internationalen Politik wahrzunehmen. Besonders problematisch sei die Übertragung der innenpolitischen Ordnungsvorstellungen auf die Politik im postsowjetischen Raum, die im Versuch münde, dort demokratische Entwicklungen zu unterbinden.

Einen Höhepunkt erreichte derartige Kritik am 4. Mai 2006 in der Rede des amerikanischen Vizepräsidenten Richard Cheney auf der Gipfelkonferenz von Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem und Kaspischem Meer in Vilnius. In deutlicher Anspielung auf die Unterbrechung der Gaslieferungen an die Ukraine und Moldau klagte Cheney, es werde „keinem legitimen Interesse gedient, wenn Öl und Gas als Instrumente für Einschüchterung oder Erpressung eingesetzt werden, sei es durch Manipulation von Lieferungen oder mittels des Bemühens, Transportwege zu monopolisieren“. Mit Blick auf die Unterstützung separatistischer Kräfte in Georgien und Moldau (Transnistrien, Abchasien, Südossetien), aber auch auf Moskaus Containment-Politik gegen-über den „bunten“ Revolutionen, warnte er: „Niemand kann Handlungen rechtfertigen, welche die territoriale Integrität eines Nachbarstaats unterhöhlen oder demokratische Bewegungen einschränken.“

Die verschärfte Russland-Kritik aus dem Weißen Haus ist vermutlich auch innenpolitisch motiviert und hängt mit dem Bemühen der Republikanischen Partei zusammen, sich für die Wahlen im November zu profilieren. Allerdings gab es auch bestimmte Ereignisse im Winter 2005 und Frühjahr 2006, die das amerikanische Russland-Bild negativ beeinflusst haben. Dazu gehörte in der russischen Innenpolitik das Bemühen des Kremls, mit Hilfe verschärfter Gesetzgebung unliebsame Nichtregierungsorganisationen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken oder ganz zu verbieten; zweitens, wie erwähnt, der Stopp der Gaslieferungen an die Ukraine und Moldau, der in Washington als Druckmittel zur Durchsetzung politischer Ziele interpretiert wurde; drittens die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland, die in Russland – ganz im Gegensatz zur westlichen Kritik am Diktator Lukaschenko – als frei, fair und transparent angesehen wurden; und viertens der Atomstreit mit dem Iran und die russische Politik im Nahen und Mittleren Osten. Nicht zuletzt aufgrund der riesigen Probleme, denen sich die USA im Irak und zunehmend auch wieder in Afghanistan ausgesetzt sehen, stellen die russische Haltung und Politik im Atomstreit einen Testfall für die Zuverlässigkeit, Kooperationsbereitschaft und den Wert der russisch-amerikanischen Beziehungen dar.

In einiger Hinsicht könnte dieser Test positiv ausfallen: Moskau hat die Bemühungen der EU-3 (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) unterstützt, mittels eines Pakets von Anreizen den Iran zu einem endgültigen Verzicht auf die Urananreicherung zu bewegen. Nach der Zurückweisung des Pakets in Teheran hat Moskau dem Iran vorgeschlagen, ein paritätisch besetztes Gemeinschafts-unternehmen zur Urananreicherung auf russischem Boden zu gründen. Nach der Ablehnung auch dieses Vorschlags hat es in der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zugestimmt, das Problem an den UN-Sicherheitsrat zu verweisen und so die amerikanische Position zu unterstützen, maximalen Druck auf Teheran auszuüben.

Die russischen Positionen, die auf ein mit den USA abgestimmtes Vorgehen und glaubwürdige Drohungen mit ernsten Konsequenzen für den Iran hinweisen, werden allerdings durch gegenteilige Schritte konterkariert:

•  Die russische Regierung hat zwar zugestimmt, den Atomstreit im UN--Sicherheitsrat zu behandeln, lehnt aber Sanktionen gegen den Iran ab und will den Streit so schnell wie möglich wieder an die IAEA zurückverweisen. „Anstelle darüber nachzudenken, wie der Iran für seine Verweigerung eines Dialogs bestraft werden könnte“, so Außenminister Sergej Lawrow Mitte Mai 2006, „müsste man sich auf die Suche einer Lösung konzentrieren, die den Iran in den Dialog mit einbezieht.”1

•  Moskau weigert sich weiterhin, den Iran als einen Staat anzuerkennen, der eine destabilisierende Politik im Nahen Osten betreibt – auch nach der Wahl Ahmadinedschads zum Präsidenten des Irans, seinen engen persönlichen Beziehungen zur Führung Syriens, seiner Unterstützung für Hisbollah und Hamas sowie seinen Drohungen, Israel von der Landkarte zu wischen.

•  Ohne die nukleare Zusammenarbeit mit Russland wäre der Iran in Fragen des nuklearen Know-hows nie so weit gekommen, wie er jetzt ist. Russische Pläne gehen aber über die Fertigstellung des 1000-Megawatt-Atomkraftwerks in Buschehr hinaus und sehen den Bau weiterer AKWs vor – wobei unklar ist, ob das auch gilt, wenn es keine Lösung im Atomstreit gibt.

•  Es trifft zwar zu, dass die russischen Waffenlieferungen an den Iran quantitativ und qualitativ begrenzt sind. Die kürzlich vereinbarte Lieferung von Tor-1-Raketen, die für den Schutz der Atomanlagen vor Luft- und Raketenangriffen geeignet sind, könnte jedoch so interpretiert werden, dass die Mitwirkung Russlands an der internationalen Drohkulisse eher künstlich ist.

•  Der mit dem Nahost-Quartett nicht abgestimmte offizielle Empfang einer Hamas-Delegation im März 2006 in Moskau und die ebenfalls vorher mit diesem Gremium nicht abgesprochene finanzielle Soforthilfe an die palästinensische Autonomiebehörde rechtfertigen die Frage, ob Moskau zwar seine Iran- und Nahost-Politik als konstruktives Engagement hinstellt, aber Sonderinteressen verfolgt, die dem internationalen Interesse zuwider laufen.

•  Dafür spräche auch die Zielsetzung Moskaus, den Iran als einen „strategischen Partner“ zu gewinnen. Immer wieder wird dieser Begriff von der russischen Regierung ins Spiel gebracht. So meinte Außenminister Lawrow noch im Oktober 2004: „Russland kann immer auf den Iran als strategischen Partner in der Region rechnen.“2 Zweck dieser Zielsetzung wäre vor allem die Einschränkung amerikanischen Einflusses im Nahen und Mittleren Osten – und in Zentralasien.

Das Verhältnis zur Europäischen Union

Im Wesentlichen unterscheiden sich die Wahrnehmungen der russischen Innen- und Außenpolitik in den wichtigsten EU-Entscheidungsgremien und Regierungen europäischer Länder nicht von den amerikanischen Perzeptionen. Nach den Parlamentswahlen in Deutschland (und Italien) sowie der Schwächung des Ansehens des französischen Präsidenten und der unter anderem damit verbundenen Achse Moskau-Berlin-Paris sind die Unterschiede noch geringer geworden. Trotz dieser Veränderungen ist die in Europa öffentlich geäußerte Kritik eher verhalten. Die EU und europäische Regierungen halten weiterhin an der Charakterisierung der Beziehungen zu Russland als strategische Partnerschaft fest. Ausnahmen von der Kritikscheu bilden das Europäische Parlament sowie Regierungen und Parlamente der neuen ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder.

Zentrale Themen im EU-Russland-Verhältnis waren, erstens, Stellenwert und Implementierung der im Mai 2005 in Moskau verabschiedeten vier Gemeinsamen Räume – Wirtschaft; Freiheit, Sicherheit und Justiz; äußere Sicherheit; Forschung, Bildung und Kultur – und zweitens, was mit dem am 1. Dezember 2007 auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen geschehen soll. Die Gemeinsamen Räume sind gewissermaßen Äquivalent oder Ersatz für einen Aktionsplan der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Russland war ursprünglich ENP-Adressat. Typisch für die immer leicht verletzlichen Befindlichkeiten in Moskau sperrte es sich jedoch dagegen, in die Reihe der osteuropäischen ENP-Länder Ukraine, Weißrussland und Moldau und der südlichen Mittelmeer-Länder eingeordnet zu werden, mit denen Aktionspläne ausgearbeitet werden sollen oder schon vereinbart worden sind. Das umfangreiche Dokument enthält zwar eine Vielzahl konkreter Zielsetzungen und spezifischer möglicher Maßnahmen, für die der Begriff der Wegekarten gebraucht wird. Diese sind aber trotz ihres Namens kein geeignetes Orientierungsmittel: Sie sind begrifflich und inhaltlich praktisch mit den Gemeinsamen Räumen identisch. Es ist unbestimmt, auf welchen Ebenen die als Maßnahmen deklarierten Konsultationen geführt werden und worauf sie hinauslaufen sollen. Akteure werden nicht benannt, Zuständigkeiten außer Acht gelassen, keine Zeitpläne aufgestellt und keine Prioritäten für die Verwirklichung skizzierter Projekte festgelegt.

Im russischen EU-Diskurs werden die Gemeinsamen Räume infolgedessen nicht als möglicher Ersatz für das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen angesehen. Der Vorzug wird immer noch einem umfassenden Vertrag gegeben. Allerdings ist unklar, was ein derartiger Vertrag angesichts erheblicher Auffassungsunterschiede hinsichtlich europäischer Werte und der Differenzen im sicherheitspolitischen Bereich bezwecken könnte. Vermutlich wird das PKA über 2007 hinaus gültig bleiben. Es könnte durch sektorale Abkommen in verschiedenen Bereichen ergänzt werden. Dies könnte sowohl durch multilaterale Abkommen – wie zum Beispiel den Beitritt Russlands zur WTO, die Ratifikation der Energiecharta einschließlich eines Transitprotokolls und die Ausführung des Kyoto-Protokolls – als auch bilateral im Rahmen der Gemeinsamen Räume geschehen.

Trotz der inzwischen erreichten Dichte in den Beziehungen ist das EU-Russland-Verhältnis von Stagnation geprägt. Russische Fachleute für EU-Fragen sprechen sogar von einer Krise. Das liegt daran, dass es für die Neuordnung des Raumes zwischen Ostsee und Schwarzem und Kaspischem Meer in Brüssel und Moskau ganz unterschiedliche Ordnungsvorstellungen gibt und alle Bekenntnisse zur strategischen Partnerschaft die Tatsache nicht verschleiern können, dass es zwischen diesen beiden Akteuren eine strategische oder Integrationskonkurrenz gibt. Das ist ganz unabhängig davon, dass die EU weder einen geostrategischen Ansatz noch eine gemeinsame Russland- Politik oder Strategie hat.

Russlands Politik im postsowjetischen Raum

In Moskau werden Bestrebungen in diesem Raum, die zum Ziel haben, demokratische, marktwirtschaftliche, rechtsstaatliche und zivilgesellschaftliche Prozesse in die Wege zu leiten, als Herausforderung, ja sogar als Bedrohung aufgefasst. Das liegt unter anderem an der spezifischen Weltsicht des Kremls. Vorstellungen der realistischen Schule der internationalen Theorie entsprechend, spielen für ihn Kräftekorrelationen, Konkurrenz und Kollisionen von Interessen eine zentrale Rolle in der Weltpolitik. Zu diesem Weltbild gehört Putins Feststellung, in den internationalen Beziehungen könne es „kein Vakuum“ geben, denn „würde sich Russland einer aktiven Politik in der GUS enthalten oder dort sogar eine unbegründete Pause einlegen, würde das unweigerlich zu nichts anderem führen, als dass dieser politische Raum von anderen, aktiveren Staaten energisch ausgefüllt würde“.3

Die aktive Politik à la Putin im postsowjetischen Raum ist aber möglicherweise nicht Ausdruck von neuem Machtbewusstsein und neuer Stärke. Die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, gemeinsam mit den baltischen Staaten und Polen die stalinistische Hinterlassenschaft zu überwinden und ein entspanntes, kooperatives Verhältnis zu entwickeln, die Weigerung, zusammen mit der EU (und den USA) auf demokratische Veränderungen in Weißrussland hinzuwirken, die plumpe Einmischung in die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und das Schwingen der energiepolitischen Keule gegen dieses Land, Moldau und Georgien, das krampfhafte Festhalten an einem korrupten, repressiven, sich orthodox sowjetisch gerierenden, separatistischen Transnistrien, die Einfuhrverbote für moldauische Weine und Spirituosen, die Unterstützung der Separatisten in Abchasien und Südossetien, Einfuhrverbote auch für georgischen Wein und sogar Mineralwasser: All das weist nicht auf selbstbewusste Welt- und Weitsicht hin, sondern auf kleinkarierte, kurzsichtige Hegemonialpolitik, die von Schwäche zeugt, welche wiederum auf der rückläufigen Attraktivität des Systems Putin im europäischen Nachbarschaftsraum beruht.

Manche westlichen Interpretationen sehen allerdings die russische Politik in Zentralasien als erfolgreichen Teil der neuen Weltpolitik an. Im eurasischen Großraum sei ein neues energie- und sicherheitspolitisches Machtzentrum im Entstehen begriffen. Kern dieses Machtzentrums sei die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der neben Russland und China auch Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien und Tadschikistan angehören und in die die Mitglieder mit Beobachterstatus (Indien, der Iran, Pakistan und die Mongolei) noch stärker, möglicherweise als Vollmitglieder eingebunden werden sollen.

In der Tat ist nicht zu übersehen, dass Russland in Zentralasien gewisse Erfolge erzielt hat. Betrachtet man diese Region als Teil eines Nullsummenspiels (der Gewinn der einen Seite ist der Verlust der anderen), hat Moskau in der strategischen Konkurrenz mit Washington seine Position wieder verbessern können. So hat sich etwa SOZ-Mitglied Usbekistan der amerikanischen Militärpräsenz entledigt. Ob das nun tatsächlich wohl verstandenen russischen Interessen für eine Stabilisierung dieses Raumes dient, ist zweifelhaft – vor allem dann, wenn man Stabilität nicht auf einem Spektrum von gelenkter Demokratie und funktionierender Repression ansiedelt, sondern sie in demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung begründet sieht. Die Umstrukturierung dieses Raumes zu einer Mischung aus eurasischer NATO und Gas-OPEC wird unter anderem noch deswegen auf sich warten lassen, weil die politischen Rivalitäten der großen drei Regionalmächte Russland, China und Indien trotz Zusammenarbeit in- und außerhalb der SOZ beträchtlich sind. Vielleicht ist es auch richtiger, von Russland nicht als einer eurasischen Macht, sondern von einer europäischen Macht in Asien zu sprechen. Wenn dieses Land mit seinen offensicht-lichen Modernisierungsbemühungen in seinem europäischen Teil und mit seiner Politik in Europa scheitert, ist es wahrscheinlich, dass es in Asien noch weniger Aussicht auf Erfolg hat.

Fazit

Ist Russland nun also wieder Weltmacht? Woran aber soll man diesen Status messen? Das selbstbewusste Auftreten der offiziellen Repräsentanten des Landes liefert noch keinen Beweis; es könnte durchaus Überspielen von Un-sicherheit sein. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn es objektive Schwächen gibt. Diese sind unübersehbar. Nach dem Wechselkurs in Dollar umgerechnet, liegt das Bruttoinlandsprodukt des Landes auf der Weltrangliste der Volkswirtschaften an zehnter Stelle hinter dem Kanadas und Spaniens, nach der Kaufkraft an neunter Stelle hinter Italien. Die grundlegenden Strukturschwächen der russischen Wirtschaft sind keineswegs beseitigt. Von einer verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, vor allem der Hochtechnologie, kann nicht die Rede sein. Wachstum und vermeintliche politische Stabilität hängen weiterhin von hohen Öl-preisen ab. Ausländische Direktinvestitionen sind im internationalen Vergleich gering. Insgesamt sind die Gefahren der „holländischen Krankheit“ nicht gebannt, ist das Putinsche Ziel der raschen Modernisierung Russlands mit Hilfe weit reichender Reformen und westlichen Know-hows sowie umfangreicher Investitionen nicht erreicht worden. Auch eine Modernisierung der Streitkräfte, wie sie Putin in seiner Jahresbotschaft 2006 deutlich machte, hat nicht stattgefunden.

Zudem wird die künftige Machtbasis Russlands von negativen demographischen Entwicklungen beeinflusst – von der Überalterung der Bevölkerung, ihrem kontinuierlichen Rückgang um 900 000 Menschen pro Jahr und dem Absinken der durchschnittlichen Lebenserwartung für Männer auf 58 Jahre. Wirtschaftliche Effizienzsteigerungen sind kaum zu erwarten, wenn man die politische Entwicklung in Betracht zieht – die Einschränkungen der Medienfreiheit, die Gängelung von NGOs, die politische Instrumentalisierung der Gerichte und das Vordringen der Bürokratie auf allen Ebenen.

Die Verbindung von Demokratiedefiziten und mangelnder Modernität der Wirtschaft sowie die Übertragung von traditionellen – undemokratischen, oft sowjetisch anmutenden – Ordnungsvorstellungen auf die Außenpolitik haben Auswirkungen auf den Status, das Prestige und den Einfluss Russlands in der internationalen Politik. Es mangelt dem Land an Soft Power. Das politische System Putin ist über die autoritären Regime in Weißrussland und Zentralasien hinaus nicht attraktiv. Studenten aus dem Ausland strömen an die Universitäten der Weltmacht USA, nicht an jene Russlands, niemand imitiert einen Russian way of life, das Interesse an der russischen Sprache und Kultur ist gering, und es kauft auch niemand russische Computer oder Autos. Und schließlich: Wenn es zum Weltmachtstatus gehört, Ordnungsmacht zu sein, klaffen Anspruch und Wirklichkeit auch hier auseinander. Die hauptsächliche Ausrichtung der russischen Außen- und Sicherheitspolitik ist es noch nicht, internationaler Verantwortung nachzukommen, sondern russische Sonderinteressen wahrzunehmen.

HANNES ADOMEIT, geb. 1942, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der SWP in Berlin mit dem Forschungsschwerpunkt russische Außen- und Sicherheitspolitik. Davor war er Professor für Internationale Politik und Direktor des Forschungsprogramms für Russland und Ostmitteleuropa an der Fletcher School of Law and Diplomacy und Fellow am Russian Research Center der Harvard Universität.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 6‑13

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