Weltspiegel

27. Juni 2022

Putins Blutspur von Syrien in die Ukraine

Um Freiheit und Demokratie zu verhindern, nutzt das russische Regime all seine Machtoptionen: Militär, Propaganda, Entmenschlichung. Wann lernt der Westen?

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Bild: Zerstörtes Wohnhaus in Aleppo
Der systematische Angriff auf zivile Gebiete ist seit Langem Teil der russischen Kriegsführung: Zerstörte Wohngebäude im östlichen Aleppo, Juni 2019.
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Eine der tragischen Nebenwirkungen des Krieges in der Ukraine ist, dass endlich – und leider erst jetzt – der letzte Mensch im Westen verstanden hat, was wirklich in Syrien passiert ist, insbesondere nach der russischen Interven­tion 2015. Das hilft zwar den Syrerinnen und Syrern nicht, die seit mehr als einem Jahrzehnt unter schwerem Beschuss ihrer Viertel und medizinischen Einrichtungen leiden, die in belagerten Gebieten verhungern oder aus ihrer Heimat fliehen mussten. Aber die Art der Kriegsführung in Syrien und der Ukraine kann uns helfen, das Gesamtbild zu verstehen und Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.

 

Die russische Aggression gegen die Ukraine, ein Vernichtungskrieg, die Entmenschlichung des Feindes und systematische Kriegsverbrechen gegen Zivilisten stellen auch den Diskurs der „Normalisierung“ infrage, den der syrische Präsident Baschar al-Assad und seine russischen und iranischen Verbündeten versucht haben, auf die arabische und europäische Agenda zu setzen. Ihr Narrativ hatte an Boden gewonnen: Es sei ein Krieg gegen islamistische Terroristen und eine Verschwörung ausländischer Mächte. Kein Wort von einem zunächst friedlichen Aufstand im Jahr 2011 gegen die Diktatur und den Rufen nach Freiheit und Würde.

Vergleichen wir die russische Propaganda im Ukraine-Kontext: Russland kämpfe in Kiew gegen ein Nazi-Stellvertreterregime, das sich mit den USA gegen die Interessen Russlands verschworen habe. Auch der Kampf gegen islamistische Terroristen könnte in das russische Narrativ einfließen, sobald Söldner aus destabilisierten Ländern des Nahen Ostens oder Afghanistan in einen ukrainischen ­Guerillakrieg hineingezogen würden.

„Wir können in Syrien mit verschiedenen Szenarien leben, außer mit einer Demokratie nach westlichem Vorbild“, sagte mir einmal ein russischer Diplomat bei den UN in Genf. Und darum geht es in Wirklichkeit: die Ausbreitung des Liberalismus und der Demokratie nach westlichem Vorbild zu verhindern, den Bürgern Rechtsstaatlichkeit, Würde, Freiheit und gerecht verteilte Lebensbedingungen vorzuenthalten. Diese Inhalte, die Soft Power ausmachen, sieht Russlands Hard-­Power-Führung als Bedrohung. Daher war eine Erweiterung der NATO nicht der Grund für Putins Entscheidung, Krieg gegen die ­Ukraine zu führen. Denn die NATO beschloss bereits 2008, der Ukraine keinen Schutz zu gewähren.

Freiheits- und Demokratiebewegungen rückten immer näher an Putins mentale und politische Bastion heran. Weißrussische Frauen und Männer waren 2020/21 auf die Straße gegangen und hatten die Macht des Putin-Verbündeten Alexander Lukaschenko herausgefordert. Die Kampagnen von Alexej Nawalny und seinen Unterstützern drohten in Russland selbst ernsthafte Auswirkungen zu haben. Durch Wellen sozialer und politischer Unzufriedenheit in die Defensive gedrängt, hatte die russische Führung ihrem Volk wenig zu bieten – außer schrumpfenden sozialen und politischen Räumen in einem veralteten Wirtschaftssystem.

Syrien war das operative Vorspiel der Ukraine. Der Westen war nicht unschuldig, sondern eher ein opportunistischer Zuschauer in dieser sich entfaltenden Tragödie. Syrer gingen für universelle Werte auf die Straße, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, nicht für westliche Werte. Aber sie wandten sich hilfesuchend an den Westen, obwohl sie in einem antiwestlichen Schulsystem und einer baathistischen Ideologie aufgewachsen waren. Auch die Ukrainer haben sich mit hohen Erwartungen dem Westen zugewandt; sie werden gerade neu justiert.

Der Unterschied besteht darin, dass, als die Syrer 2011 auf die Straße gingen, noch keine Russen in Syrien waren und die Drohung eines dritten Weltkriegs weit hergeholt war. Als jedoch Fassbomben aus Assads Bombern fielen, baten Syrer verzweifelt um eine Flugverbotszone oder MANPADS, um sich zu verteidigen. Sie trafen auf westliche Diplomaten, die darüber sinnierten, dass sich die Konfrontation dadurch ausweiten könne oder diese Verteidigungswaffen in falsche Hände geraten könnten, also in die von Islamisten. Der wahre Grund war, dass sich nach der fehlgeleiteten angloamerikanischen Invasion im Irak 2003 und der kontroversen Intervention in Libyen 2011 niemand mehr in Syrien engagieren wollte. Beide Episoden haben Putins politisches Gedächtnis nachhaltig geprägt.



Zivilisten als Opfer

Im Jahr 2015 beschloss Russland, das von westlichen Akteuren hinterlassene Vakuum zu nutzen und sich auf drei Ebenen gleichzeitig in Syrien zu engagieren: militärisch, diplomatisch und politisch. Eines der gemeinsamen Merkmale der Kriege in Syrien und der Ukraine ist die russische Strategie zu verhandeln, als gäbe es keinen Krieg – und zu bombardieren, als gäbe es keine Verhandlungen.

Als die UN im politischen Prozess wenig aktiv blieben und die USA unter Präsident Donald Trump in dieser Frage abwesend waren, ergriff Russland die Gelegenheit und versuchte, seine Kontrolle über den politischen Prozess zu erhöhen, indem es gemeinsam mit der Türkei und dem Iran das Astana-Format gründete. Das Ziel: bilaterale Deals auszuhandeln, den Kuchen zu verteilen und andere an den Rand zu drängen – nämlich europäische Staaten oder gar UN-Vermittlungsbemühungen.

Die russischen Ansätze missachten systematisch internationale Normen, wie sie seit den Genfer Konventionen im Völkerrecht kodifiziert sind. Diese Miss­achtung birgt die Gefahr, dass ehemals konsensuale Normen ihre allgemeine Verbindlichkeit verlieren. Zivilisten werden heute nicht nur als „Kollateralschaden“ zu Opfern. Wir werden Zeugen absichtlicher Angriffe auf zivile Gebiete, auf Geschäfte, medizinische Einrichtungen, von systematischer Folter, Misshandlung und Tötung von Ärzten. Dazu gehört eine mittelalterliche Taktik, Orte auszuhungern, sodass auch heute noch Menschen sterben, nachdem sie all die Vögel, Katzen und das letzte Gras um sich herum gegessen haben. Dies geschah in Syrien und wiederholt sich nun in Teilen der Ukraine.

Eine weitere Parallele ist die Kompartimentierung des Konflikts. In der Ukraine wird dies angewendet, nachdem Russlands eigentliche Kriegsziele, unter anderem Regimewechsel, gescheitert sind. Kompartimentierung bedeutet, das Gebiet in kleinere Einheiten aufzuteilen, die nacheinander „bearbeitet“ werden können. Dies hat den Vorteil, dass die internationale Aufmerksamkeit schwindet, da lokale Kämpfe keine globalen Schlagzeilen mehr machen. Die Eroberung wird Zone für Zone erreicht, und die Unterwerfung wird als „Versöhnung“ angepriesen.

In Syrien testete Putin die roten Linien des Westens – und fand keine. Sogar nach mehreren Chemiewaffenangriffen des Assad-Regimes gab es keine ­Reaktion. US-Präsident Barack Obama scheute Vergeltungsmaßnahmen und strebte 2013 ­einen Kompromiss mit Russland an. Russlands cleverer diplomatischer Schachzug, Assads Haut in letzter Minute zu retten, bot westlichen Entscheidungsträgern, die vor einem Engagement zurückschreckten, einen willkommenen Ausweg. Putin vermerkte diese Erfahrung auf seiner langen Liste westlicher Schwächen.

In einem Déjà-vu drohten westliche Staatschefs nun, der Einsatz von Chemiewaffen in der Ukraine werde „dramatische Folgen“ haben. Glücklicherweise wurden sie noch nicht getestet.



Von Grosny und Aleppo nach Mariupol

Die Geschichte eines von externen Akteuren angeheizten sektiererischen Krieges in Syrien gewann umso mehr an Dynamik, als sich die Konfrontation zwischen dem Assad-Regime und der Bevölkerung militarisierte. Die „Verhandlungen“ endeten erst, als der Gegner die russischen Maximalforderungen akzeptiert hatte.

Vor der blutigen Rückeroberung Ost­aleppos Ende 2016 und der Errichtung der „Deeskalationszonen“ klärte mich eine russische Diplomatin in Genf über die Erfahrungen in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny auf, die russische ­Truppen 1999 dem Erdboden gleichgemacht hatten. „Wir können auch in Syrien Versöhnung leisten“, erklärte sie mir allen Ernstes. „In Grosny hat es auch funktioniert. Das war ein großer Erfolg, denn am Ende mussten sich die Menschen versöhnen.“ Mit dieser Logik begannen die Russen mit „Versöhnungen“ in Syrien und werden dies bald in Mariupol und ­anderen Gebieten der Ukraine tun.

Syrien entwickelte sich zu einem Übungsplatz für das russische Militär, bevor es in Osteuropa entfesselt wurde. Russland zerschoss seine alten Waffen, nutzte die Arena als Showroom für neue, trainierte seine Luftwaffe und ließ andere die Drecksarbeit am Boden erledigen. Es ist faszinierend zu sehen, was genau in der Ukraine nicht funktioniert hat: Russische Bodentruppen hatten keine Chance, in Syrien zu üben, und sind in der Ukraine kläglich gescheitert.



Ein inakzeptabler politischer Akteur

Im Syrien-Konflikt hat Russland die einmalige Chance vertan, sich als Friedensstifter zu etablieren. Dabei waren russische Diplomaten bestrebt, ein solches Narrativ aufzubauen: die Unterstützung politischer Gespräche bei den Vereinten Nationen 2016, die Etablierung des Astana-Formats 2017, die „Versöhnungskonferenz“ in Sotschi 2018, das Drängen gegenüber den UN, die syrischen Parteien zu einer Verfassungsdiskussion in Genf zu bewegen, der Druck auf den Westen, in Syrien Wiederaufbau und politische Normalisierung voranzutreiben. Das alles waren starke politische Bemühungen: um Russland nicht nur als Kriegspartei zu präsentieren – und um die Kosten des Engagements in Syrien mit politischen Mitteln zu senken. Russland hätte eine stabilisierende Rolle spielen können.

Diese Strategie hatte jedoch ein entscheidendes Manko: Russlands massive Verletzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. Indem Moskau sich mit Assads Regime verbündete und seine Methoden der Kriegsführung übernahm, machte es sich zu einem inakzeptablen politischen Akteur. Angesichts des Verhaltens des russischen Militärs in der Ukraine wird dies noch deutlicher.

Ein Grund für das Verhalten Russlands könnte auch die Kluft zwischen militärischen und diplomatischen Establishments und Traditionen sein. Die Rivalität zwischen dem Verteidigungs- und dem ­Außenministerium war während des gesamten Syrien-Konflikts offensichtlich und könnte sich während des Ukraine-Krieges noch deutlicher zeigen. Erste Anzeichen sind bereits erkennbar. Da Syrien und die Ukraine Kriegsgebiete sind, liegen sie im Aufgabenbereich des Militärs und seiner Logik und nicht in erster Linie in den Händen von Diplomaten. Putins Verhalten spiegelt die allgemeine Tendenz wider, dass Hard Power heute in der politischen Kultur des Kremls ver­ankert ist und Diplomaten wenig zu sagen haben.

Russlands Potenzial, nicht nur als Kriegspartei, sondern auch als international glaubwürdige Friedens- und Ordnungsmacht zu agieren, ist auf absehbare Zeit auf null geschrumpft. Dabei hat Putins neostalinistischer imperialistischer Ansatz, der humanitäre Interventionen und das Prinzip der Schutzverantwortung verhindert, die Frage des menschlichen Schutzes noch wichtiger werden lassen. Dieser menschliche Schutz ist nicht nur ethisch von Bedeutung. Schließlich hängen daran auch die Relevanz und die Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen, ihr friedensstiftendes Potenzial und die Glaubwürdigkeit ihrer universellen Werte sowie die Bewahrung einer regelbasierten Koexistenz von Staaten und Völkern in Freiheit und Würde.   

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 82-85

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Dr. Carsten Wieland ist Diplomat, UN- Berater, Dozent so- wie Nahost- und Konfliktexperte. Sein aktuelles Buch: „Syria and the Neu- trality Trap: Dilemmas of Delivering Humanitarian Aid to Violent Regimes“ (2021).

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